Urte Heldusers Studie zu „Imaginationen des Monströsen“ in der Literatur-, Wissens- und Diskursgeschichte vom 17. bis zum 19. Jahrhundert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Chimäre auf dem Titelkupfer von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch versinnbildlicht wie kaum ein anderes Bild die zentrale Kritik am Barockroman: Aufgrund der verschiedenen Themen und Handlungsstränge, die er verknüpft, gilt er als monströs. Was den einen als Qualitätsmerkmal gilt, ist für andere der ästhetische Todesstoß.

Die Frage, was einen guten Text ausmacht, beschäftigt nicht nur die heutige Literaturwissenschaft, sondern auch Autoren am Ausgang der Frühen Neuzeit. Eine zentrale poetologische Reflexionsfigur in der Ästhetik ist hierfür die Missgeburt. Mit der ihr zugeschriebenen Monstrosität ist in der Ästhetik die Vorstellung eines Verstoßes gegen die in der göttlichen Ordnung verankerten Prinzipien der Harmonie, der Funktionalität und des Ebenmaßes verbunden. Galt in der Poetik lange die von Horaz als Orientierung ausgegebene Trias von Ganzheit, Einheit und Einfachheit als Merkmal des guten Textes, so symbolisiert das Monster bzw. der monströse Text die Negation der klassizistischen Regelpoetik. Das formuliert unter anderem auch Gottsched in seiner Dichtkunst, wenn er betont, dass Monstren und Missgeburten in der literarischen Darstellung das Mimesisgebot nicht erfüllen. Da es sich also nicht um Naturnachahmungen, sondern um Produkte der Phantasie handelt, können sie nicht als literarisch wertvoll angesehen werden.

Entwickelt werden diese Überlegungen in einer Zeit, in der die Naturphilosophie die Ausgrenzung des Hässlichen aus dem ästhetischen Diskurs theoretisch fundiert und die Anthropologie das Wesen des Menschen zu ergründen versucht. Das Monströse soll hier nicht mehr als das Andere der Kultur gesehen werden, sondern aus der Natur des Menschen heraus erklärt werden. Dies zeigt sich exemplarisch an der von Urte Helduser nachgezeichneten medizinischen Diskussion des Versehens. Hier wird gefragt, wie sich die Einbildungskraft der schwangeren Frau auf die Entwicklung des Fötus auswirkt. Missbildungen werden auf eine überreizte Imagination zurückgeführt und auf diese Weise naturalisiert. Der enge Zusammenhang von Phantasie, Anthropologie und Wissenschaftsgeschichte macht das Phänomen auch zu einem interessanten literarischen Sujet. Ästhetik und Wissensdiskurs verbinden sich in dieser Diskussion um den falschen Körper.

Ausgehend von diesen Überlegungen verknüpft Urte Helduser in ihrer Studie Imaginationen des Monströsen die Wissens- und Diskursgeschichte über Monster in der Literatur vom 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert. Caliban, der wilde und missgestaltete Sklave aus Shakespeares Drama The Tempest, ist der Auftakt für eine ganze Reihe von monströsen Figuren, die nach der Publikation von Christoph Martin Wielands Shakespeare-Übersetzung die deutsche Literatur bevölkern. Die Wirkungsgeschichte der Figur zeichnet Urte Helduser in ihrer Untersuchung nach. Aufgrund ihrer  körperlichen Deformation ist diese prädestiniert, um an der Schnittstelle von Naturdiskurs, Ethnologie und Ästhetik Fragen der Tier-Mensch-Grenzziehung qua Sprache und Verstand zu diskutieren. Darüber hinaus gibt die Figur aber auch Hinweise auf Shakespeares Verständnis des Wunderbaren.

Ausgehend von den unterschiedlichen Wertungen der Caliban-Figur im Rahmen des Monster-Diskurses ergründet Urte Helduser anhand verschiedener Einzeltextanalysen von Romanen und Erzählungen die Faszination, die Monster als literarische Figuren entwickeln. Untersucht werden Erzählungen von Christoph Martin Wieland, Johann Karl Wezel, Clemens Brentano und Joseph Görres, E.T.A. Hoffmann und Ludwig Tieck.

Miriam Seidler

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert nicht die Bücher von Mitarbeiter / innen der Zeitschrift sowie Angehörigen der Universität Marburg. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.

Titelbild

Urte Helduser: Imaginationen des Monströsen. Wissen, Literatur und Poetik der »Missgeburt« 1600–1835.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
431 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783835317642

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch