Rubine, Rotgardisten und große Ratlosigkeit

Olga Slawnikowas satirischer Roman „2017“ wagte bereits vor zehn Jahren einen prophetischen Blick in die russische Gegenwart

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Roman 2017 der russischen Journalistin und Schriftstellerin Olga Slawnikowa hat es zehn Jahre nach der russischen Originalausgabe nun endlich auch ein Buch bis zu den deutschen Lesern geschafft, das bereits in mehrere Sprachen übersetzt, im Jahr seines Erscheinens mit dem russischen Booker Preis ausgezeichnet und von der internationalen Kritik überaus positiv aufgenommen wurde. Allein als Dystopie, die man vor zehn Jahren noch mit guten Gründen in dem Roman erblicken konnte, will er nun, da das Jahr, in dem seine Handlung angesiedelt ist, angebrochen ist, nicht mehr so richtig funktionieren. Dass vieles von dem, was Slawnikowa durch genaue Beobachtung ihrer Welt in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende und rund anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion satirisch überhöht in jenes Jahr projizierte, in dem sich die Oktoberrevolution zum 100. Mal jähren würde, inzwischen längst eingetroffen ist, lässt das Buch für heutige Leser allerdings nicht weniger brisant erscheinen.

Erzählt wird in 2017 von einer Welt, in der keine humanistischen Werte mehr existieren. Empathie und Mitleid sind verschwunden, jeder kümmert sich nur noch um sein eigenes Vorwärtskommen. Während die Medien eine allgemeine „Theatralisierung des Lebens“ betreiben, verschweigen sie den Menschen das, was wirklich um sie herum – und in gewisser Weise auch mit ihnen – passiert. Zu riesigen Events aufgeblasene Schönheitswettbewerbe im Fernsehen kaschieren die Tatsache, dass niemand mehr wirkliche Schönheit zu erkennen vermag. Exzessiver Konsum lässt vergessen, dass der Einzelne längst nicht mehr frei in seinen Meinungen und seinem Tun ist, sondern sich abhängig gemacht hat von Werbung und Propaganda. An die Stelle von Originalen sind in allen Lebensbereichen schlechte Kopien getreten, die den Menschen den Blick auf ihre wahren Lebensumstände und Probleme verstellen. Und was einst, in den Tagen des Aufbruchs nach dem Verschwinden der verhassten Mangelwirtschaft, Zukunft und wachsenden Wohlstand versprach, hat inzwischen selbst wieder begonnen, abzuwirtschaften: „Vor dreißig Jahren ist das kommunistische Modell gescheitert, jetzt geht es sachte mit dem westlichen Modell bergab, mit Demokratie und Liberalismus.“

Weniamin Krylow, ein Edelsteinschleifer, ist Slawnikowas Held. Während sein Arbeitgeber, der undurchsichtige Professor Anfilogow, in den riphäischen Bergen – gemeint ist wohl der Ural , in dessen Nähe, der Anderthalbmillionenstadt Jekaterinburg, Olga Slawnikowa aufgewachsen ist – nach Diamanten gräbt, beginnt er ein Verhältnis mit der geheimnisvollen Tanja, die er bei Anfilogows Abreise kennengelernt hat. Das riskante Spiel, bei dem man sich immer wieder an einem anderen, vorher verabredeten Platz trifft und das Risiko in Kauf nimmt, sich nie mehr wiederzusehen, sollte man sich einmal verfehlen, wird gefährlich, als Krylow bemerkt, dass ihnen ein Spion auf den Fersen ist. Lässt ihn seine Exfrau beobachten? Ist der Schatten, der dem Liebespaar zuverlässig folgt, im Auftrag des Professors unterwegs, als dessen Angetraute sich Tanja am Ende des Romans herausstellt? Oder haben es Konkurrenten im illegalen Geschäft mit wertvollen Rubinen auf Krylow abgesehen?

Liebe und Verbrechen, Reales und Übersinnliches, Natur und Mensch, Geschichte und Gegenwart – Slawnikowa hat sich die ganz großen Themen für ihr viertes Prosawerk herausgesucht. In das muss man sich zunächst einmal hineinlesen, sich zurechtfinden zwischen den unterschiedlichen Figuren, ihren Handlungsmotiven und Zielen. Hier der von seiner amour fou getriebene Krylow, dort der voller Gier die steinigen Böden des menschenleeren Gebirges aufreißende Chitnik – Chitniki nennen sich die illegalen Edelsteinsucher – Anfilogow mit seinem Helfershelfer. Letztere werden aus den Bergen, in denen der Roman sie mit mystischen, dem Volksglauben entstiegenen Kräften konfrontiert, nicht zurückkehren, Opfer ihrer Gier und einer durch den Menschen vergifteten Umwelt zugleich. Und schließlich – die Existenz des einen wie die des anderen tangierend – eine Gesellschaft, in der größte Maßlosigkeit und erbärmlichste Armut miteinander konkurrieren, ein Russland, das 100 Jahre nach der Revolution vom Oktober 1917 alle in diesen Aufstand gegen das Alte eingeschriebenen Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in den Wind geschlagen hat.

Karl Marx hat, einen Gedanken Hegels aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837) aufgreifend, wonach sich alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen zweimal ereignen, 15 Jahre später formuliert, dass dies „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“ (Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 1852) geschähe. In 2017 wird aus dieser Vorstellung literarische Realität. Denn just als man sich anschickt, den 100. Revolutionsgeburtstag mit einer großen Liveshow zu feiern, wird aus dem spielerischen Aufeinanderprall von Rot- und Weißgardisten plötzlich Ernst, der nach und nach das ganze Land erfasst. Krylows Erklärung für den zunehmend blutiger werdenden Spuk ist einleuchtend:

Der Grund ist genau derselbe wie bei der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution […] Die unten wollen nicht mehr, die oben können nicht mehr. Bloß gibt es bei uns, in unserer Zeit, keine organisierten Kräfte, um diese Struktur zum Ausdruck zu bringen. Deshalb kommen die Formen von vor hundert Jahren zur Anwendung, die passen immer noch am besten.

2017 ist, bei aller Liebe seiner Autorin für groteske Szenarien – „Hunderttausende russische Bürger wollten sich verkleiden und einer der mitspielenden Seiten anschließen.“ –, satirische Reminiszenzen – „In Petersburg besetzten revolutionäre Matrosen eine Filiale des Marinemuseums, nämlich den Panzerkreuzer Aurora, und versuchten, aus dem Buggeschütz auf das feuchte Gemäuer des Winterpalastes zu ballern […].“ – und grell überzeichnete Charaktere, ein hochpolitischer Gegenwartsroman. An deutlich erkennbaren Vorbildern von Nikolai Gogol und Alexander Puschkin über das Schriftsteller-Duo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, Michail Soschtschenko und Michail Bulgakow bis hin zu aktuellen Autoren wie Wladimir Sorokin oder Viktor Jerofejew geschult, hält Olga Slawnikowa dem Russland unserer Tage einen Spiegel vor, in dem eine Gesellschaft auf ihrer verzweifelten Suche nach (Neu-)Orientierung dem verzerrten Abbild ihrer selbst begegnen kann.

Wer allerdings jene im Roman beschriebene „Kultur der Kopie ohne Original“ –  die zweite Revolution, die in den Kostümen ihres historischen Vorbilds ausgefochten wird und genauso wenig in eine humanistische Gesellschaft mündet wie ihre Vorgängerin, gehört natürlich in diesen Kontext – allein auf das Russland unserer Tage bezieht, sollte seinen Blick ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen dieses Buchs ruhig einmal über die Grenzen des Landes, in dem es spielt, hinausschweifen lassen. Dann nämlich klingen – angesichts eines von der Mehrheit der US-Amerikaner gewählten neuen Präsidenten Trump, angesichts von Brexit und Pegida, den Erfolgen von Rechtspopulisten quer durch die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hindurch und angesichts des vorausgesagten „schmutzigen“ Wahlkampfs im Bundestagswahljahr 2017 – einige 2006 niedergeschriebene Sätze Slawnikowas durchaus prophetisch auch auf die aktuelle Weltlage bezogen. Oder beunruhigt es etwa nicht, wenn man gegen Ende von 2017 das Folgende lesen kann?

Ich hasse die sogenannten einfachen Leute. Sobald es um gesellschaftliche Missstände geht, stürzt sich alles auf korrupte Beamte, auf debile Politiker. Und keiner traut sich zu sagen, dass der Idiotismus dieser Welt in erster Linie von der Masse sozialer Idioten verursacht wird. Von diesem furchtbaren globalen Passivposten.Diese Leute darf man nicht sich selbst überlassen.  Die halten sich selbst nicht aus. Das größte Geheimnis der schönen neuen Welt besteht nicht in irgendwelchen wissenschaftlichen Entdeckungen, die man auf Eis gelegt hat, sondern darin, dass der Großteil der Bevölkerung für Ökonomie und Fortschritt überhaupt nicht benötigt wird. Macht man das publik, in welcher Form auch immer, sind wir einen Meter vom Faschismus entfernt.

Titelbild

Olga Slawnikowa: 2017. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Olga Radezkaja und Christiane Körner.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016.
462 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783957573223

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