Die erfundene Muse des Dichters

Juan Gómez Bárcenas Spiel mit Realität und Fiktion unter dem Himmel von Lima

Von Christina DittmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Dittmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Der Himmel von Lima begegnen uns Carlos und José, zwei junge Männer aus der peruanischen Oberschicht des Jahres 1904, die von ihren Vätern mehr oder weniger zum Jurastudium gezwungen werden. Ihre wahre Leidenschaft aber liegt in der Literatur und im Schreiben.

Während viele gute Schriftsteller einfach nicht entdeckt werden, sind die Gedichte der beiden jedoch tatsächlich schlecht. Carlos ist das auch bewusst, trotzdem schreibt er weiter. Warum? „Es kommt ihm so vor, als schreibe er aus demselben Grund, aus dem sein Vater Tonnen von Kautschuk anhäuft oder seine Mutter seit 30 Jahren denselben Rosenkranz ohne Unterbrechung betet. Weil er nichts anderes kann. Weil er woanders sein will“, heißt es im Roman.

Da es ihnen immer ein wenig zu lange dauert, bis die Werke ihres spanischen Schriftstelleridols Juan Ramón Jiménez in Peru erscheinen, beginnen sie, ihm bewundernde Briefe zu schreiben, damit er ihnen Exemplare seiner Bücher zuschickt. Um ihre Chancen auf eine Antwort zu vergrößern, erfinden sie mit Hilfe von Carlosʼ mädchenhafter Handschrift ihr Alter Ego Georgina Hübner. Tatsächlich wird Ramón auf sie aufmerksam und es kommt zu einem leidenschaftlichen Briefwechsel. Das Postschiff nach Spanien braucht zwar einen ganzen Monat, doch Georgina und Ramón sind beide zu ungeduldig, um darauf warten zu können, und so schicken sie meist gleich mehrere Briefe mit einer Ladung.

Carlos und José sind von dem Gedanken besessen, etwas im Leben zu schaffen, das bleibt und sie überdauert. Sie selbst sind (schriftstellerisch) zu schlecht und so finden sie ihre Aufgabe als Musen. Ramón soll Georgina, also ihnen, ein Gedicht widmen – und dafür muss er sich in sie verlieben. So beginnt die Erschaffung Georginas und dabei geht es, wie jeder Schriftsteller weiß, weniger um ein Erfinden von Figuren, sondern um ein Finden. „Ist Georgina womöglich eine Waise? Hat sie einen Tropfen Indioblut in den Adern oder die marmorne Hautfarbe der Kreolen? Wie alt ist sie genau, und was will sie von Juan Ramón? Sie wissen es nicht, so wenig, wie sie wissen was sie da treiben und warum es wichtig ist, dass Juan Ramón erneut antwortet.“

Warum sollte sich ein tatsächlich existierender Mensch nicht in ein fiktives Mädchen verlieben können? Wie Realität und Literatur sich gegenseitig beeinflussen und daher nie getrennt betrachtet werden können, erläutert ein von den beiden Männern als Berater konsultierter Ghostwriter für Liebesbriefe, der seine Dienste im Stadtzentrum Perus anbietet. Er zieht dazu das Beispiel von Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werthers heran, das einige Leser zum Suizid inspirierte: „Denken Sie nur: Die Deutschen, die so pragmatisch sind, schießen sich wegen der Liebe in den Kopf; nun ja, wegen Goethe, versteht sich.“

Wie jedes literarische Werk steht nun Georgina den Briefeschreibern Juan und Carlos, aber auch Ramón zur Interpretation offen und jeder erschafft sich in Gedanken seine eigene Georgina. Carlos beginnt die Figur in eine polnische Prostituierte hineinzuprojizieren, die ihm sein Vater zum dreizehnten Geburtstag spendierte und die er nicht vergessen kann. Für José wiederum ähnelt sie einem früheren Hausmädchen seiner Familie.

Gerade für Carlos, der sich nach Liebe sehnt, wird Georgina zur persönlichen Notwendigkeit, zum Lebensinhalt und er beginnt sich, in ihr zu verlieren, bis sie ihm von seinen Freunden und Beratern gestohlen und verfremdet wird. Als er sie schließlich zurückerhält, ist sie zusammengesetzt aus literarischen Zitaten und schlussendlich nicht mehr als ein reines Plagiat. Ramón wiederrum bemerkt das nicht, er hat sich längst verliebt und beginnt, eine Reise nach Lima zu planen.

Der Himmel von Lima ist in vier Kapitel unterteilt, die nach Genres und Gattungen benannt sind: Den Anfang macht „Eine Komödie“, darauf folgt „Eine Liebesgeschichte“ und „Eine Tragödie“; den Abschluss bildet – wie könnte es anders sein – „Ein Gedicht“. Der Himmel von Lima ist zunächst einmal ein Roman über Literatur und die manchmal kaum sichtbare Grenze zwischen Fiktion und Realität. Es ist eine Geschichte über die Freundschaft zweier Männer, die Vorlesungen schwänzen, durch die Stadt spazieren und sich dabei überlegen, welche Passanten Haupt- und welche Nebenfiguren in einer Geschichte sein könnten. „Was sagst du zu der Alten, die am Eingang der Kirche bettelt?“ – „Sie hat etwas von einer Hauptdarstellerin, oder? Aber in einer sehr kurzen Geschichte natürlich. Eine Erzählung. Zwanzig Seiten oder so. Höchstens.“ – „Ja, eine kurze Erzählung. Und traurig. Sehr französisch, oder sehr russisch vielleicht, in der der Hauptdarsteller am Anfang arm ist und den Rest der Geschichte damit verbringt, endgültig vor die Hunde zu gehen …“

Ein Roman über Literatur, das mag speziell klingen, doch schließlich ist Literatur, wie oben bereits erwähnt, vom Leben nicht zu trennen. Der Himmel von Lima zeigt, wie Menschen sich in der Fiktion verlieren können, wenn das eigene Leben bedeutungslos erscheint. Es ist gerade deshalb auch ein Roman über die Träume der Jugend, die vielleicht für immer unerfüllbar bleiben. Wie die einzelnen Kapitelnamen schon andeuten, hat Der Himmel von Lima viele Facetten. Mal witzig, mal traurig, überraschend, romantisch, erschreckend, melancholisch und bitter. Der Autor kreiert einen Erzähler, der nicht alles weiß, aber vieles treffend vermutet und mitunter scharfsinnig kommentiert.

Den Dichter Juan Ramón Jiménez gab es tatsächlich: Er erhielt 1956 den Nobelpreis für Literatur und die Geschichte seiner erfundenen Muse Georgina ist eine Legende der spanischen Literaturgeschichte, von der Bárcena sich inspirieren ließ. Der Himmel von Lima ist sein erster Roman und wurde nicht umsonst mit Literaturpreisen ausgezeichnet und vielfach übersetzt. Für die sehr gute deutsche Übersetzung zeichnet der preisgekrönte Autor Steven Uhly verantwortlich.

Titelbild

Juan Gómez Bárcena: Der Himmel von Lima. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Steven Uhly.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2016.
319 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783905951950

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch