Intellektuelle „Gärstoffe“

Friedrich Vollhardt kartiert in einer Einführung Lessings intellektuelle Denkhorizonte

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der leitende Ansatzpunkt der Lessing-Forschung lag in den letzten Jahren auf anthropologischen, (religions-)philosophischen und ästhetischen Fragestellungen, verbunden mit dem Versuch, Gotthold Ephraim Lessings Texte hinsichtlich zeitgeschichtlicher Ereignisse zu kontextualisieren und so den gesellschaftlichen Wirkungswillen des Aufklärers zu verdeutlichen.

Friedrich Vollhardts Einführung in Leben und Werk Lessings in der ausgesprochen verdienstvollen Reihe „C.H. Beck Wissen“ bündelt die gegenwärtigen Akzentsetzungen im Gesamtbild Lessings in gewohnt kenntnisreicher und sehr lesenswerter Weise. Es sind vor allem folgende Gesichtspunkte, die Vollhardt ins Zentrum seiner Betrachter rückt: die Profilierung Lessings als Vertreter der europäischen Aufklärung, als Netzwerker inmitten einer Reihe gelehrter Gesprächspartner und Freunde; die polemischen Strategien und „Gärstoffe“, mit denen Lessing seine akribisch gesuchten und gefundenen Gegner in diversen gelehrten Streitereien vor einem interessierten und aufmerksamen Publikum höchst eindrucksvoll bekämpfte und deren Thesen, Meinungen und Ansätze wirkungsvoll dekonstruierte; die Aufdeckung und Rekonstruktion der gelehrten Traditionen, an denen Lessing partizipierte und die sich mit den Schreibmotiven des modernen ‚Intellektuellen‘ überlagerten; die schier unendliche Polyphonie der literarischen Formen, Streitschriften, altertumswissenschaftlichen Untersuchungen und religionsphilosophischen Abhandlungen, der die Lessing-Philologie mit den Begriffen „Pluralismus“ und „Perspektivismus“ (Hugh Barr Nisbet) zu begegnen suchte.

Mit zwingender Notwendigkeit läuft Vollhardts Einführung auf die Frage hinaus, ob es weiterhin sinnvoll ist, die Denkroutine, „Lessing als den einen, vielleicht sogar als den Repräsentanten der Aufklärung in Deutschland zu porträtieren“, beizubehalten, oder ob es nicht vielmehr geboten erscheint, das tradierte Lessing-Bild zu retuschieren und den gleichsam forschungssakrosankten Begriff der Aufklärung zu hinterfragen. Daher sei zu erklären, ob der umstrittene Begriff der Aufklärung „als Partei- und Programmname, Denkstil, Reformprozess oder Epoche verstanden wird“. Eng damit verbunden ist für Vollhardt die Frage, „wie man Lessings poetische Entwürfe und sein historisch-kritisches Argumentationsverfahren jenen kulturellen Transformationen zuordnet, die sich im 18. Jahrhundert vollzogen haben“. Wenn man bei Vollhardts überzeugender und plausibler Neu-Profilierung Lessings im Diskursrahmen der Aufklärung, die ihn zwar mit der internationalen intellektuellen ‚Avantgarde‘ verbunden sieht (mit Pierre Bayle, Voltaire, Denis Diderot, Julien Offray de La Mettrie, den Vertretern des Deismus in England et cetera), ihn gleichzeitig aber nicht jenem Idealbild des Aufklärers anverwandelt, das der Historiker Robert Darnton für die französischen und Faramerz Dabhoiwala für die englischen Zeitgenossen Lessings gezeichnet hat, einen Kritikpunkt finden möchte, so ist es die keineswegs eindeutig zu klärende Frage, inwiefern und – und vor allem – in welchem Sinne Lessing der ‚Radikalaufklärung‘ zuzuordnen wäre; eine Debatte, die Jonathan Israels wegweisende Studie zur „Radical Enlightenment“ angestoßen hat. Diesbezüglich wäre es interessant gewesen, eine weitere Stimme der deutschsprachigen Forschung zu den religionsphilosophischen Schriften Lessings (vor allem zum Wolfenbütteler Fragmentenstreit) zu vernehmen.

Unbedingt zuzustimmen ist Vollhardt darin, dass der von Lessing entwickelte, „auf Destruktion zielende Stil“, der sich bereits in den frühen ‚Rettungen‘ zeigt und bis in die theologischen Streitschriften der späten Jahre zu beobachten ist, „sich nicht mit einer heutigen Floskel als kommunikative Auseinandersetzung verharmlosen oder unter den schon etwas abgestandenen Begriff der Streitkultur fassen“ lässt. Gleichzeitig wohnt den destruktiven Tendenzen seiner Texte immer auch das konstruktive Moment der Kritik inne, das es jeder Lektüre dieser zum Teil ausgesprochen fremden ‚dekonstruktiven Textbewegungen‘ schwer macht, zu simplifizierenden Ergebnisse zu gelangen. Vollhardts Plädoyer, einen genaueren Blick auf die spezifische Textualität und Wissensorganisation der Schriften Lessings zu werfen, das Ineinander der dort verhandelten Diskurse, Theorien und Fachhorizonte möglichst umfassend zu rekonstruieren, sich vor vorschnellen ‚Entweder-Oder‘-Urteilen zu hüten (etwa zu der oft erörterten Frage nach der methodischen Beschreibung der theoretischen Schriften zwischen einer provisorisch-kritischen Ästhetik der „unordentlichen Collectanea“ und eher systempoetischen und -philosophischen Strukturen) verdient unbedingte Zustimmung. Doch auch hier könnte man mutiger argumentieren und sich nicht nur mit Vollhardt fragen, ob der Fragmentist Lessing als dissimulierender Systemtheoretiker zu entlarven ist, sondern mehr noch, ob die von Lessing bewusst inszenierte Paradoxalität eines ‚Sowohl-Als auch‘, einer ‚Denkfigur des Dritten‘ in Rechnung zu stellen ist.

Ebenfalls von fundamentaler Bedeutung ist Vollhardts Beschreibung von genetischen Beziehungen zwischen Lessings (als modern wahrgenommenem) Perspektivismus und dem „Späthumanismus der Leibniz-Ära“, die ersichtlich machen, dass Lessing die „allerdings nicht immer leicht zu haben[de]“ Wahrheit und die Suche nach ihr hochhält als die unabdingbare  Voraussetzung für Dialog, Respekt, Achtung, Menschenliebe und Toleranz. Die Suche nach der Wahrheit ist bei Lessing, so Vollhardt, vielmehr das primäre Prinzip, da diese Suche erst Toleranz und Koexistenz begründe. Dementsprechend sei die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Christentum eine intellektuelle gewesen, „die auf die Wahrheitsfrage und nicht auf neue Formen der interkulturellen Verständigung oder einfache Handlungsmaximen zielte“. Diese „Gärstoffe“ (und noch viel mehr) unter Vollhardts kundiger Anleitung wiederzuentdecken, macht diese Einführung nicht nur zu einem gegenwärtigen Lesevergnügen, sondern auch zu einem künftig unentbehrlichen Hilfsmittel nicht nur für interessierte Schüler, Studierende und Lehrende bei ihrer Erstbegegnung mit Lessing (jenseits von angelesenen fachdidaktischen Simplifizierungen und multikulturellem Routine-Geschwätz), sondern auch zu einem stets mit Gewinn zu konsultierenden Beitrag zu einer sich neu aufstellenden Lessing-Philologie.

Titelbild

Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
128 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783406688355

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