Lyrische Gespräche in postfaktischen Zeiten

Katharina Schultens und Mirko Bonné halten „Zwiesprache“ mit dichterischen Vorbildern

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese angeblich postfaktischen Zeiten bieten der Lyrik die einzigartige Chance, ihren eigenen Wahrheitsanspruch geltend zu machen; die Wirklichkeit in ihrer Sprache gegenüber der politischen Lüge zu profilieren. Die Dichtung bildet Wirklichkeit nicht ab, aber sie ignoriert sie auch nicht einfach. Lyriker pflegen die handwerklich geschulte Praxis des Dialogs mit dem Gegebenen und mit dem Mitmenschen. Die Schriftenreihe „Zwiesprachen“ der Stiftung Lyrik Kabinett München bietet dieser Kunst ein bemerkenswertes Forum. 2016 sind nicht weniger als sechs Hefte erschienen, von denen vier hier bereits angezeigt wurden.

Inwiefern die radikale Erfahrung dichterischen Ausdrucksvermögens einem Menschen die Anforderungen des Büroalltags schal werden lässt, inwiefern sie das Familienleben belastet, inwiefern sie die innige Liebe zu einem letztlich doch fast fremden anderen Menschen, das Briefeschreiben, das Träumen so recht erst ermöglicht, vollzieht Katharina Schultens in einem Essay über Marina Zwetajewa, über deren Briefbeziehung zu Rainer Maria Rilke und über ihre eigene Beziehung zu Hendrik Jackson nach. Schultens spricht vom Leid ohne Wehleidigkeit, und sie tut das unter Bedingungen, die wohl niemandem fremd sind und die sie hellsichtig beschreibt: „Es ist ja auch so einfach, sich lächerlich zu machen – schwierig bleibt, es abseits der Provokation zu tun und dann nicht zu leugnen.“

Wirklich wichtig sind die scheinbar einfachen Fragen im Umfeld des Sozialstaats, des Rechtsstaats, der Demokratie: „Gibt es irgendetwas, das meine Verzweiflung auch nur im Ansatz rechtfertigt, weiß ich überhaupt, was Verzweiflung ist? Und gäbe es etwas, sie zu rechtfertigen, was gäbe mir das Recht, sie auszusprechen?“ Wer diese Fragen beantworten will, muss visionäre Qualitäten besitzen. Sie aber überhaupt erst zu stellen, ist ebenfalls ein Zeichen jenes Weitblicks, den ich als Ausweis des spezifischen Wirklichkeitsverhältnisses von Dichtung bezeichnen möchte und der heute nötig ist.

Und im nächsten „Zwiesprache“-Heft dann John Keats, im Dialog mit Mirko Bonné? Ist diese Romantik nicht lang her? Was hat sie mit unserer vermeintlich postfaktischen Zeit zu tun, zumal in ihrer englischen Spielart, deren Lord Byron, Samuel Taylor Coleridge, Percy Bysshe Shelley, Alfred Tennyson und William Wordsworth „allesamt im Deutschen so gut wie nicht existieren“, wie Bonné treffend und erschütternd feststellt? Hält diese Romantik nicht vor allem Zwiesprache mit sich selbst? Und wenn Keats Wahrheit als das charakterisiert, „was die Imagination als Schönheit erfasst“, haben wir uns dann nicht schon auf gefährliche Weise von den Fakten der Wirklichkeit entfernt?

Bonné setzt sich, wie Schultens, nicht direkt mit der Frage nach Literatur in postfaktischer Ungewissheit auseinander. Aber er insistiert, dass Keats und seine Romantik ihm „einen Weg durchs Leben“ haben finden lassen, er erinnert uns an Joseph Brodskys an Keats geschulte „Sprache des Herzens“, die mit der politischen Polemik nichts zu tun hat, die sich im Interesse des Menschen aktiv gegen die Verblendung wendet, und an die Keats-Rezeption des nicht nur in Deutschland zu Unrecht marginalisierten philosophischen Pragmatismus eines John Dewey.

Durchaus apodiktisch formuliert Bonné für den schreibenden Menschen heute indirekt drei Hausaufgaben: „Das Wesen der Dichtung ist Gespräch.“ Und: Sie vollzieht sich „unwandelbar nah am Anderen.“ So enthalte sie „Tröstliches“.

Diese Aufgaben allein schon zu formulieren hat etwas Tröstliches, und die Klangqualität nicht nur der zweiten Aufgabe ist selbst auf eine Weise dichterisch, dass die Grenzen zwischen kritischem Essay und lyrischem Gedicht wieder einmal infrage gestellt sind.

Nehmen wir in Zeiten von Filter bubbles und sozialen Medien die Einladung zur Zwiesprache an, in der die unpolitische Lyrik ihre Verantwortung ins Spiel bringt.

Titelbild

Mirko Bonné: Die Poesie der Erde ist nie tot. Über Leben und Werk von John Keats.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2016.
32 Seiten, 15,80 EUR.
ISBN-13: 9783884235430

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Titelbild

Katharina Schultens: So oder so, an der Naht entlang. Zu Marina Zwetajewa.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2016.
24 Seiten, 15,80 EUR.
ISBN-13: 9783884235423

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