Reanimation des Engagement-Diskurses

Ein von Jürgen Brokoff, Kerstin Stüssel und Ursula Geitner herausgegebener Sammelband widmet sich der Gegenwartsliteratur

Von Natalie MoserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalie Moser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es ist keine von den geringsten Schwächen der Debatte übers Engagement, daß sie nicht auch über die Wirkung reflektiert, welche von solchen Werken ausgeübt wird, deren eigenes Formgesetz auf Wirkungszusammenhänge keine Rücksicht nimmt,“ schreibt Theodor W. Adorno in den Noten zur Literatur. Der 400 Seiten starke Sammelband Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur knüpft an diese Debatte an und reflektiert über das Verhältnis von Engagement, Gegenwart und Gegenwartsliteratur, ohne die Opposition von Form versus Inhalt in den Vordergrund zu stellen. Der Band ging aus einem internationalen Symposium hervor, das im Sommer 2013 an der Universität Bonn unter der Leitung von Jürgen Brokoff, Ursula Geitner und Kerstin Stüssel stattgefunden hatte, und eröffnet die von Hermann Korte und Ingo Stöckmann verantwortete Reihe „Literatur- und Mediengeschichte der Moderne“.

Während Adornos Revision der Frontstellung engagierte versus autonome Kunst als Prämisse des Sammelbandes bezeichnet werden kann, bildet der Begriff der Gegenwartsliteratur die Schnittmenge der überwiegend von LiteraturwissenschaftlerInnen aus dem deutschsprachigen Raum verfassten Beiträge, obwohl er erst im Untertitel des Tagungsbandes – und dort wiederum an letzter Stelle – genannt wird. Ursula Geitner nennt als Ziel der Reanimation des Engagement-Diskurses denn auch die Grundlagenreflexion der Kategorie der Gegenwartsliteratur. Geitner rekonstruiert den französischen und deutschen Theoriekontext des Engagement-Begriffs und schlägt das Konzept des Engagements als Instrument für die Beobachtung von Gegenwartsbeobachtungen, das sind die Literatur und die die Literatur beobachtende Literaturwissenschaft, vor.

Die Beiträge des Sammelbandes können in zwei Gruppen eingeteilt werden: Zum einen referieren unter anderem die Beiträge von Jürgen Brokoff, Eva-Maria Siegel und Thomas Wegmann die theoretischen Debatten zum Begriff des Engagements und rekonstruieren die Positionen von Bertolt Brecht, Jean-Paul Sartre, Adorno und Roland Barthes in historischer und systematischer Hinsicht. Mit dem Engagement-Begriff verwandte Begriffe wie ‚Tendenz‘, ‚Intention‘, ‚Pose‘ und ‚Identifikation‘ werden dabei ebenfalls berücksichtigt. Diedrich Diedrichsen beispielsweise kritisiert die konstitutive Rolle der Identifikation und ihre Priorisierung gegenüber dem Engagement in postfordistischen Arbeitswelten. Zum anderen wird die Kategorie der Gegenwartsliteratur an den Begriff der Gegenwart rückgebunden und dessen semantische Aufladung um 1800 sowie seine Favorisierung als eine Form der Negation von Tradition um 1900 nachgezeichnet. Dass auch ein Jahrhundert später, genauer im Jahr 1999, fünf Autoren mittels Negation ihrer Vorbilder – Diedrich Diedrichsen begegnet uns an dieser Stelle als personalisierte Tradition – nicht nur ihre Gegenwärtigkeit, sondern ihre Einzigartigkeit unterstreichen, legt Jörg Döring anhand der Verarbeitung von Gesprächsaufzeichnungen zum Buch Tristesse Royale (1999) – Transkriptionen einzelner Gesprächspassagen sind am Ende des Beitrags abgedruckt – dar.

Der größte Anteil der Beiträge zur Gegenwartsliteratur sind wie Dörings Beitrag Fallstudien, die schlaglichtartig Methoden und Forschungsgegenstände der Gegenwarts(literatur)forschung beleuchten. Studien zu Autoren, die wie Heinrich Heine nicht der Gegenwartsliteratur zugezählt werden können, sich allerdings in einem emphatischen Sinn ihrer Gegenwart gewidmet und engagierte zeitgenössische Literatur produziert haben, bilden eine interessante Folie für die Untersuchungen neuerer Texte wie beispielsweise Rainald Goetz’ Johann Holtrop (2012) oder Katja Lange-Müllers Böse Schafe (2000). Wer eine systematische Studie zur Epoche der Gegenwartsliteratur sucht, wird bei Silke Horstkotte fündig. Horstkotte rekonstruiert die Debatten zum Begriff der Gegenwart, die im literaturwissenschaftlichen und -kritischen Diskurs zur Kategorie der Gegenwartsliteratur fortgesetzt werden. Will man Gegenwartsliteratur nicht als Epoche denken, so Horstkotte, könne man sich am Begriff der Zeitgenossenschaft orientieren, der sowohl den Aspekt der Zeit als auch denjenigen des Raums stark macht.

Ein besonderer Verdienst des Sammelbandes ist die Berücksichtigung unterschiedlicher (Text-)Formate wie Vorlesung, Essay und Gespräch. Johannes Lehmanns Beitrag zeigt beispielsweise anhand von Robert Eduard Prutz’ Vorlesungen über Gegenwartsliteratur, dass das quasi-literarhistorische Sprechen über Gegenwartsliteratur ein Sprechen über die zeitgenössische Gegenwart impliziert und folglich als politischer Akt verstanden werden kann. Eine zweite Studie zum Format der Vorlesung legt Natalie Binczek vor, die Barthes’ theoretische Annäherung von Roman- und Vorlesungsproduktion als Reflexion auf die Modi des Gegenwartsbezugs interpretiert.

Eine schöne Pointe der Publikation ist, dass einzelne Beiträger ihren (literaturwissenschaftlichen) Einsatz beziehungsweise ihr Engagement unterstreichen: Till Dembeck fordert seine KollegInnen explizit auf, bei formalen Textanalysen Überlegungen zum Engagement beziehungsweise zum Gegenwartsbezug von Anfang an mit einzubeziehen. Anhand der Lyrik von Heine, der auch Gegenstand von Karl Heinz Bohrers Studie zu Stilistik und Engagement ist, und von derjenigen von Annette von Droste-Hülshoff zeigt Dembeck, dass die Gedichte über die Lautbarwerdung in die jeweilige Gegenwart eingreifen, indem sie nicht nur Bedeutung, sondern auch Bedeutsamkeiten oder mit Jacques Rancière eine „neue Aufteilung des Sinnlichen“ stiften. Ingo Stöckmann macht sich hingegen für eine Reflexion über die Erwartungshaltung und die Perspektiven der gegenwärtigen Gegenwartsliteraturforschung stark und liefert mit seinem Beitrag auch gleich ein Beispiel für diese Form der Metareflexion.

Thomas Hecken hingegen weist auf die juristische Aufwertung der Autonomie der Kunst beziehungsweise des ästhetischen Urteils hin, die in Abgrenzung zu engagierter, das heißt an dieser Stelle konkret inhaltsbasierter Kunst erfolgt. Er wird selbst zu einem engagierten Autor, wenn er am Ende seines Beitrags zu einem gegenwärtigen „radikalen“, will heißen: autonomen Engagement rät, das zum einen andere Arbeitsbedingungen im Literaturbetrieb fordert und zum anderen die Unterscheidung von Trivial- und Hochliteratur unterhöhlt und die Frontstellung von Form und Inhalt durchstreicht. Diese Frontstellung bildet die Ausgangslage des unmittelbar folgenden, nicht explizit engagierten Beitrags von Rudolf Stichweh. Der Soziologe stellt im Bereich der globalisierten Gegenwartskunst eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von der Form hin zum Inhalt fest und erkennt im konstitutiven Gegenwarts- beziehungsweise Weltbezug der Gegenwartskunst erste Züge einer Neukonzeptualisierung des Engagement-Begriffs.

Den Sammelband runden zwei Erzählungen der Gegenwartsautorin Kathrin Röggla ab, die insbesondere von Engagements im Sinne von Einsätzen – der widerstreitenden Parteien angesichts der Erweiterung des Frankfurter Flughafens, der Risikomanager im Falle von unprofitablen Unternehmen im Kosovo und insbesondere der Autorin während ihrer Recherchen – handeln. Rögglas Fotografie einer Industrieruine auf dem Umschlag des Sammelbandes und die letzten Worte ihrer Erzählung Beitrag zu einem kleinen Wachstumsmarathon „Grüne Wiese? Grüne Wiese!“ machen mit ihren eigenen Mitteln auf die Problematik eines unreflektierten (‚romantischen‘) Engagement- und Gegenwartsbegriffs aufmerksam und bilden damit den künstlerischen Rahmen der theoretischen Überlegungen zu Engagement und Gegenwart(sliteratur).

Titelbild

Jürgen Brokoff / Kerstin Stüssel / Ursula Geitner: Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur.
Hrsg. v. Hermann Korte und Ingo Stöckmann. Literatur- und Mediengeschichte der Moderne, Band 1.
V&R unipress, Göttingen 2016.
463 Seiten, 65,00 EUR.
ISBN-13: 9783847102564

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