So nahe sind wir China jetzt

Zur Festschrift für die Sinologin Mechthild Leutner

Von Astrid LipinskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Astrid Lipinsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die von Katja Levy herausgegebene Festschrift für Mechthild Leutner mit dem Titel Geschichte und Gesellschaft des modernen China. Kritik – Empirie – Theorie ist ein gedrucktes Abbild des internationalen Charakters der modernen Chinawissenschaften respektive der Sinologie des modernen China in Deutschland heute. Konkret greifbar wird es in der Vereinigung von Asiatischem (10 Aufsätze in chinesischen Zeichen) und Westlichem (13 englisch- und deutschsprachige Aufsätze) unter einem – deutschsprachigen – Buchcover.

Gleichzeitig mit der Multilingualität kommt jedoch auch der schwindende Verlust des Deutschen als Wissenschaftssprache zum Ausdruck: 7 englischsprachigen stehen 6 deutsche Aufsätze gegenüber. Das Buch ist insofern auch Beleg der derzeitigen offensichtlichen Notwendigkeit, als junger deutscher (Jens Damm, Hajo Frölich) oder schweizer (Susanne Kuß) Sinologe englisch zu schreiben: Um gehört zu werden? Weil es in der akademischen Welt angesehener ist?

Lediglich die ältere Generation, diejenigen, die mit Mechthild Leutner studiert haben, schreiben für die Festschrift auf Deutsch (Bettina Gransow, Paul Unschuld oder Susanne Weigelin-Schwiedrzik).

So schön die Sprachenvielfalt auch ist: Beschränkt das nicht den Leserkreis auf ein paar Fachbibliotheken und einige wenige trainierte Sinologen? Nicht mehr: Da sind die Alten von heute, die als Kinder von Missionaren und Leitern von Firmenzweigstellen ihre Kindheit in China verbrachten und zunehmend junge Nichtsinologen, Künstler, Jungunternehmer oder Journalisten, die sich in China niederlassen und auch die Sprache lernen.

Das Buch ist nicht nur Ausdruck der sprachlichen Vielfalt des Orchideenfachs Sinologie, sondern auch der thematischen Breite, zu der ein Fach ohne Methode zwingt – weil man sich nämlich die Methode anderswo holt. Oder der Beleg der universal interessierten ersten Nachkriegs-Generation von ChinawissenschaftlerInnen mit ersten China-Aufenthalten in den 1970er-Jahren noch während der Kulturrevolution (1966–76) und vor Beginn der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik. Mechthild Leutner beispielsweise war 1974 bis 1975 mit Förderung des DAAD in China. Seit Mitte der 1990er-Jahre lehrt sie ehrenhalber als Gastprofessorin an verschiedenen chinesischen Universitäten und ist der lebendige Beweis der langfristigen Nachhaltigkeit von DAAD-Stipendien. Beweis der China-Kontakte in Form einer tiefgehenden Verbindung sind auch die chinesischen Übersetzungen ihrer Werke.

Und was findet sich im Buch? Es beginnt mit  vier chinesischen „Würdigungen“, in denen wiederum Chinas erste und berühmteste Feministin Li Xiaojiang den Anfang macht. Mechthild Leutner war mitverantwortlich dafür, dass zumindest ein Teil ihrer Schriften im Umfeld und zur Vorbereitung der Vierten Weltfrauenkonferenz in Beijing 1995 ins Deutsche übersetzt wurde. Der akademische Austausch entwickelt sich seit über zehn Jahren kontinuierlich weiter. Noch im November 2014 war Li Xiaojiang auf Einladung des dortigen Konfuziusinstituts in Berlin, das Mechthild Leutner seit 2006 leitet und wo sie immer wieder, und über ihre Pensionierung an der FU Berlin zum September 2014 hinaus, frauenspezifische Veranstaltungen organisiert. In ihrem Beitrag bringt Li Xiaojiang den postkolonialen Feminismus in Verbindung mit einem weiteren Forschungsschwerpunkt von Mechthild Leutner, nämlich den deutsch-chinesischen Beziehungen vor allem zu Zeiten der deutschen Kolonialherrschaft in China. Eine weitere Würdigung kommt aus der (chinesischen) chinesisch-deutschen Historikervereinigung und Forschung zu eben diesem Thema. Der Autor hat in Deutschland promoviert – die tabula gratulatoria hat eine Mehrzahl deutscher, vorwiegend Berliner Einträge (61). Den zweiten großen Schwerpunkt der Gratulanten bildet Beijing, und deshalb bietet die tabula gratulatoria auch einen guten Einblick in die Forschungsschwerpunkte von Mechthild Leutner.

In einer Festschrift bringen die Autoren üblicherweise ihre jeweiligen Hauptinteressen unter, oder Aufsätze, für die sie bisher keinen anderen Ort fanden. Entsprechend allumfassend wurde der Buchtitel gewählt – und auch die vier auf 400 Seiten folgenden Kapitel verdeutlichen dies: „Sinologie, Chinastudien und Sinologen“, „Gender“, „China und die Welt“ und „Politik, Recht und Gesellschaft“. Sogar im „Gender“-Kapitel findet sich ein eher linguistischer Aufsatz („Women and History via English Words“), der genauso gut ins vorangehende Kapitel wie auch zu „Zur Klassifikation von englischsprachigen Lehnwörtern im Chinesischen“ ebendort gepasst hätte.

Von vorne nach hinten lässt sich deshalb dieses Buch nicht lesen und wird es wird auch kaum Leser geben, die dies vorhaben. Eher kann man anhand der eigenen inhaltlichen Interessen suchen und wird überrascht feststellen, dass man fündig wird zu so peripheren und weit auseinanderliegenden Themen wie der chinesischen Medizin (Paul Unschuld), dem chinesischen Verfassungsrecht (Georg Gesk) oder LGBT in Taiwan (Jens Damm). Oder man sucht anhand von Namen bekannter Sinologen – und wird erneut fündig: etwa bei William C. Kirby (wartime China) oder Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Geschichtsschreibung in Ostasien und Europa).

Was das Buch braucht? Einen Bibliotheks-Standplatz mit einem Verzeichnis aller darin enthaltenen Aufsätze mit Titeln und Stichworten sowie eine Einzelkatalogisierung der Beiträge. Es sei denn, jemand verfasst die Geschichte der deutschen Sinologie seit den 1960er-Jahren. Dann wäre Mechthild Leutner sicher ein gutes Beispiel. Die Festschrift vermittelt einen auf jeden Fall einen guten Ein- und Überblick in ihre inzwischen 50-jährige (seit 1967) sinologische Tätigkeit.

Titelbild

Katja Levy (Hg.): Geschichte und Gesellschaft des modernen China. Kritik – Empirie – Theorie.
Festschrift für Mechthild Leutner.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
469 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783631671146

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