Mit Gross und Tross nach Prag

Gabriele Weingartners „Geisterroman“ haucht den Zugreisenden Otto Gross und Franz Kafka neues Leben ein

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzählen“, weiß ein vom Volksmund aufgegriffenes Gedicht von Mathias Claudius über Urians Reise um die Welt aus dem Jahr 1786. Ganz so weit wie Urian hat es Klara zwar nicht gebracht, denn ihre Reise führt sie nur von Berlin nach Prag. Was aber in Gabriele Weingartners Geisterroman über ihre Zugfahrt in die tschechische Hauptstadt erzählt wird, lässt sich ohne jede Übertreibung als mindestens ebenso phantastisch bezeichnen – und Narren begegnen ihr unterwegs ebenfalls. Die allerdings entstammen nicht den Weiten des Weltenrundes, sondern der Wiener Boheme und tragen Namen wie Anton Kuh.

Die gut 60-jährige Klara, aus deren Sicht die Reise erzählt wird, ist eine zurückhaltende, vielleicht sogar etwas distanzierte Frau, deren Lebensmotto „Abstand wahren, wach mit allen Sinnen“ lautet. Sie entstammt einer intellektuellen Familie aus kaufmännischem Milieu, ist selbst Akademikerin und hat in jungen Jahren zunächst ein Studium der Kunstgeschichte begonnen und nach einiger Zeit wieder abgebrochen. Ebenso eines der Psychologie. Offenbar abgeschlossen hat sie hingegen ein Medizinstudium, auch wenn sie „nie als Ärztin praktiziert“ hat. Dafür aber ist sie heute als Neurologin in der Hirnforschung „wissenschaftlich tätig“ und publiziert populärwissenschaftliche Schriften etwa über Psychoneurale Systeme unseres Seelenlebens. Weingartner entwickelt die durchgehend interessante Figur zu einem in seiner Widersprüchlichkeit stimmigen und glaubhaften Charakter, doch wird Klara als Berlinerin wohl kaum ständig den bayrisch-österreichischen Ausdruck „Stamperl“ im Mund führen.

Zu Beginn der Reise betritt sie etwas zögerlich ein Abteil, in dem bereits ein Fremder sitzt, der sich schon bald als eigenartiger, ja sogar skurriler und obendrein recht gesprächiger Zeitgenosse erweist. Ein geradezu aus der Zeit Gefallener – und dies nicht nur wegen seines Zwickers. Der bekennende Alkoholiker stellt sich als Slavomir vor, seines Zeichens Privatgelehrter und Kafka-Spezialist, unterwegs nach Prag, um die Eröffnungsrede einer dem Literaten gewidmeten Tagung zu halten. Der fiktive Kafka-Forscher leidet ein wenig darunter, Nachbar eines weit bekannteren (und zudem noch realen) Zunftgenossen zu sein. Diesem namhaften Kafka-Spezialisten gegenüber, dem sogar die Ehre widerfährt, namentlich genannt zu werden, empfindet sich Slavomir als kleines, geradezu trübes Licht. Denn Klaras Reisegenosse mag seinen Mitmenschen zwar mit allerlei Eigenheiten auf die Nerven gehen, Selbstüberschätzung zählt allerdings nicht dazu.

Wenn Slavomir mal ein Nickerchen hält, von seinem Rückenleiden niedergestreckt wird oder aus anderen Gründen einmal schweigt, räsoniert Klara über verschiedene „Bereiche der Wirklichkeit“, ihren „unverrückbaren Kern“ und ihre „bröckelnden Ränder“. Das deutet auf die Ereignisse während eines starken, traumhaft durchlebten Schneegestöbers hin.

Oder aber sie denkt an Solveig, ihre ältere Schwester. Denn der Grund für Klaras Fahrt nach Prag ist der plötzliche und unerwartete Tod derselben, deren Leiche sie nach Berlin überführen lassen will. Denn nach einem langen Krebsleiden ist Solveig nicht etwa an diesem, sondern völlig überraschend in einer zweifelhaften Klinik an einer Schönheitsoperation gestorben. Nun kann eine Krebserkrankung zwar eine der besten Gründe dafür sein, sich für eine kosmetische Operation zu entscheiden, Solveig aber war ungeachtet ihrer Erkrankung „perfekt“ und hatte es keineswegs nötig, an sich „herumschnippeln“ zu lassen. So schweifen Klaras Gedanken immer wieder in die Vergangenheit, vor allem in die gemeinsame Kinderzeit, in der die beiden Schwestern unter Solveigs Regie gerne Hinrichtungen und andere, oft literarische Grausamkeiten nachspielten. Ihrem „Drang zu lügen“ gab Klaras Schwester schon in zartestem Alter nach, und auch später als Erwachsene ließ sie nicht davon ab, sich allerlei zusammenzuphantasieren, wobei es ihr „stets weniger auf die Denkbarkeit einer Geschichte ankam als auf deren Denkwürdigkeit“. Der vorliegende Roman könnte also glatt aus ihrer Feder stammen. Immerhin ist sie eine beliebte Autorin. Solveig, so erinnert sich die Protagonistin, war zudem schon von klein auf „permanent in Opposition“ gewesen. Als Erwachsene war sie dann stets und bis zuletzt in Sachen „Gleichberechtigung der Frauen“ unterwegs.

Klara nimmt sich zwar vor, sich „weder rachsüchtig noch humorlos“ an ihre ebenso geliebte wie gehasste, vielleicht aber vor allem beneidete Schwester zu erinnern und möchte sich daher „um keinen Preis […] gestatten, negativ über Solveig zu denken“, doch tut sie natürlich genau dies, wie schon dieser Vorsatz erahnen lässt. Ihr verletzter Blick auf Solveig sowie die nähere und etwas weitere Verwandtschaft macht den Geisterroman auch zum Familienroman. Aber neigen Familien nicht überhaupt dazu, dann und wann zumindest recht gespenstisch anzumuten? Besonderen Raum nimmt neben der Schwester die ihren Kindern gegenüber herzlos und dominant auftretende Mutter ein, die auf Klara so „abweisend und streng“, so „herrisch und beleidigt“ wirkte wie niemand sonst.

Klaras Räsonnements und Erinnerungen werden immer wieder durch Gespräche mit Slavomir unterbrochen. Mag es sich bei ihr auch um eine ebenso intellektuelle wie gebildete Frau handeln, so zeigt sich in den Unterhaltungen mit dem Gelehrten sehr schnell, dass sie literarisch nicht sehr bewandert ist. Über Kafka, den „Spezialisten für Gruselgeschichten“ weiß sie nicht viel mehr, als dass er wohl „irgendwas mit Strafkolonie“ und dann noch eine Geschichte „mit dem grässlichen Käfer“ geschrieben hat. Es dauert nicht lange, da beginnt der Gelehrte ausführlich über seinen geliebten Forschungsgegenstand zu monologisieren, ohne aber in einen langweilig-dozierenden Stil zu verfallen. Er erzählt durchaus unterhaltsam, mit manchmal geradezu witzigen Einsprengseln.

Wirkt Klaras Mitreisender Slavomir schon recht mirakulös, so wird die Zugfahrt vollends phantastisch, als die Reisenden in ein heftiges Schneegestöber geraten, was für die Jahreszeit – es ist Januar – an sich noch nichts außergewöhnliches ist. Allerdings wirkt es seltsam illuminierend, bis sie schließlich in der unwirklich und auch ein wenig unheimlich anmutenden Schneewehe feststecken. Slavomir geht in die vorderen Waggons, um dort vielleicht Näheres über die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer baldigen Weiterreise zu erfahren, fürchtet er doch, die Kafka-Konferenz zu verpassen. Wieder zurück, berichtet er schier Unglaubliches: Sie befänden sich zwar noch immer auf der Reise nach Prag, unerklärlicherweise jedoch in einem anderen Zug, der aus Wien komme. Noch unfassbarer aber ist, dass weiter vorne eine andere Jahreszeit herrscht: Hochsommer. Vor allem aber findet man sich dort in einem anderen Jahrhundert wieder. Denn man schreibt in den vorderen Waggons den 18. Juli 1917.

Slavomir weiß natürlich genau, was es mit diesem speziellen Datum auf sich hat. Es ist just der Tag, an dem Otto Gross und Kafka ganz unabhängig vom jeweils anderen in ebendiesem Zug in die tschechische Hauptstadt unterwegs waren und dabei einander zufällig in einem Abteil begegneten. Beide, die sich bis dahin wohl nur vom Hörensagen kannten, spielten während der Reise mit dem Gedanken, ein Periodikum mit dem umstürzlerischen Titel Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens zu gründen, wobei der Revoluzzer Gross zweifellos die treibende Kraft war.

Slavomir stellt der Protagonistin in Aussicht, vielleicht den Mitreisenden Gross und Kafka – und womöglich auch Mizzi Kuh, einer der Mütter von Grossʼ diversen Kindern zu begegnen, die ebenfalls samt Töchterlein Sophie mitgereist sei. Nicht nur Mutter und Tochter, auch Mizzis Bruder Anton müssten sich in dem Zug befinden. Nun hebt der gelehrte Herr an, aus seinem profunden Wissensschatz über die illustre Gesellschaft um Otto Gross zu schöpfen. Hält Slavomir recht wenig von dem „unappetitlichen“, „sich selbst stilisierenden Schnorrer und Kaffeehausliteraten“ Anton Kuh, so schneidet der sich als Matriarchatsverfechter gerierende Womanizer Otto Gross allzu gut ab. Der Psychoanalytiker und abtrünnige Freudschüler habe nicht nur „bahnbrechende Schriften“ verfasst, sondern sich auch noch erdreistet,  „so zu leben, wie er dachte“. Nun, wie er dachte, weiß man allerdings nicht wirklich. Sehr wohl hingegen, was er propagierte und wie er sich verhielt. So feministisch sich seine patriachatskritischen Schriften lesen lassen mögen, so misogyn trat er gegenüber seinen zahlreichen Geliebten auf. Hatte er mal wieder eine von ihnen geschwängert, legte er ihr gerne den Suizid nahe und drückte ihr auch noch gleich das Gift dazu in die Hand. Widerstand sie jedoch und gebar das Kind, verweigerte er strikt jegliche Unterhaltszahlung. Slavomir hantiert mit einem psychoanalytisch zu interpretierenden Zigarrenabschneider, während er berichtet, dass Grossʼ Vater, ein seinerzeit berühmter Jurist, bei dem auch Kafka Vorlesungen besuchte, forderte, junge Straftäter zu kastrieren. Sohn Otto Gross, erzählt Slavomir weiter, habe ein enges Verhältnis zu den Expressionisten gepflegt, „zu deren Maskottchen er nachgerade wurde, als ihn sein Vater eines Tages verhaften ließ“.

Auch Klara wagt sich in den vorderen Teil des Zuges, trifft dort jedoch zunächst weder auf Gross noch auf Kafka, sondern hat erst einmal eine andere Begegnung der unheimlichen Art. Denn plötzlich steht sie Veit gegenüber, dem Mann, den sie als junge, unerfahrene Frau recht unüberlegt geheiratet hatte, von dem sie sich jedoch alsbald wieder hatte scheiden lassen und von dem sie seit mehr als 30 Jahren nichts mehr gehört oder gesehen hat. Ähnlich wie Solveig nimmt es auch der unstete Archäologe, Raritätenliebhaber und -händler „mit der Wahrheit nicht genau“. Überdies ist er offenbar in dunkle Geschäfte verwickelt.

Schließlich aber gelangt Klara doch noch zu dem Abteil, in dem Gross residiert, und erkennt in ihm schnell einen bloßen „Missionar in seiner eigenen Sache“, „einen überzeitlichen Fummler“, dem es an „jedem tieferen Verständnis für Frauen“ mangelt. Der Protagonistin „gruselt“ es nicht zu Unrecht vor ihm. Allerdings war Gross realiter mit Frieda Schloffer verheiratet und nicht mit Mizzi Kuh, wie indirekt behauptet wird, wenn Anton Kuh als Grossʼ Schwager bezeichnet wird.

Auch „Kafka himself“ blickt Klara schließlich in die Augen, wechselt aber nur ein paar belanglose Worte mit ihm und bietet ihm ein Hustenbonbon an. Dennoch ist die Begegnung mit ihm das eigentliche Highlight. Die andern, Otto Gross, Mizzi Kuh und deren Bruder Anton, sind nur Beifang, und Franz Werfel, der ebenfalls einen Auftritt erhält, sowieso. Der befindet sich nämlich tatsächlich auch im Zug, was von der Forschung bisher nur vermutet wurde, nicht aber bewiesen werden konnte.

Irgendwann nimmt der Zug wieder Fahrt auf und gegen Ende der Romans laufen Gross und die seinen auf dem Bahnhof des heutigen Prag herum, während Klaras Zeitgenossen auf ihren iPhones herumtippen. Dann aber sehen sich die Lesenden unversehens wieder in den Zug zurückversetzt. Eine genaue Lektüre lässt allerdings kenntlich werden, dass Klara sich noch einmal zurückerinnert.

Weingartner strickt allerlei Querverbindungen zwischen den historischen Figuren und den Familienmitgliedern ihrer Protagonistin. So sind Klara und ihre Schwester ebenso Mutter-Opfer, wie Gross und Kafka „Vater-Opfer“ sind. Auch führt Solveig stets „Reden gegen dem Machtwillen“, was auffällig mit dem Anliegen der von Grossʼ geplanten Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens korrespondiert. Die Autorin hat bis in die Nebenfiguren hinein interessante Charaktere geschaffen, mit denen sie – ebenso wie mit den Lesenden – manch lustiges Spielchen treibt. Etwa wenn sie die in kulturellen Dingen ziemlich unbeleckte Protagonistin fragen lässt, wer Fafner sei, während ihr Verflossener gerade ein „Riesen“ in den Zug hievt. Oder sie lässt eine „Dame in grünem Kostüm und offenem braunem Mantel“ ausgiebig in einem Reclam-Heft lesen. Auch hat Weingartner allerlei Zitate von hier und dort zusammengeklaubt und teils recht unauffällig eingebaut. Selbst die Bundeskanzlerin darf sich, wie es ihre Art ist, mit einer Allerweltssentenz zu Wort melden. So ist der Autorin ein unterhaltsam-amüsanter Roman gelungen, dessen Feinheiten allerdings wohl diejenigen unter den Lesenden besonders goutieren können, die der Protagonistin voraus haben, dass ihnen Gross und sein Tross schon vor Antritt der Reise keine Unbekannten sind.

Titelbild

Gabriele Weingartner: Geisterroman. Roman.
Limbus Verlag, Innsbruck 2016.
254 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783990390856

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