Wenn der Klassiker ein Smartphone gehabt hätte

Zwei Bücher verpassen Franz Grillparzer ein Update

Von Karin S. WozonigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karin S. Wozonig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Menschen, die sich mit der Literatur des 19. Jahrhunderts befassen, stehen immer auch unter dem Druck, eine gewisse Relevanz für das 21. herzustellen zu müssen. Zu weit weg ist die Romantik, zu angestaubt das Biedermeier, zu langweilig der bürgerliche Realismus, als dass man sich einfach nur um ihrer selbst willen mit den Texten und den Autorinnen und Autoren dieser Epochen befassen dürfte. Ausnahmen bestätigen die Regel. Mit den beiden hier zu besprechenden Büchern liegen zwei sehr unterschiedliche Beispiele für den Versuch der nachdrücklichen Aktualisierung vor, die sich dem österreichischen Schriftsteller Franz Grillparzer (1791-1872) widmen.

Brigitte Prutti hat einen Essay von 93 Seiten Umfang verfasst, der einerseits streckenweise die stilistische Leichtigkeit der Gattung aufweist, andererseits aber auch den Ansprüchen an wissenschaftliche Genauigkeit gerecht wird und damit einen Beitrag zur Grillparzerforschung leistet. Zum Auftakt liefert die Verfasserin einen launigen Rettungsversuch des Neurotikers und seiner Vorzüge. Prutti verwendet den Begriff „Neurotiker“ dabei als „handliche Diskursformel für die problematische Befindlichkeit des modernen reflexionslastigen Subjekts“, dessen „begnadeter Psychogeograph“ Grillparzer durch seine vielfältigen Selbstdiagnosen sei. Das Textkorpus, das Prutti für ihren Essay heranzieht, besteht aus den Tagebüchern, der Selbstbiographie und den Selbstparodien in den Fixlmillner-Fragmenten.

Prutti widmet sich eingangs den editorischen Problemen im Zusammenhang mit den Tagebüchern und will vorab festgestellt wissen, dass es ihr um die Texte und nicht um ihren Verfasser als historische Person gehe, was bei der expliziten Beschäftigung mit autobiographischem Schreiben ziemlich paradox klingt und wohl nur als Abwehrzauber gegen den Vorwurf des kruden Biographismus gelten kann.

Was Grillparzer und uns Heutige verbinde, seien die Zerstreutheit und die Zerstreuung, die für Grillparzers Selbstbeobachtung symptomatisch sind und unter denen er praktisch ständig leidet. Bei den Menschen der Gegenwart sei der Mangel an Konzentration das Ergebnis der omnipräsenten digitalisierten Medien, meint Prutti, eine Bemerkung, der wohl alle Leserinnen und Leser zustimmen können. Grillparzer findet Worte für seine Qual der Zerstreuung, und die könnten wir nachempfinden. Für ihn ergibt sich aus seiner Zerstreutheit ein Leidensdruck, der zu seiner dichterischen Produktion gehört, ein „Selbstschmerz“, nicht Weltschmerz, der sein Schreiben motiviert und den er zum Thema macht. „In der Kunst des Klagens ist Grillparzer allerdings schwer zu übertreffen.“ Und auch die Klage über das Klagen, quasi die Metaklage, liegt ihm.

Aber Prutti stellt Grillparzer nicht als Jammerlappen dar, vielmehr verweist sie auf die literarische Funktion des Unglücks: Die Lust an der Klage stößt bei Grillparzer die therapeutische Produktion an, für ihn gibt es auch eine selige Zeit, eine Zeit der Euphorie, nämlich dann, wenn er produktiv ist, wenn er schreibt. Diese Phasen sind flüchtig, eine Mahnung zur Stetigkeit ist sinnlos, denn Poesie kann nicht diszipliniert werden wie ein beliebiges Tagesgeschäft. Was sich aus der Zusammenschau der Selbstbeobachtungen sagen lässt: Grillparzer scheitert mit Haltung. Um dem Mangel an Konzentration entgegenzuwirken, nimmt er sich vor, ein poetisches Tagebuch zu führen. Aber, so stellt sich heraus, um ein solches Tagebuch zu führen, dafür ist er zu zerstreut und unkonzentriert. Als „Kritzeln und Bosseln“ bezeichnet Grillparzer seinen Produktionsprozess.

Prutti beschäftigt sich auch mit dem Brotberuf Grillparzers und führt dabei aus, dass ihm sein Beamtendasein nicht nur freie Zeit zur Textproduktion geboten, sondern ihn auch vom Schreiben abgelenkt hat. Prutti baut hier die etwas undurchsichtige Kategorie „Stimmung“ ein, deren Zweck sich mir nicht erschließt. An dieser Stelle zeigt sich auch, dass der Essay nicht aus einem Guss ist, gelegentliche Wiederholungen und Brüche im Stil lassen vermuten, dass es sich bei mancher Ausführung um das Nebenprodukt eines größeren Projekts handelt (Pruttis Monographie Grillparzers Welttheater. Modernität und Tradition, Bielefeld 2012, besteht zum Teil aus überarbeiteten Fassungen früher erschienener Aufsätze). Die immer wieder geschlagenen Bögen in die Gegenwart, z.B. im Zusammenhang mit Grillparzers Beruf zu den Arbeitsbedingungen bei Amazon, sind zwar nicht völlig einleuchtend und vergleichen Äpfel mit Birnen; in einem Essay, der einen Dichter des 19. Jahrhunderts in seiner Gegenwartsrelevanz darzustellen versucht, sind sie trotzdem am Platz. Und vergleichen bedeutet ja auch, Unterschiede festzustellen, wie z.B. Zerrissenheit als Zeitkrankheit der einen und digitalmedial begründete Konzentrationsschwäche bis hin zum Erwachsenen-ADHS als Erscheinung der anderen Epoche. Auch historische Kurzschlüsse können bei der Diagnose der eigenen Zeit und Gesellschaft mitunter hilfreich sein.

Ausführlich widmet sich Prutti Franz Grillparzer auf Reisen und wie auch bei anderen Fragen, z.B. der des literarischen Ruhms, ist seine Haltung in den autobiographischen Schriften keineswegs eindeutig. Der Dichter reist, weil er krank ist, zweifelt aber von vornherein am Erfolg der Therapie. Am liebsten würde er zu Hause bleiben: „Den reisenden Grillparzer droht seine fundamentale Reiseskepsis in manchen Momenten völlig zu immobilisieren.“ Er erinnert darin an die mit ihm befreundete Dichterin Betty Paoli (1814-1894), die einen Reisebericht mit den Worten beginnt: „An einem schönen Junitag verließ ich Wien, wehmüthig den Genüssen entsagend, die man niergends anders als in seinen vier Pfählen zu finden hoffen darf“. So rafft sich auch Grillparzer nur schwer zu den Reisen auf, die er zur Genesung seines angeschlagenen Gesundheitszustands, seelisch und körperlich, unternehmen soll, und findet alles mühsam. Nachträglich, nämlich in der „Selbstbiographie“ von 1853, wird sogar die zu ihrer Zeit als bereichernd empfundene – so belegt in den Tagebüchern – Italienreise von 1819 „in die größere Unglücksgeschichte des Erzählers eingebunden“.

Prutti befleißigt sich immer wieder trendigen Vokabulars. Während die Bezeichnung „sensorischer Overload“ für die Vielfalt der Reiseeindrücke in ihrer ermüdend verwirrenden Wirkung wenn auch nicht nötig so doch ganz passend ist, bleibt offen, wie Grillparzer mit den „vier größeren europäischen Reisen, die er zeit seines Lebens unternommen hat“, die „rastlose Figur des globalisierten Nomaden“ antizipieren soll. Mit Sicherheit ist aber festzustellen, dass die Grundhaltung Grillparzers Ambivalenz ist. Er ist – in zeitgenössischer Diktion – ein Zerrissener, und man kann Prutti zustimmen, wenn sie meint, Grillparzer habe mit seiner Ahnfrau sogar „ein ambivalentes Gespenst auf die Bühne gebracht.“

Im Krisenjahr 1826, das von emotionaler Verwirrung gekennzeichnet ist (Grillparzer ist in zwei Frauen verliebt), was sich durch seine Deutschlandreise eher noch verschärft, mehren sich auch seine Klagen über die Zerstreuung und Zerstreutheit im Sinne von Konzentrationsschwäche und äußerer Ablenkung. An dieser Stelle im Essay Pruttis findet sich auch der erste Hinweis auf den grundlegenden Unterschied von Zerstreutheit als Selbstversunkenheit und der digital induzierten Unkonzentriertheit von heute. Prutti referiert Kant zum Thema produktive und unproduktive Zerstreuung, Lessing zur Selbstdisziplinierung und Bertrand Russels Glücksphilosophie, von wo aus sie den Bogen ins Jahr 1849 schlägt, in dem für Grillparzer aus den Liebeswirren von 1826 ein häusliches Teilglück wird: Er zieht als Untermieter bei den Schwestern Fröhlich ein und stellt einen Schrank vor die Verbindungstür.

Der letzte Teil des Buchs widmet sich der „Lokalisierung des Unglücks“ in der Selbstbiographie und konzentriert sich dabei auf die dunkle, trostlose Kindheit Grillparzers im lichtlosen Vaterhaus (Prutti spricht vom „gotischen“ Haus und meint „gothic“ im Sinne von finster und unheimlich). Die Lesewut des Kindes projektiert: Gegen die Quälgeister des Neurotikers hilft die Literatur doppelt, einerseits, indem das Festlesen Halt gibt, andererseits durch das Bannen der Dämonen in der eigenen Produktion. Die Schlussfolgerung Pruttis: Grillparzer ist und bleibt die geeignete österreichische Galionsfigur der (Grillparzer lesenden) Neurotiker.

Auch die Herausgeber Bernhard Fetz, Michael Hansel und Hannes Schweiger bemühen sich um eine Aktualisierung Franz Grillparzers. Während für Prutti die Relevanz des Dichters in seiner Wahrnehmung und Artikulation von Zerstreuung und Zerstreutheit liegt, nehmen mehrere Beiträge im Sammelband Franz Grillparzer. Ein Klassiker für die Gegenwart, ein Band aus der Reihe „Profile“ der Österreichischen Nationalbibliothek, eine explizit politische Perspektive ein. So stellt Daniela Strigl in ihrem Beitrag fest, dass ein Klassiker wie Grillparzer immer wieder neu gelesen werden muss, was von einer Bildungspolitik verhindert wird, die „den Stellenwert der Literatur in der Schule im Allgemeinen, jenen der klassischen Werke des 18. und 19. Jahrhunderts im Besonderen zu schmälern trachtet“. Dabei gäbe es genug in Grillparzers Œuvre, das sich als Schullektüre anbietet, z.B. die „aufregend aufrichtige“ Selbstbiographie oder Der arme Spielmann, aus dem sich zweifellos „politischer Diskussionsstoff“ gewinnen lässt.

Vor allem die Dramen sind geeignet, Parallelen zu ziehen und Überlegungen zur gegenwärtigen Situation anzustellen. Hans Höller wählt als Einstieg und Titel für seinen Beitrag ein Briefzitat Rosa Luxemburgs, geschrieben in der Festungshaft 1917, in der sie ihre Liebe zu Grillparzer bekennt. Höller stellt die Frage: „Ließen sich die Grillparzer-Dramen nicht auch heute neu entdecken, wenn man die Grundfrage von Krieg und Frieden in seinen Werken in den Blick rückte und man endlich die literarische Besonderheit seiner Dramensprache nicht mehr an der Goethes messen – und für zu gering befinden würde?“

Es seien die „Nebensachen“, ein Grillparzer-Wort, die in seinen Dramen zur Darstellung kommen und womit Grillparzer bewusst „von der deutschen Klassik abweicht“. Höller reißt einige Aspekte an, wie die Bedeutung des anderen Sehens (verkörpert in Grillparzers Seherinnen-Figuren), die Sprache des Traums (Der Traum ein Leben) und der „,niederen‘ Leiblichkeit“. Zu den „Nebensachen“ zählen aber auch die Verletzungen und Traumata der Opfer und die „Schreckensbilder der Exilierung“, die schon wegen ihrer evidenten Aktualität eine fundierte Analyse verdient hätten, der Beitrag bleibt aber mit einer Anekdote auf halber Strecke stecken.

Auf die Komplexität der Darstellung von Zivilisiertheit und Barbarei, von Gut und Böse, in Weh dem, der lügt! hat Ruth Klüger bereits 1971 in einem Aufsatz hingewiesen, der in dem Sammelband in übersetzter und ergänzter Fassung abgedruckt ist. Klüger bemerkt vorweg, dass ein Happy End bei Grillparzer stutzig machen sollte und konstatiert im Nachtrag von 2016, der Frieden in dem Stück sei „nicht glaubhaft, und soll es wohl auch nicht sein; eher ist er Hinweis auf sein Gegenteil in der Realität.“ Das Publikum soll „mitjonglieren“ bei diesem Spiel und „von dem Gastmahl der Wiener Kochkunst kosten wollen, das der Küchenjunge Leon uns aufgetischt hat“. Man kann vermuten, dass die vordergründige Naivität und die plakative didaktische Absicht Weh dem, der lügt! zu einem politischen Lehrstück machen, das heute mit der gleichen Wirksamkeit aufgeführt werden kann wie vor hundert oder hundertfünfzig Jahren und dabei auf die gleichen Missverständnisse stößt; auch das eine Form der Aktualität.

Einen aktuellen Blickwinkel nimmt auch Robert Pichl ein, der den habsburgischen Vielvölkerstaat, die Folie, vor der Grillparzer seine historischen Dramen verfasst und der in seinen Tagebüchern und Epigrammen thematisiert wird, mit der EU vergleicht. Nationale Zentrifugalkräfte wirken heute wie damals. Pichl zeigt, wie sich Grillparzer in Ein Bruderzwist in Habsburg diesem Problem annähert und die Bedrohlichkeit des Nationalismus „am historischen Beispiel glaubwürdig“ für seine Zeit analysiert, eine Analyse, die nicht überholt ist.

Eine ganz besondere Vergegenwärtigungsleistung stellt der knapp sechsseitige Beitrag des Juristen Raoul Kneucker dar, der sich durch König Ottokars Kanzler und andere Beamte, in denen Grillparzer die Trennung zwischen Expertentum und politischer Repräsentation auf die Bühne bringt, „angeregt, ja geradezu herausgefordert“ fühlt. Kneucker erinnert daran, dass sich Grillparzer mit Verwaltung und Bürokratie auskannte. Anhand dreier Zitate aus König Ottokars Glück und Ende, Ein treuer Diener seines Herrn und Ein Bruderzwist in Habsburg weist Kneucker nach, dass Grillparzer das „,klassische‘ Verhältnis von Politik und Verwaltung“ darstellt, und kommt zu dem verblüffenden Schluss: „Die Situation wäre heute nicht viel anders […] Verwaltungsforscher hätten es, freilich ohne Versmaß, nicht anders ausgedrückt.“ Klassiker-Update completed.

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Brigitte Prutti: Unglück und Zerstreuung. Autobiographisches Schreiben bei Franz Grillparzer.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2015.
93 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783849811426

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Bernhard Fetz / Michael Hansel / Hannes Schweiger (Hg.): Franz Grillparzer. Ein Klassiker für die Gegenwart.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016.
223 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783552058057

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