Migration und Netzwerke

Anregungen zur Diskussion über eine Architektur der Inklusion in der Dokumentation des deutschen Pavillons zur einer Ausstellung in Venedig

Von Gesa SingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gesa Singer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Assoziationen, die sich bei dem Titel Making Heimat. Germany, Arrival Country einstellen, sind nicht unbegründet: Das Buch ist in der Tat ein Plädoyer dafür, Migranten auf würdige Weise in die Mehrheitskultur zu integrieren. Die unterschiedlichen Facetten eines solchen Ansatzes versucht die Dokumentation des deutschen Pavillons auf der 15. Internationalen Architekturausstellung in Venedig 2016 (ab Februar 2017 in Frankfurt gezeigt) auf Deutsch sowie auf Englisch abzubilden, indem sie von unterschiedlichen Perspektiven und Projekten weltweit berichtet, wie mit dem Problem der Aufnahme von Migranten und vor allem dem Problem des mangelnden Wohnraums in originellen und diskussionswürdigen Kampagnen umgegangen wird. „Der Titel der Ausstellung Making Heimat, eine bilinguale Wortschöpfung, bringt eine neue aktive Ebene in die Diskussion: Wie wird Heimat ‚geschaffen‘?“ (Peter Cachola Schmal/ Oliver Elsner/ Anna Scheuermann) Durch mehrere Interviews mit Künstlern, Architekten, Wissenschaftlern, durch Artikel, durch reichhaltiges Bildmaterial sowie einige Statistiken wird das Thema in vielen seiner Facetten auf anschauliche Weise aufbereitet. Im Wesentlichen geht es dabei um Migrantenquartiere und mögliche Wege, bei ihrer Gestaltung zu einer „Architektur der Inklusion“ (Doug Saunders) zu finden. Eine zentrale These dabei ist, dass Netzwerke in erster Linie durch eigene Landsleute geschaffen würden, die beim sozialen Aufstieg sowie der Integration behilflich seien. Einige Beschreibungen von Best-Practise runden dieses Bild ab. Schon die Kapitelüberschriften der Dokumentation lassen einige zentrale Hypothesen erkennen, zum Beispiel: „Die Arrival City ist eine Stadt in der Stadt“; „Die Arrival City ist bezahlbar“; „Integrationsmotor Arbeit“; „Die Arrival City ist selbst gebaut“; „Die Arrival City ist ein Netzwerk von Einwanderern“.

Es wird allerdings übersehen, dass es vielschichtige Gründe, Formen und Auswirkungen des Themas Migration gibt; dass in vielen Flüchtlingsquartieren von Architektur keine Rede sein kann; dass unterschiedliche Ethnien, Religionen, Moralvorstellungen aufeinander prallen und dass Privatsphäre und Schutz vor Gewalt in einigen Massenunterkünften keineswegs gegeben sind. Auch das Problem illegaler Einwanderung, Kriminalität und ideologischer Radikalisierung wird bei diesen Betrachtungen ausgeklammert.

Das Thema sozialer Wohnungsbau ist allerdings von immenser politischer, sozialer, kultureller und nicht zuletzt ökonomischer Bedeutung. Architektonisch sowie sozialpolitisch besonders bemerkenswert ist das Beispiel der Quinta Monroy in Iquique / Chile (2004), das Alejandro Aravena maßgeblich geprägt hat. Hier ging es darum, Menschen, die bis dato keinen bzw. keinen legalen Wohnraum hatten, Wohneigentum zur Verfügung zu stellen, ohne sie umzusiedeln, sondern indem man die Bewohner an der Ausgestaltung selbst beteiligte und ihnen minimalistische, halbfertige Reihenhäuser anbot.

So begannen die Bewohner nach ihrem Einzug und entsprechend ihrer finanziellen Möglichkeiten mit dem Ausbau der zweiten Haushälfte. Das dazu nötige Know-How bekamen sie in Workshops vermittelt. […] Die Aufwertung dieses halböffentlichen Nachbarschaftsraums trug dazu bei, dass sich der Wert einer Wohneinheit laut Aravena innerhalb von nur fünf Jahren bis 2009 auf zwanzigtausend US-Dollar erhöht hatte. Dies führte unweigerlich zu einer Etablierung der Bewohner vor Ort als auch in der Gesellschaft. (Peter Körner / Philipp Sturm)

Dass es notwendige Stufen im Prozess der Integration gebe, davon geht auch Walter Siebel aus, der besonders darauf hinweist, dass – vor allem im internationalen Vergleich – die Rede von Gettos in Deutschland „keineswegs gerechtfertigt“ sei.

Das ist immer noch eine theoretisch und empirisch unbegründete Zuspitzung der Situation. […] Normalität sind in Deutschland ethnisch gemischte Viertel mit einer deutschen Mehrheit. Wo die Migranten die Mehrheit bilden, was selten der Fall ist, handelt es sich um ethnisch gemischte Viertel. Die Rede von Gettos ist obendrein eine gefährliche Dramatisierung, denn solche Etiketten bleiben nicht folgenlos: Die deutsche Mittelschicht und die erfolgreichen Migranten ziehen aus derart stigmatisierten Vierteln fort. In der Folge steigt in den Schulen der Anteil von Kindern aus bildungsfernen Familien, die Kaufkraft geht zurück, das Güter- und Dienstleistungsangebot wird eingeschränkt, die Banken werden zurückhaltend bei der Kreditvergabe, Modernisierung und Instandhaltung werden unterlassen, das Gebiet verkommt auch äußerlich.

Die kritischen Implikationen dieser Thematik im aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskurs werden also nicht ausgeblendet; es überwiegt in den Beiträgen jedoch die Zuversicht und die Überzeugung, dass Integration (nicht nur die von Migranten, sondern insgesamt eine stärkere Integration unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten und Strömungen) nur mit dem konstruktiven Willen aller Beteiligten zu erreichen ist. So äußert sich Walter Siebel über die wesentlichen Aspekte der Integrationspolitik:

Integration ist ein zweiseitiger Prozess, welcher der aufnehmenden Gesellschaft wie den Zugewanderten außeralltägliche Leistungen abverlangt. Die Gesellschaft muss den Zugewanderten vergleichbare Chancen politischer, sozialer und ökonomischer Teilnahme eröffnen wie den Einheimischen. Anstrengungen aufseiten der Zuwanderer sind ebenso unabdingbar. Um eine attraktive Position auf dem Arbeitsmarkt zu ergattern, ist mehr nötig als fachliche Qualifikation und die Beherrschung der deutschen Sprache; dazu zählen zum Beispiel auch Arbeitsdisziplin und die Anerkennung weiblicher Autoritäten.

Dass die Beiträge letztlich Visionen und Utopien enthalten, die zu einem kritischen Perspektivwechsel anregen können, wird deutlich, wenn man die Geschichte der Einwanderung in Deutschland und ihre mediale Rezeption in den Blick nimmt. Einen Ausschnitt davon bietet die Übersicht einiger SPIEGEL-Titelbilder seit den 1990er Jahren. Niklas Maak wies schon im Mai 2016 darauf hin, dass die Bedingungen, unter denen Migration in Deutschland diskutiert wird, sich seit der Planung der Ausstellung bereits maßgeblich geändert haben:

Als der deutsche Beitrag geplant wurde, befand sich das Land noch mehrheitlich im Wir-schaffen-das-Zustand, die Krise galt als lösbar. Mittlerweile ist Idomeni geräumt, bei „Getto“ denken die Leute an Molenbeek, und vom deutschen Wir-schaffen-das sind, wie bei einer kaputten Leuchtreklame, nur noch die Buchstaben A, F und D übrig. So gesehen wirkt der deutsche Pavillon in seiner Offenheit und seinem erfinderischen Optimismus wie eine Erinnerung an ein anderes Land. (Niklas Maak. 28.05.2016, F.A.Z.)

Man könnte den Beitrag des deutschen Pavillons als naiv, beschönigend und verharmlosend abtun. Aber der Dokumentationsband gibt doch einen fundierten Einblick in diese facettenreiche Thematik und ihre geschichtliche Wandlung, in Lösungsansätze und Perspektiven, die im alltäglichen Diskurs und in der Berichterstattung von Problemen, Stereotypenbildung und Katastrophen rund um die Migrationsthematik oft nicht registriert werden.

Titelbild

Oliver Elser / Peter Cachola Schmal / Anne Scheuermann (Hg.): Making Heimat. Germany, Arrival Country.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern/ Ruit 2016.
304 Seiten, 9,80 EUR.
ISBN-13: 9783775741415

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