Die Vermessung der Welt von gestern

Klaus Nüchterns „Kontinent Doderer“ lädt zur Wiederentdeckung eines modernen Klassikers ein

Von Albert EiblRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albert Eibl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Carl Heimito Ritter von Doderer am 23. Dezember 1966 starb – sein Tod jährte sich gerade zum 50. Mal –, soll Thomas Bernhard mit den Worten „Jetzt ist die Bahn frei, jetzt komme ich“ erleichtert von seinem Fernsehsessel aufgesprungen sein und dabei euphorisch in die Hände geklatscht haben. In der Tat sollte Bernhard den unkonventionellen Sonderling, der 1896 als das jüngste von insgesamt sechs Geschwistern in eine wohlhabende Wiener Adelsfamilie geboren wurde, in puncto öffentlicher Wahrnehmung und Nachruhm schon bald nach dessen Ableben überrundet haben.

Doderers Werk ist schnell, vielleicht allzu schnell, wieder zu dem Geheimtipp geworden, der es für viele Jahrzehnte der Latenz mit einer Aura des Exklusiven, ja zuweilen sogar des Gefährlichen auszeichnete. Dabei war dem ehemaligen Kavallerieoffizier seit dem Erscheinen seines monumentalen Wienromans Die Strudlhofstiege im Frühjahr 1951 ein kometenhafter Aufstieg zuteil geworden, der 1957 nicht zuletzt in einer sechsseitigen Cover-Story des Spiegels und der Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises für Literatur gipfelte. Wenn auch recht spät für einen so unermüdlichen Arbeiter im Bergwerk des Geistes war Doderer plötzlich in aller Munde. Die vielen Jahre in zurückgezogener Produktivität, der eiserne Wille, seinem zum großen Teil auf dem Reißbrett entworfenem Opus beharrlich neue Motive, Charaktere und Existenzformen einzuverleiben, hatten sich endlich ausgezahlt. Doderer war unzweifelhaft und quasi über Nacht zu einem der wichtigsten Repräsentanten der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur avanciert.

„Auf der Suche nach einem Thronfolger für die verwaisten Kronsessel der deutschen Literatur“, referierte der anonym gebliebene Autor des damaligen Spiegel-Portraits, blicke das deutsche Lesepublikum nach dem Tod von Thomas Mann, Gottfried Benn und Bertold Brecht nun nach Wien: „Der taxierende Blick gilt dem sechzigjährigen österreichischen Schriftsteller Heimito von Doderer.“

Folgt man Klaus Nüchtern, dem 1961 geborenen Literaturkritiker und langjährigen Feuilletonchef der Wiener Wochenzeitung Der Falter, lohnt sich ein solcher Blick nach wie vor. Macht man sich die Mühe, den Kontinent Doderer zu durchqueren, oder zumindest an den ein oder anderen Aussichtspunkten seines Werkes Station zu machen, so wird man auch heute noch – nach dem Untergang der bürgerlichen Lebenswelt, die der akribisch arbeitende Großstadtromancier und Sprachfetischist im Prisma seines schriftstellerischen Könnens aufbrach und auf originelle Weise immer wieder virtuos zusammenzufügen verstand – nicht enttäuscht werden.

Nüchtern will sich in seiner mit viel Witz und Sachverstand geschriebenen Werkbiographie mit seinen Lesern auf eine vergnügliche Reise begeben. „Mit kritischer Distanz, ja, Distanzierung darf Doderer“ auch weiterhin „verlässlich rechnen“. Gerade die Auseinandersetzung mit seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus sei noch keineswegs abgeschlossen. Doch „gute Literatur ist immer klüger als ihr Verfasser“, und so geht es Nüchtern bei aller, oft berechtigter Kritik an einzelnen Gesinnungsverirrungen und Unzulänglichkeiten des Menschen Doderer vor allem um die Qualität und Originalität seines Werkes selbst, das als Sprach- und Erzählkunstwerk aller ersten Ranges gleichberechtigt neben vielen anderen herausragenden Erzählunterfangen des 20. Jahrhunderts bestehen kann.

Der Autor will zeigen, „wie die Literaturmaschine Doderer funktioniert und wie man sie zum eigenen Pläsier benutzen kann“. Bei Doderer sieht man sich auch heute noch einem opus gegenüber, so arbeitet Nüchtern schön heraus, das sich in seiner psychologischen Raffinesse und Detailverliebtheit, seinem besonderen Hang zu Suspense- und Überraschungseffekten und nicht zuletzt seiner brüllenden Komik wegen als genuines und eben gar nicht antiquiertes Werk unserer dynamischen Moderne ausweist. Ein Erzählzyklus, der das Leben, Leiden und Lieben des Einzelnen im Malstrom des Alltäglichen in immer neuen, überraschenden Wendungen umkreist und diesem Leben ein robustes Denkmal für kommende Generationen baut, hat auch heute noch ein Anrecht darauf, entdeckt zu werden, und dies – so verspricht Nüchtern nicht zu Unrecht – mit zum Teil beträchtlichem Gewinn für den neugierigen Leser.

Nüchtern teilt sein Buch in acht, auch unabhängig voneinander lesbare Kapitel auf – anregende, essayistisch verfahrende Studien, die auf unterschiedliche Terrains und Aussichtspunkte dieses Werks hinweisen und ungeahnte Knotenpunkte und Vermessungswege sichtbar zu machen versuchen. So widmet Nüchtern zum Beispiel den literarischen Anfängen Doderers in russischer Kriegsgefangenschaft während des ersten Weltkriegs das erste Kapitel, arbeitet dann erstaunliche Parallelen zwischen Doderers voyeuristischem Roman Die erleuchteten Fenster (1950) und Alfred Hitchcocks Thriller Das Fenster zum Hof (1954) heraus und geht im dritten Kapitel auf „Doderers Wien“ ein, das er als uneingeschränkten Dreh- und Angelpunkt der Gesellschaftsauslotungen des Schriftstellers erkennt: Topographie und Aussicht, so lernen wir, sind für den Schönwetterromancier und leidenschaftlichen Flaneur Doderer nicht nur Spiegel der eigenen Befindlichkeit, sondern immer auch am Geschehen aktiv mitwirkende, zuweilen sogar als beseelt entworfene Bestandteile des Figurenlebens. Neben solch übergeordneten Deutungsansätzen findet auch jeder der wichtigen Romane Doderers eine eingehende Lektüre und Einschätzung.

Mit seinem Kontinent Doderer gibt Nüchtern uns einen wunderbar einfach zu bedienenden Kompass in die Hand, um ein in weiten Kreisen zu Unrecht in Vergessenheit geratenes Mammutwerk neu zu entdecken. Das Erfrischende an Nüchterns Buch liegt dabei nicht nur an seinem betont unakademischen Parlando, das frei ist von jeder rechthaberischen Überheblichkeit, sondern auch an der sichtlichen Lust des Autors, den geneigten Leser dazu zu animieren, auch gänzlich unbeschrittene Pfade des wild blühenden und verwucherten Erzählkontinents auf eigene Faust zu erkunden.

Titelbild

Klaus Nüchtern: Kontinent Doderer. Eine Durchquerung.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
352 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783406697449

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