Sensation als ästhetische Kategorie

Gilles Deleuzes Auseinandersetzung mit Francis Bacon

Von Maria DschaakRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Dschaak

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Geheimtipp ist der irische Maler Francis Bacon schon lange nicht mehr. Am 28.November 1909 in Dublin geboren, dauerte es zwar bis nach dem Zweiten Weltkrieg, bis er mit seinen Werken Erfolge feiern konnte, doch gestorben ist er 1992 als weltbekannter Maler, für dessen Werke Millionen bezahlt werden. Sein Triptychon Three Studies of Lucian Freud erzielte 2013 mit 142,4 Millionen Dollar den seinerzeit höchsten Betrag für ein Gemälde bei einer Auktion. Als Schreckensmaler mit einer Faszination für gequälte, deformierte und verstümmelte Körper und für leidende Figuren, die von einem Schmerz ohne Ursache und Sinn im Bild befallen zu sein scheinen, gilt er als schwieriger Künstler. Es ist dem französischen Philosophen Gilles Deleuze zu verdanken, dass er als Hauptsujet von Bacons Werken weniger den Schmerz als die Bewegung erkannt hat. Deleuze sieht in den Figuren Körper, die Kräften ausgesetzt sind und so in eine Bewegung des Werdens geraten, an deren Ende sie eine neue Variation ihrer selbst realisieren.

1981 erstmals veröffentlicht, ist Francis Bacon. Logique de la Sensation eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Repräsentation durch und anhand der Etablierung der ästhetischen Kategorie der Sensation. In insgesamt 17 Kapiteln entwirft Deleuze Eckpunkte der „Logik der Sensation“, die er in den Werken Bacons exemplarisch realisiert sieht. Basierend auf einem Gespräch zwischen Bacon und David Sylvester kombiniert er Gedanken und Begriffe Bacons mit zentralen Begriffen seines philosophischen Programms. Deleuze beleuchtet das Repräsentative mit Hilfe der Adjektive figurativ, illustrativ und narrativ. Gemäß seinem philosophischen Programm, dass es keine Anfänge gibt, beginnt für ihn auch der Maler sein Werk nicht mit und auf einer weißen Leinwand. Er ist immer schon eingebettet in ein Wirrwarr an Erinnerungsbildern und Klischees – „figurative Gegebenheiten“. Der Maler muss also – will er seine Kunst der Repräsentation entreißen – eine bewusste Entscheidung gegen das Figurative treffen.

Die Flucht vor der Repräsentation kann für Deleuze zwei Wege nehmen: mit der Abstraktion zur Form hin oder mit der Isolierung zum Figuralen hin. Diesen zweiten Weg nennt Deleuze – in Anlehnung an Paul Cézanne – Sensation. Deleuze sieht in Bacons Kunst den zweiten Weg realisiert. Während die abstrakte Form direkt die intellektuelle Verarbeitung anspricht, wendet sich die Sensation an „das Nervensystem, das Fleisch ist.“ Gegenbegriff zur Sensation ist das Sensationelle, also der Schock und Schrecken.

Bei der Etablierung der Kernbegriffe der Logik der Sensation und ihrer Relation zueinander geht Deleuze induktiv vor: Aus spezifischen Besonderheiten der Bilder von Bacon zieht er allgemeine Schlüsse. Die wesentlichen Schlaglichter dieser vermeintlichen Logik sollen kurz vorgestellt werden: Den Anfang nimmt die Begebenheit, dass Bacon mit Vorliebe isolierte Figuren in seinen Werken abgebildet hat. Durch diese Isolierung wird die Figur zu einem „Ikon“, einem „Faktum“. Doch auch die Kopplung von Figuren und Sensationen ist möglich, sofern damit das Erzählen einer Geschichte unterbunden wird. Durch zwei Arten kann laut Deleuze eine nicht-narrative Relationen entstehen: durch ein Figurenpaar und durch die getrennten Figuren eines Triptychons.

Das Material dieser Figur ist der Körper, der sich selbst durch von Innen kommende Bewegungen deformiert. Diese Handlung integriert Deleuze in sein Programm des Werdens: Für ihn vollziehen die in diesen Bewegungen leidenden Figuren ein Werden. Mit und in diesen Bewegungen tritt das Fleisch zutage, das „der gemeinsame Raum von Mensch und Tier“ ist. Es ist letztlich also ein Tier-Werden, das die Figuren mit dem nach außen tretenden Affekt realisieren. Dementsprechend haben diese Körper Köpfe, aber keine Gesichter – sie sind keine Subjekte. Konzentriert wird der Kopf ohne Gesicht in dem Motiv des Schreis – in Deleuze Begriffsuniversum ein Organ ohne Körper. Gleichzeitig bezeichnet Deleuze den Körper der Figur als einen organlosen Körper – ein Körper, dem der Organismus, die Organisation seiner Organe, fehlt.

Bedingung für die Sensation ist die Kraft, die auf etwas einwirken muss. Deleuze stellt allein für Bacon mindestens drei verschiedene Kräfte fest: die Kraft der Isolation, die Deformationskraft und die Auflösungskraft. Bacon entgeht der Repräsentation, der Darstellung von etwas in seiner Kunst, indem er Kräfte und ihre Wirkungen auf den Körper erspürt und festhält. Er fungiert für Deleuze so als „Detektor“. Die Figuren erscheinen als Affektzentren. Sie sind keine Subjekte, die erzählen und für etwas stehen. An diesem Punkt begegnet der Deleuze, der sich für Bacon als Künstler von Kräften, Affekten und Bewegungen interessiert, dem Deleuze, der zwei Jahre später Cinéma 1 und weitere zwei Jahre später Cinéma 2 veröffentlichen wird. Der Fluss der Bilder im Film ebenso wie die Perspektive sind für Deleuze immer unpersönlich, keinem eindeutigen Subjekt zuschreibbar. Deleuze sieht in Affekten präsubjektive Intensitäten.

Den bisher beschriebenen Begriffen der Isolierung, Körper und Kraft stellt Deleuze das Diagramm anbei: Dieses tritt in die bereits präexistenten, figurativen Gegebenheiten wie eine chaotische „Katastrophe“ ein. Auf operativer Ebene bezeichnet das Diagramm die „Gesamtheit der Striche und Flecken, Linien und Zonen“, aus denen sich die Figur, das pikturale Faktum, herauskristallisiert.

Das aus dem Diagramm hervorgehende Faktum unterläuft die Dualität von taktil und optisch in Richtung eines haptischen Auges, „eines dritten Auges“. Kunstrichtungen und Künstler können danach unterschieden werden, „wie sie dieses nicht-figurative Chaos umklammern“ – Abstraktion wie bei Piet Mondrian und abstrakter Expressionismus wie bei Jackson Pollock sind zwei Möglichkeiten. Kunst ist für Deleuze demnach ein spezielles In-Beziehung-Setzen zum Chaos. Dieser hier vertretenen Ansicht blieb er auch zehn Jahre später in Was ist die Philosophie treu, weitete sie aber aus: Er unterscheidet nun drei große Formen des Denkens ­– die Kunst, die Wissenschaft und die Philosophie – und nennt sie die drei „Chaoiden“. Deleuze hat damit andere Wahrnehmungs- und Differenzierungsbegriffe geschaffen, mit denen Kunstrichtungen und die Kunstgeschichte neu beschrieben und bewertet werden können.

Doch auf für andere Medien des Bildes wie dem Film ist eine Adaption der Sensation als sinnlich spürbare Erfassung von Kräften denkbar und auch bereits realisiert: In der 2007 erschienen Veröffentlichung Cinema and Sensation setzt Martine Beugnet sich mit der Adaption der Sensation und des haptischen Auges für die Filmtheorie und -analyse auseinander. Ganz im Zeichen der Deleuze`schen Aufforderung, sein Begriffsuniversum als Werkzeugkiste zu verstehen, untersucht sie unter anderem Filme des französischen Regisseurs Philippe Grandrieux. Diese wären ansonsten aufgrund ihrer Destabilisierung von Repräsentationsmodellen jeder verständlichen Filmanalyse entgangen. Cinema und Sensation ist nur ein Beispiel für eine Reihe von Veröffentlichungen, die sich in den 1990ern und um die Jahrtausendwende unter anderem mit der haptischen Dimension des Films auseinandergesetzt und hierfür auf Deleuze Rückgriff genommen haben. Hierzu gehören Steven Shaviro mit The Cinematic body (1993), Laura U. Marks mit The Skin of The Film (2000) und Touch (2002) und Vivian Sobchack mit The Adress of the Eye (1992) und Carnal Thoughts (2004).

Entgegen allem, das Deleuze ausführlich zu Bacon erläutert, sieht er in ihm einen „der größten Koloristen seit Van Gogh und Gauguin“. Wie im Vorwort angekündigt, laufen alle Elemente der Logik der Sensation auf die „Farbempfindung“ zu. Trotz dieser Relevanz und Kernposition, die Deleuze der Farbe im Werk von Bacon und der Ästhetik der Sensation zuspricht, widmet er ihr lediglich ein Kapitel – das Sechzehnte. Im Gesamtkonzept des Buches wirkt es leider wie eine Überleitung oder Vorbereitung der Gedanken und Thesen zum Verhältnis von „Auge und Hand“. Ebenso verwirrend und fragwürdig ist, warum Deleuze von einer Logik spricht. Die Funktionsweise der Sensation entspricht vielmehr dem eines Rhizoms, bei dem die hier vorgestellten Begriffe Ballungspunkte markieren, die untereinander unterschiedlich intensiv miteinander verbunden sind.

Deleuzes Logik der Sensation ist eine Basislektüre nicht nur für Deleuze-Interessierte, sondern auch für diejenigen, die neuere Filmtheorien und -ästhetik verstehen wollen. Das Potential der Lektüre ist sicherlich noch nicht in Gänze ausgeschöpft worden, sodass abzuwarten bleibt, wie die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Sensation in Zukunft weiterhin fruchtbar gemacht werden kann und werden wird.

Titelbild

Gilles Deleuze: Francis Bacon. Logik der Sensation.
Übersetzt aus dem Französischen von Joseph Vogl.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
150 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783770560073

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