Kunst und Leben

Hans Höller und Arturo Larcati über einen noch unentdeckten Gedicht-Zyklus in Ingeborg Bachmanns Werken

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn AutorInnen ihre Veröffentlichung als „Sakrileg“ oder „anstößig“ bezeichnen, so klingt das leicht etwas marktschreierisch. Dabei ist das im Fall des Buches über Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag gar nicht nötig. Denn seine beiden Autoren Hans Höller und Arturo Larcati unternehmen es ausgesprochen erfolgreich, „die Notwendigkeit des Biografischen in literarischen Fragen zu erweisen und dessen Berechtigung in der analytischen Auseinandersetzung“ zu belegen. Hierzu dienen ihnen sieben Gedichte Ingeborg Bachmanns, die von dem Autorenduo zum „Winterreise-Zyklus“ zusammengefasst werden. So ganz unberechtigt ist die Selbstetikettierung allerdings auch wieder nicht. Denn im Zuge der legitimen Kritik an allzu kurzschlüssigen biographischen oder gar biographistischen Analysen literarischer Werke geriet im interpretatorischen Gewerbe die Bezugnahme auf lebensgeschichtliche Fakten der Kunstschaffenden überhaupt in Verruf. Höller und Larcati hingegen ist es darum zu tun, den postmodern beschworenen Tod des Autors zu widerrufen und die Beachtung von Autorschaft somit wieder in ihr Recht zu setzen.

Bevor die Autoren die eigentliche Aufgabe in Angriff nehmen, gilt es zunächst einmal zu begründen, dass sie tatsächlich einen „bis jetzt unentdeckt gebliebenen Gedichtzyklus von ihrer Winterreise nach Prag“ aufgespürt haben und ihre Rede vom „Winterreise-Zyklus“ somit berechtigt ist. Denn die sieben Gedichte des Zyklus waren selbstverständlich auch zuvor schon bekannt, drei sind bereits zu Bachmann Lebzeiten veröffentlicht worden (Enigma, Prag Jänner 64, Böhmen liegt am Meer), die vier weiteren postum (Wenzelplatz, Jüdischer Friedhof, Poliklinik Prag und Heimkehr über Prag). Doch dass sie sich zu einem Zyklus zusammenfügen, war bisher noch nicht bemerkt worden – und womöglich Bachmann selbst nicht bewusst gewesen.

Ihrer Analyse haben Höller und Larcati dankenswerter Weise zunächst die sieben Gedichte vorangestellt, und zwar „in der rekonstruierbaren Abfolge der Stationen“ jener einwöchigen Reise, die Ingeborg Bachmann im Januar 1964 auf Einladung Adolf Opels gemeinsam mit diesem unternahm. Anschließend zeichnen die beiden Autoren „die Überlieferung der Gedichte“ so minutiös wie möglich nach und rekonstruieren zugleich den Verlauf der Reise. Dabei wird deutlich, wie sehr sich die „Lektüre verändert, wenn man die Gedichte als Teil eines Zyklus liest und die chronologische Abfolge der Reise mitdenkt“, da auf diese Weise „die motivische Arbeit und die thematischen Linien besser sichtbar werden“. Mit dem Nachweis, wie das Wissen um biographische Ereignisse das Verständnis der Lektüre verändert und erweitert, haben die Autoren ihr Ankündigung, biographisch belehrte Textinterpretationen zu rehabilitieren, schon zu einem Gutteil erfüllt, zumal sie die Textgenese dabei stets sehr genau im Blick haben. Denn „jedes noch so unscheinbare Detail der Textkorrekturen eröffnet neue Ausblicke auf Bachmanns Leben und Werk“. Nicht sehr quellenkritisch gelesen werden hingegen Adam Opels Reiseerinnerungen, wie überhaupt jedes kritische Wort über den damals noch jungen Mann vermieden wird.

Doch nicht nur die Biographie trägt dazu bei, das Werk zu erhellen, sondern auch umgekehrt erscheint die Biographie vor dem Hintergrund der Werke und anderer Texte in klarerem Licht. So rekonstruieren Höller und Larcati Bachmanns Krankengeschichte in einem weiteren Kapitel nicht zuletzt anhand literarischer Texte und Fragmente der Autorin. Es ist also nicht nur das Autorinnenleben, dass ihr Werk erklären hilft, sondern auch umgekehrt „die Kunst selber […], die uns das Leben erklären hilft“. Darüber hinaus ziehen die Autoren bislang unveröffentlichtes Tagebuchmaterial heran und rekurrieren bei ihren Interpretationen der Werke auf Referenzmaterial aus dritter Hand – literarische Texte, musikalische Werke und solche der bildenden Kunst, bei der Interpretation von Bachmanns „schönstem utopischen Gedicht“ Böhmen liegt am Meer etwa auf Werke von Anselm Kiefer, Thomas Larcher oder Gertraude Stüger.

Höller und Lacarti behandeln Bachmanns Gedichte philologisch mit bewundernswerter, heutzutage nur noch selten vorzufindender Gründlichkeit und Akkuratesse. Ihre Analysen der Werke sind scharfsinnig, überinterpretiert erscheinen allerdings Bachmanns Verschreibungen im Typoskript der zweiten Fassung des Gedichts Böhmen liegt am Meer. Dennoch: Ein triftigeres Plädoyer gegen „Absonderung und Abgrenzung der Kunst vom Leben“ lässt sich kaum vorstellen.

Nicht nur ihr Vorhaben, dem lesenden Publikum „eine möglichst konkrete und zugleich das ästhetische Denken erweiternde Vorstellung“ davon zu geben, „was das Schreiben und die Literatur im Leben eines der Welt und ihren Zumutungen ausgesetzten Menschen […] bedeutet haben“, ist den Autoren vollumfänglich gelungen. Auch ihre Hoffnung, dabei zugleich ein „lesbares Buch“ vorgelegt zu haben, „das manchmal […] eine gewisse Intensität erreicht, von todtraurigen Dingen handelt und vom Ausweg aus der Misere des Lebens, den jemand im Schreiben gesucht hat“, haben sie sich selbst und den Lesenden aufs Trefflichste erfüllt. Manchmal ist der Band, der alle wissenschaftlichen Standards erfüllt, geradezu herzzerreißend, etwa in den Passagen über Bachmanns erlittenen Liebesverrat und ihren Suizidversuch.

Titelbild

Hans Höller / Arturo Larcati: Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag. Die Geschichte von „Böhmen liegt am Meer“.
Piper Verlag, München 2016.
173 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783492058094

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