Radikales Einstehen für die Folgen des Handelns

Über eine Neuübersetzung von Lew Tolstois letztem und düsterstem Roman „Auferstehung“

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fürst Dmitri Iwanowitsch Nechljudow verbringt seine Jugend bei seinen älteren Tanten Sofja und Marja Iwanowna, welche die 16-jährige Jekaterina Maslowa als Bedienstete beschäftigen. Nechljudow und Maslowa verlieben sich – zurückhaltend – ineinander. Als er während seiner Militärzeit wieder bei seinen Tanten auftaucht, schwängert er Maslowa, die daraufhin das Haus der Tanten verlassen muss. Ihr Kind stirbt in einem Findelhaus; erst wird sie Freiwild, Opfer multipler sexueller Übergriffe, später dann Prostituierte. Viele Jahre darauf wird Nechljudow zum Geschworenen in einem Gerichtsverfahren. Maslowa, nun eine heruntergekommene Frau, wird als Prostituierte und Mörderin eines ihrer Kunden angeklagt. Sie hat den Mann vergiftet, der sie misshandelte, und wird zu vier Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Das Heiratsangebot Nechljudows lehnt sie ab – es gehe ihm nach seinem Vergnügen doch nur um Abbitte, um Erlösung, nicht aber um sie. Nechljudow versucht in der Folgezeit, Maslowa zu helfen.

33 Jahre nach Dostojewskis Prestuplenie i nakazanie (Schuld und Sühne / Verbrechen und Strafe) veröffentlichte Tolstoi 1899, nach zehnjähriger Arbeit am Manuskript, seinen dritten und letzten Roman mit dem Titel Woskressenije, Auferstehung, der als eine Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex von Schuld und Sühne gelesen werden kann. Maslowa begeht eine Handlung, an der Nechljudow eine Mitschuld feststellt. Diese will er sühnen, indem er die gerichtlich Verurteilte nach Sibirien begleitet. Gleichwertig behandelt Tolstoi die Bedeutung des gesellschaftlichen Regelwerks in dieser persönlichen Geschichte und überführt seine Gedanken in Gesellschaftskritik. Sein Roman ist eine Anklage der Menschenfeindlichkeit und der Korruption der herrschenden Klasse sowie der bürokratischen Institutionen und der Kirche.

Während im Allgemeinen das Gericht als ein Ort gesehen wird, an dem Recht gesprochen, wenn schon nicht die Wahrheit gefunden wird, ist Tolstois Gericht ein Ort, der von Unrecht und Machtmissbrauch beherrscht wird. Maslowa wird für schuldig befunden, den Kunden ermordet zu haben, obwohl sie nicht wusste, dass es sich bei der Substanz, die sie ihm verabreichte, um Gift handelte, vielmehr dachte sie, es handle sich dabei um ein Schlafmittel. Ihre Verurteilung ist Ergebnis nicht einer lückenlosen Beweisführung, sondern der Fahrlässigkeit, des Desinteresses und der Dummheit Geschworener in Verbindung mit eitler Selbstdarstellung des Staatsanwalts und der Eile des Richters.

Auferstehung beginnt mit einer Beschreibung des Frühlings, der natürlichen Schönheit, um zugleich deren Fragilität hervorzuheben, weil sie auf vielfältige Weise vom Menschen missbraucht wird. Diese längere Passage liest sich wie ein Auszug aus einem Umweltbericht. Und während Tolstoi in seinen beiden vorhergehenden Romanen die Natur als das Leben mitbestimmendes Element betont, macht er sie in Auferstehung zum Opfer des Menschen, oder enger gefasst: des Mannes, der den Gang von Gesellschaft und Ökonomie bestimmt. Im Verlauf des Romans wird überdeutlich, dass Tolstoi Parallelen sieht zwischen dem Verhältnis des Mannes zur Natur und zur Frau.

Während Anna Karenina mit dem Tod der Protagonistin endet, wird Jekaterina Maslowa in Auferstehung als lebende Tote präsentiert. Diesen Eindruck von ihr bekommt Nechljudow, als er sie nach langer Zeit im Gefängnis wiedersieht. In einem Roman, der die Spiritualität zu einem wichtigen Thema macht, wird die weibliche Hauptfigur ihrer Spiritualität beraubt und auf die Körperlichkeit reduziert.

Als Nechljudow aus seiner aristokratischen Oberwelt in die Unterwelt der Besitzlosen und Unterdrückten hinabsteigt, wird ihm nach und nach klar, wie ungerecht die Gesellschaft ist. Er erfährt, dass das Fundament der russischen Gesellschaft aus Ungerechtigkeit, Justizwillkür, Grausamkeit und Leid besteht. Justizirrtümer und Inhaftierung von politisch Andersdenkenden oder religiös Andersglaubenden sind an der Tagesordnung, Gefangene werden grundlos misshandelt; sogar wegen abgelaufener Visa kann man ins Gefängnis kommen.

Auferstehung illustriert, wie furchtbar das Leben der Besitzlosen zu Tolstois Zeiten gewesen ist. Die Grenzen zwischen Besitzenden und Besitzlosen sind vollkommen undurchlässig. Ein Mann verdurstet in der Stadt, umgeben von Trinkmöglichkeiten. Frauen werden in Gefangenschaft vergewaltigt. Kannibalismus ist eine Versorgungsalternative. Liest man Orlando Figes historische Arbeit Russland. Die Tragödie eines Volkes (2014), dann wird man dies nicht mehr nur für eine Fiktion halten. Gleichgültigkeit gegenüber Leidenden, Rücksichtslosigkeit gegen den Nächsten, Utilitarismus als Konstante in Beziehungen, all dies ist bestimmend für soziale Interaktion.

Auferstehung zeigt auf wunderbare Weise die ethische Verkümmerung der Menschen im Umgang miteinander. Nach der Lektüre beschleicht einen das Gefühl, Ungerechtigkeit und zunehmende Ungleichheit seien normal und könnten einen durch das Leben begleiten, ohne dass man daran Schaden nähme. Die Kapitulationserklärung lautet: Das Elend der Welt ist bedauerlich, aber unvermeidbar.

Tolstoi ist heute berühmt als Romancier, als Autor von Anna Karenina und Krieg und Frieden. Er war jedoch auch ein Akteur in der sozialen Reformbewegung, der sich in Russland für Bildungsprogramme emanzipierter Leibeigener einsetzte. In der Landbevölkerung, namentlich den Bauern, sah er die Grundlage für ein Modell gesellschaftlicher Reformen. Er war Verfasser von Schriften gegen soziale Ungerechtigkeit. Kritik am Klerus führte ihn zurück zu den Wurzeln des Christentums.

In keinem seiner Romane wird dieses Geflecht so fein sichtbar wie in Auferstehung. Tolstoi fordert ein radikales Einstehen der Menschen für die Folgen ihres Handelns, vielleicht auch Unterlassens. In dieser Forderung verdichtet er weitgespannte Überlegungen, in denen sich Gesellschafts- und Kleruskritik mit einer Ethik individueller Selbstwerdung verbindet. Die Katastrophe verlogenen Christentums, das den Menschen an die Stelle Gottes setzt, diskutiert er ebenso wie die Forderung nach der Wiederherstellung der Würde und Rechte von Menschen.

Titelbild

Lew Tolstoi: Auferstehung.
Besondere Ausstattung: Dünndruck. Leinen. Fadenheftung. Lesebändchen. Farbiges Vorsatzpapier.
Übersetzt und kommentiert von Barbara Conrad.
Carl Hanser Verlag, München 2016.
717 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783446252851

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