Unterwegs im Reich der Akten, Sammlungen und Nachlässe

Ein Handbuch über Theorie, Geschichte und Praxis des Archivs von Marcel Lepper und Ulrich Raulff

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach der Lektüre des von Ulrich Raulff und Marcel Lepper herausgegebenen Handbuchs weiß man einerseits – und das ist keineswegs gering zu achten –, was ein Archiv ist oder sein soll, was es leistet und was nicht, welchen staatlichen Funktionen und erinnerungspolitischen Erwartungen es im Wandel der Epochen unterworfen war, auch wie sehr sich das Archivwesen mittlerweile verzweigt, ausdifferenziert und professionalisiert hat. Andererseits verschwimmt es hier und da im Nebel einer kulturalistisch aufgeputzten Metaphorik, die vergessen lässt, dass Archive zunächst und vor allem recht irdische Orte sind, an denen es für den Benutzer gilt, sich zweckdienlich zu orientieren, das zu finden, was er sucht und das erhobene Material auf angemessene Weise in das jeweils verfolgte Forschungsinteresse zu inkorporieren.

So gesehen liest man einigermaßen verblüfft in einem der Beiträge, Archive seien nicht wie noch früher „verstaubte Schriftfriedhöfe“ (wann wären sie das je gewesen?), sondern hätten sich „in den schillernden Topos einer aktiven Wissensproduktion“ verwandelt. Das Archiv, heißt es weiter, zeige schon längst nicht mehr, „wie es eigentlich gewesen“ sei. Dies zu behaupten, wäre freilich dem Historiker Leopold von Ranke, auf den das Zitat zurückgeht, nie in den Sinn gekommen. Denn das Archiv als solches zeigt gar nichts. Den Geheimnissen mannigfaltiger Vergangenheiten auf die Spur zu kommen, ist vielmehr die Aufgabe derjenigen, die sich der im Archiv aufbewahrten Quellen bemächtigen, um sie zum Sprechen zu bringen, in Kontexte zu setzen und zu interpretieren. Dass derlei Tun der Information über die Herkunft und das Schicksal der eingesehenen Bestände oder, wie hier in modischer Begrifflichkeit formuliert wird, der Kenntnis über die „Codierungen und Aufschreibsysteme“ bedarf, nach denen die Archivalien abgelegt worden sind, gehört seit jeher und nicht erst heute zu den Selbstverständlichkeiten.

Verschiedentlich ist seit den späten 1990er-Jahren vom „archival turn“ die Rede, der gleich anderen in der jüngsten Vergangenheit ausgerufenen ‚turns‘ die Kulturwissenschaften erfasst habe. Dabei ist mit einigem Enthusiasmus die „Materialität“ der Archivalien entdeckt, ja der „Geschmack des Archivs“ – so der häufig zitierte Titel eines Buches von Arlette Farge – in geradezu hymnischen Wendungen beschworen worden. In dieser Optik zählen Historiker offenbar nicht zu den Kulturwissenschaften. Denn sie dürften sich von derlei Beschreibungen und der darin zum Ausdruck kommenden Überhöhungen kaum angesprochen fühlen. Für sie war und ist der Gang ins Archiv – parallel zur Verwissenschaftlichung und Professionalisierung ihrer Disziplin seit dem frühen 19. Jahrhundert – nicht abhängig von irgendwelchen intellektuellen Konjunkturen, sondern ebenso üblich wie unverzichtbar, wollen sie valide Forschungen betreiben und ebenso valide Ergebnisse hervorbringen. Den Staub auf den Akten nehmen sie dabei als unvermeidbare Begleiterscheinung hin, die kunstvoll mit Kordeln verschnürten Faszikel versuchen sie nach Öffnung und Benutzung in den Originalzustand zurückzuverwandeln, an die mannigfaltigen Gerüche, welche den Papieren entströmen, gewöhnen sie sich ebenso wie an veraltete Lesegeräte und mangelhafte Mikrofilme. Wer mit derlei Widrigkeiten zu kämpfen hat, dürfte an die ‚Materialität‘ der Akten keinen Gedanken verschwenden. Sich darüber in lyrische Betrachtungen zu verlieren, haben Historiker also wenig Anlass, zumal die konsultierten Materialien alle Aufmerksamkeit und alle Vorstellungskraft in Anspruch nehmen.

Augenscheinlich existieren im Blick auf das Archiv verschiedene Kulturen, jeweils abhängig davon, in welchen akademischen Zusammenhängen diese beheimatet sind. Das macht die Pluralität der Blickwinkel aus, die von den Herausgebern einleitend hervorgehoben wird: „Das Handbuch“, schreiben sie, „setzt auf die konzentrierte Einbeziehung von Forschungsergebnissen aus den historischen und philologischen Fächern, aus Kultur- und Rechtswissenschaften, Ethnologie und Anthropologie.“ Ein konventionelles Handbuch ist auf diese Weise nicht entstanden. Zwar wird auch hier der Stand der Dinge deutlich, aber wie darauf geschaut wird, ist außerordentlich differenziert. Daraus erwächst eine bemerkenswerte Breite und Vielfalt an Informationen und Zugriffen: teils in pragmatischer, teils in theoretischer, bisweilen den Gegenstand literarisierender Form und Absicht. Um ein „Handbuch der Archivkunde oder der historischen Propädeutik“ ging es dabei nicht, auch nicht um ein „Lehrbuch für die archivarischen und archivwissenschaftlichen Studien- und Ausbildungsgänge.“ Trotzdem wäre gerade der Archivnachwuchs gut beraten, den Band zu konsultieren, denn die hier versammelten Beiträge eröffnen weite Horizonte und schreiten die Felder ab, in denen er sich später von Berufs wegen heimisch fühlen soll.

Archive sind keine Erfindungen unserer Tage. Gleich vier Beiträge verfolgen ihre Geschichte, beleuchten Entstehung und Entwicklung, Gestalt- und Funktionswandel in den verschiedenen Epochen und Herrschaftsordnungen. Hier wird deutlich, wie eng der Zusammenhang zwischen staatlichen beziehungsweise vorstaatlichen Legitimationsinteressen und Archivorganisation geknüpft war. Archive dienten der memoria, heute würden wir sagen: den erinnerungspolitischen Bedürfnissen der jeweiligen Monarchen und Territorialherren. Sie waren nicht allgemein zugänglich, sondern integraler Bestandteil des fürstlichen arcanum. Das änderte sich erst im Zeitalter der französischen Revolution, als zum einen Archive gestürmt wurden, um die Rechtstitel der Feudalität zu zerstören, zum andern aber das Archivwesen zur Sache der Nation erklärt und zentralisiert, vor allem aber die freie Zugänglichkeit für die Bürger postuliert wurde. Dies wiederum war die Voraussetzung, das Archiv allmählich zu einer Institution für die wissenschaftliche Durchdringung und Vergegenwärtigung der Vergangenheit zu machen. Damit einher ging die Professionalisierung der  Strukturen und des Personals. So paradox das klingen mag: Die Revolution, die den Tradionsverzehr auf ihre Fahnen geschrieben hatte, wurde zur Geburtshelferin einer Einrichtung, die auf das Gegenteil zielt, nämlich den Rohstoff liefert, um Tradition und Überlieferung zu bewahren oder neu zu begründen.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wird, namentlich in Deutschland, das Archiv in die Pflicht genommen, staatliche Selbst- und Wunschbilder zu unterfüttern. Nach dem großen Krieg von 1914/18 wird erstmals ein deutsches Nationalarchiv installiert, nicht zufällig in Potsdam auf dem Brauhausberg im Gebäude der ehemaligen Kriegsschule. Schon das lässt den engen Konnex von Militär und Vergangenheitspflege ahnen, der in Gestalt des ersten Präsidenten des Reichsarchivs, des Generalstabsoffiziers Mertz von Quirnheim zusätzlich unterstrichen wurde. Insoweit sich das Reichsarchiv der Aufgabe widmete, die von den Alliierten im Versailler Vertrag notifizierte deutsche Kriegsschuld zu widerlegen und die organisierte Unschuldspropaganda mit Material zu füttern, wurde dort, wie im informativen Eintrag von Nicolas Berg zu lesen ist, die „Fortsetzung des Krieges mit anderen politischen Mitteln“ betrieben.

Dies zeugte sich fort im Nationalsozialismus. Nach 1933 wurden die Archive „zu Produktionsstätten einer Ideologie“, die das Deutsche und die gesellschaftliche Integration unter völkischem Vorzeichen zum alleinigen Maßstab erhob. Untrennbar damit verbunden war die Vernichtung von Archivgut der politischen Gegner, etwa die öffentliche Verbrennung von Akten im Rahmen der Verwüstung der Gewerkschaftshäuser und sozialdemokratischen Parteibüros im Frühjahr 1933, natürlich auch der Verlust von Papieren und Korrespondenzen der emigrierten Schriftsteller, Publizisten und Wissenschaftler. Ein Weiteres kommt hinzu, wie Berg betont: Zeugnisse der deutschen Geschichte lagern nicht mehr allein in Deutschland, sondern sind verstreut in der ganzen Welt, in den Leo-Baeck-Instituten in Jerusalem, New York und London zum Beispiel, in den Moskauer Spezialarchiven, in denen immer noch kilometerlang erbeutete und nicht zurückgegebene Akten lagern, in den Nationalarchiven der siegreichen Alliierten, deren Materialien Auskunft geben über die Besatzungsherrschaft nach 1945.

Den deutschen Archivlandschaften der Gegenwart, ihren Verzweigungen, Funktionsbestimmungen und Spezifika, widmen sich einige eher praxisorientierte Artikel, die in den Kapiteln III bis V unter „Archivpolitik“, „Archivmaterial“ und „Archivpraktiken“ rubriziert sind. Bezeichnend für Deutschland ist föderale Vielfalt. Neben den beiden Bundesarchiven in Berlin und Koblenz existieren Archive in den Landeshauptstädten, denen wiederum ‚Nebenarchive‘ zugeordnet sind, in denen sich aktuelle, aber auch ältere territoriale und administrative Ordnungen spiegeln. Zu nennen sind ferner Literaturarchive wie das Deutsche Literaturarchiv in Marbach oder die Handschriftenabteilungen der großen Bibliotheken, außerdem die – gerade für alltagsgeschichtliche Forschungen zunehmend wichtiger werdenden – Kommunalarchive, die Wirtschafts-, Adels-, Kirchen-, Verbands- und Rundfunkarchive: sie alle mit je eigenen Beständen, Zwecksetzungen und Reichweiten. Archivgesetze regeln den Zugang, der im Prinzip frei ist, eine allgemeine Lizenz zur Auswertung sämtlicher Archivalien jedoch nicht einschließt. Das Recht auf Akteneinsicht stößt immer dann an Grenzen, wenn staatlich verfügte Schutz- und Sperrfristen oder die Persönlichkeitsrechte Dritter berührt sind. Das Thema Recht und Archiv ist vielschichtig, beides steht nicht selten in einem Spannungsverhältnis, in dem gegenläufige, jeweils von Fall zu Fall auszutarierende Prinzipien aufeinander treffen.

Hermann Lübbe, dem wir die viel zitierte, leicht verrätselte Wendung vom kommunikativen Beschweigen der NS-Vergangenheit verdanken, lenkt den Blick auf die in den Archiven schlummernden Abgründe. Schon George Orwell hatte, wie der Autor notiert, „die Vollendung totalitärer Herrschaft als uneingeschränkte Dispositionsgewalt über unsere Vergangenheit“ begreifen wollen. In diesem Sinne wird der Archivar zum „politisch beauftragten Vergangenheitsdisponenten“. Aber auch unter nichttotalitären Verhältnissen bestehe das Interesse, sei es der Parteien, sei es der Regierungen, „an Bildern der Vergangenheit“ fort, „die zu ihren wechselnden geschichtspolitischen“ Bedürfnissen passten. Je weiter die Moderne und die ihr inhärenten Modernisierungstendenzen voranschritten, desto intensiver würden allenthalben die „Vergangenheitsvergegenwärtigungsinteressen“. Archivaren fällt dabei eine Schlüsselposition zu. Im Zeitalter der massenhaften Dokumentation administrativen Handelns gewinnt nicht zuletzt die Frage an Dringlichkeit, was aufgehoben werden soll und was nicht. Die gängige Maxime dazu hat vor Jahrzehnten bereits ein Archivar in lapidarer Kürze formuliert: „Wertvoll ist, was für die Forschung künftiger Generationen wichtig ist.“ Gewiss, wer aber weiß, was diese von früheren Epochen wissen wollen und welche Materialien dazu unabdingbar sind. Und um die Sache noch ein wenig zu komplizieren, weist Lübbe darauf hin, dass man zwar die Forderung nach ungehindertem Zugang zu allem „zeitgeschichtlich relevanten“ Material, was die Abschaffung von Schutzfristen impliziert, aus der Sicht der Historiker verstehen könne. Zugleich jedoch, so lautet sein Einwand, gebe es „Grenzen des Anspruchs der Historisierung auf Lebensverhältnisse“, deren „Subjekte noch nicht Vergangenheit geworden“ seien. Hier wird ein Dilemma sichtbar. Ob es sich prinzipiell aufheben lässt, ist schwer zu sagen, aber dass es dauernden Konfliktstoff birgt, ist kaum von der Hand zu weisen.

Titelbild

Marcel Lepper / Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016.
290 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783476020994

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