„Endlich bleibt nicht ewig aus“

Reiner Bölhoff bringt den ganzen Günther in kritischer Gestalt

Von Andreas SolbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Solbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der schlesische Barockdichter Johann Christian Günther 1719 nach zwei Jahren in Leipzig und der schließlich gescheiterten Bewerbung als Amanuensis des Dresdner Hofpoeten Johann von Besser Sachsen verließ und in die schlesische Heimat zurückwanderte, lagen sein Leben und seine Karriere in Trümmern. Der hochbegabte Medizinstudent hatte schon in jungen Jahren von Ruhm und Ehre als Dichter geträumt, und seine jugendlichen Versuche in der „Poeterey“ hatten auch die Berechtigung dieser Hoffnungen belegt. Ein Gönner hatte dem Knaben den Schulbesuch in Schweidnitz ermöglicht, wo der dichtende Pfarrer Benjamin Schmolcke praktisches Vorbild und die Schulmeister Leubscher und Scharff Unterstützer und Anreger waren. Bei ihnen wurde sein Talent – nicht nur in lateinischer Komposition – gefördert, aber wichtiger noch, sie verschafften ihm Zugang zu den Bücherschätzen der Schweidnitzer gelehrten Bürgerfamilien.

Der Eleve wusste seine Fähigkeiten zu entwickeln, und als er 1715 nach Wittenberg zum Studium ging, tat er es wohl schon in dem Selbstbewusstsein, ein vielversprechender Dichter zu sein. Wittenberg war zu jener Zeit für zwei Dinge bekannt: Zum einen war es, da Schlesien keine eigene Universität hatte, der beliebteste Ausbildungsort für Theologen, jedoch ohne bedeutende Leistungen jenseits einer markanten lutherischen Orthodoxie aufweisen zu können. Zum anderen war die Universität wegen ihrer niedrigen Kosten gerade bei unbemittelten Studenten beliebt und, ähnlich wie Halle, für ihre rauen studentischen Unsitten berüchtigt. Günther besaß eine sichere und flinke Auffassungsgabe, er hatte ein Gespür für Witz und Effekte, und er beherrschte die rhetorischen Vorschriften für die nachgefragten Gattungen der Gelegenheitsdichtungen, so dass er sich auch über das studentische Milieu hinaus beweisen konnte. Seine Begabung war offenbar, und Grund für seinen ersten und letztlich wohl auch entscheidenden Fehler, denn sie verleitete ihn, sich die Würde eines „poeta laureatus Caesareus“, eines gekrönten Dichters also, zu kaufen. Diese einstmals sehr geschätzte Auszeichnung, die noch im 17. Jahrhundert durchaus auch praktische Vorteile verschaffen konnte, war allerdings zu Günthers Zeiten fast zu einer Demonstration der Eitelkeit herabgesunken, hatte aber ihren Preis – und der war zu hoch für Günther. Die Kosten, nicht zuletzt diejenigen für den großen Dichterschmaus zum Abschluss der Zeremonie, überstiegen seine finanziellen Möglichkeiten bei weitem; es begann eine Schuldenspirale, aus der er sich trotz Schuldhaft und der Hilfe von Freunden und Gönnern niemals mehr befreien konnte. Sehr viel einschneidender war jedoch die nahezu schlagartige Zerstörung des Verhältnisses zum Vater in Striegau, der sich selbst als Arzt nur kümmerlich über die Runden brachte und sich strikt ablehnend zu den dichterischen Plänen seines Sohnes verhielt. So strikt, wie es wohl auch Günther nicht erwartet hätte: der Vater brach später jeglichen Verkehr mit ihm ab und überlieferte ihn damit nicht nur der äußersten Mittellosigkeit, sondern zerstörte auch durch seine Weigerung, sich mit ihm zu versöhnen, die einzige reale Lebenschance Günthers. Doch das lag noch in der Zukunft. In Wittenberg gab der 24-jährige Medizinstudent seiner Poeteneitelkeit nach und investierte Geld, das er unvorteilhafterweise gar nicht besaß, in einen obsoleten Titel, von dem er vielleicht irrtümlich annahm, dass er ihm bei seiner dichterischen Karriere nützlich sein würde. Tatsächlich waren die unerfreulichen Konsequenzen, Unterbrechung des Studiums und Schuldhaft, sehr viel negativer: Günther verlor Teil seiner persönlichen Reputation und bekräftigte noch aus seiner Schweidnitzer Schulzeit herrührende Zweifel an seinem moralischen Charakter, die sich ursprünglich auf Auseinandersetzungen mit dem Juristen Theodor Krause zurückführen ließen. Diesem satirischen Drang konnte und wollte Günther wohl nicht widerstehen, und auch daraus sollte ihm in der Zukunft zusätzliches Leid erwachsen. Aber noch bestand sein selbstbewusster Plan, einen mächtigen und solventen Mäzen zu finden, der seine Dichterkarriere zehn Jahre unterstützen sollte, die er für den Durchbruch für angemessen hielt, unverändert fort, und er lehnte es ab, pragmatische Kompromisse zugunsten einer halbwegs sicheren Lebensplanung zu machen.

Stattdessen ging er nach Leipzig, wo er zahlreiche Schulfreunde wiedertraf und in Johann Burkhard Mencke einen einflussreichen Gönner fand. Leipzig war für Günther zweifellos ein passenderes Pflaster als das dagegen stark abfallende Wittenberg. Die traditionell selbstbewusste und leistungsstarke Stadt besaß mit ihrer Universität eine in frühaufklärerischer Tradition stehende Bildungsanstalt, an der zahlreiche renommierte Gelehrte tätig waren und die zehn Jahre nach Günthers Weggang zur führenden Institution der Aufklärung werden sollte. Neben dem regen Handel und den wichtigen Messen hatte die Stadt eine bemerkenswerte Tradition im Bereich der Liedkultur und bot mancherlei Möglichkeiten für aufstrebende Talente wie Günther. Dessen eingeschränkte Perspektive auf eine mäzenatisch geförderte Dichterexistenz gehörte allerdings nicht dazu, denn dieses Modell dürfte in der Bürgermetropole an der Pleisse nur wenig Gegenliebe gefunden haben. So lange Günther es nicht über sich bringen konnte, die Voraussetzungen für einen auskömmlichen Brotberuf zu schaffen und eine Position in der Gesellschaft einzunehmen, musste alle Protektion im Sande verlaufen.

Es dauerte schließlich ein Jahr, bis er sich an der Universität einschrieb, und während seiner ganzen Leipziger Zeit schlug er sich als Verfasser von Gelegenheitsgedichten durch, sicher auch mit der Unterstützung seiner Freunde und Gönner. Dabei entwickelte er sein Ausdrucksrepertoire in Richtung auf die kurze Zeit später so beliebt werdende Anakreontik, und seine Produktionen profitierten von den eigenen literarischen Studien und dem Einfluss der Leipziger Liedtradition, die er sich wie ein halbes Jahrhundert später Goethe ganz eigenständig aneignete. Seine Freundschaftsgedichte und vor allem die galanten und Liebesgedichte zeigen deutliche Spuren dieser Entwicklung. Nur zu einem zeitweisen Teilverzicht auf dichterische Betätigung konnte er sich zu keiner Zeit entscheiden.

Endlich schien mit der Möglichkeit, am Dresdner Hof eine Stelle bei dem Hofpoeten Besser zu bekleiden, die Leidenszeit an ein Ende gekommen zu sein; seine in Sachsen und Leipzig Aufmerksamkeit erregende Eugen-Ode, die am Wiener Hof, für den sie eigentlich gedacht war, kommentar- und wirkungslos blieb, konnte ihn in der sächsischen Residenz empfehlen, doch bei der entscheidenden Audienz versagte Günther. Er sei betrunken gewesen sagten die einen, Gegner hätten ihm ein Mittel in den Wein gemischt die anderen. Günther war nach der Niederlage nicht am Ende, aber er war zutiefst erschüttert, und wieder machte er einen – menschlich verständlichen – Fehler: statt dort zu bleiben, wo er noch am ehesten mit Hilfe rechnen konnte und Raum war, sich zu sammeln, reiste er nach Schlesien in die Heimat, er wich aus, er suchte und brauchte in jeder Hinsicht Bestätigung. Er wusste, dass er mit 24 Jahren nur wenig vorzuweisen hatte, keinen Universitätsabschluss und keine praktische Berufserfahrung, aber auch keine Publikationen, die ihn in der Respublica litteraria als humanistischen Gelehrten ausweisen könnten. Seine Gedichte kursierten in Handschriften und nur wenigen Einzeldrucken, und auch später verliefen die Bemühungen, eine Sammelausgabe zu veranstalten, im Sande. Den steinigen Weg ins Informatorenamt wollte oder konnte er nicht gehen, möglicherweise war seine persönliche Reputation schon zu beschädigt, und so blieb allen Beteiligten ein frühes Hofmeisterdrama erspart.

Günther ging nach Schlesien, weil er dort drei Anknüpfungspunkte hatte: die Familie, seine frühere Geliebte Leonore Jachmann und seine Schul- und Studienfreunde, in deren Familien er tatsächlich auch für längere Zeit Unterschlupf und Unterstützung fand. Auch die Schweidnitzer Leonore fand er wieder, aber es wurde schnell deutlich, dass aus zwei abhängigen und verarmten Existenzen keine erfolgversprechende Zukunftsperspektive zu schmieden war. Trotz bestehen gebliebener gegenseitiger Neigung mussten beide schnell die Unmöglichkeit ihrer Verbindung einsehen. Am härtesten erfuhr Günther jedoch die auch weiterhin unveränderte Ablehnung des Vaters, der ihn nicht vorließ. Eben so wenig wie Günther jemals in der Lage war, seine Wunschprojektion als mäzenatisch unterstützter Dichter aufzugeben, eben so wenig konnte er die Unversöhnlichkeit seines Vaters akzeptieren. Es liegt nahe, hier einen psychologischen Zusammenhang zu sehen, der, wie manches andere Detail seiner Vita, die Romanbiographien befeuert, Belastbares dazu gibt es jenseits der Gedichte allerdings nicht.

Mit der Wende von 1719 begann dann allerdings auch die Hochphase seiner dichterischen Produktion, etwa die Hälfte seines gesamten Werks entstand in den folgenden vier Jahren: neben die andauernde Verfertigung von Freundschafts-, Lob- und Glückwunschgedichten, den Hochzeitsgedichten und Leichencarmina, den Promotionsgedichten und Studentenliedern trat eine in Ton und Umfang intensivierte Beschäftigung mit Liebesgedichten, die in oft großer Nähe zu den immer wichtiger werdenden Klage-, Trost-, Buß- und Rechtfertigungsgedichten stehen. Klagegedichte hat es seit den Letzten Gedancken von 1718 anlässlich einer Erkrankung des Dichters gegeben. Das Alte Testament stellte mit den Klageliedern Jeremias und dem Buch Hiob dabei ebenso wirkungsreiche Vorbilder wie die Antike mit Ovids Tristia. Opitz, Gryphius und vor allem Fleming dürften weitere Anregungen gegeben haben, und in einem erweiterten Sinne lassen sich sogar Günthers Satiren als (An)Klagen verstehen. Es ist dabei von großer Bedeutung, die vielfältigen Quellen und rhetorischen Muster für diese Gedichtart im Auge zu behalten, denn an den Klage- und Rechtfertigungsgedichten will man gerne einen frühen Ton subjektiver Betroffenheit im Sinne der Erlebnislyrik erkannt haben.

Mit Günthers Rückkehr nach Schlesien begann dann die Phase der großen Klagegedichte, die bis heute seinen Ruf und seine literarischen Glanzleistungen ausmachen. Letzte Bemühungen um eine bürgerliche Karriere scheiterten am Vater, ein Lobgedicht an den Grafen von Sporck blieb wirkungslos. Auf der Weiterreise starb er in Jena im März 1723, wahrscheinlich an Tuberkulose.

Während seines Lebens weitgehend unbekannt, wurde Günther nach seinem Tode dann schnell berühmt, weil sich Gottfried Fessel, nicht ohne Eigennutz, um die Gedichte kümmerte und sie in vier Sammlungen zwischen 1724 und 1735 (Ausgaben A–D) veröffentlichte. Bereits der erste Band umfasste mehr als 500 Seiten, und auch der Folgeband 1725 brachte noch einmal 250 Seiten mit neuem Material. Angesichts der offenkundig einfach zu beschaffenden Menge der Texte stellt sich doch die Frage, warum Günther in den vorangegangenen Jahren keine erkennbaren Anstrengungen unternommen hatte, um sich durch eine Auswahl seiner poetischen Werke einem breiteren Publikum bekannt zu machen und zu empfehlen. Fast alle Autoren des 17. und frühen 18. Jahrhunderts sind so verfahren, und es ist angesichts seiner finanziellen Umstände umso unbegreiflicher, dass er die Möglichkeiten der Verlagsmetropole Leipzig und seiner Gönner ungenutzt ließ.

Fessel zumindest reagierte schnell und brachte fast 1600 Seiten Lyrik zum Druck, die er dann in der ersten großen Sammelausgabe, ebenfalls von 1735 (Ausgabe G1), auf 1100 Seiten zusammenfasste. Die Folgeauflagen G2–G5 (1739–1751) wurden durch Beigaben und Nachträge zusätzlich vermehrt, bis auf ihrer Grundlage Benjamin Straube 1764 eine neue Bearbeitung vorlegte. Allerdings begann schon 1742 eine bis in die Gegenwart reichende Tradition von Nachträgen mit der Nachlese von Arletius. Im 20. Jahrhundert versuchte Wilhelm Krämer eine sechsbändige kritische Gesamtausgabe (1930–1937, Neudruck 1964), die, bei aller Hochachtung vor der Arbeit und den Intentionen des Herausgebers, weder kritisch noch vollständig ist. Nach dem Krieg dauerte es einige Jahrzehnte, bis die Verluste an Textzeugen und die erhaltenen Quellen erfasst waren, und die Teilsammlungen, die erschienen, unter anderem Dahlkes populäre DDR-Ausgabe in der Bibliothek Deutscher Klassiker 1957, Manfred Windfuhrs schmale Reclam-Ausgabe 1961 und Herbert Heckmanns Auswahl von 1981, gingen allesamt auf Krämers Ausgabe, die 1964 nachgedruckt wurde, zurück. Erst mit den bibliographischen, editorischen und biographischen Forschungen von Reiner Bölhoff, in 3 Bänden 1980 bis 1983 zusammengeführt, begann die neuere wissenschaftliche Beschäftigung mit Johann Christian Günther. Sein persönliches und wissenschaftliches Engagement ist für die Günther-Forschung speziell, aber auch für die germanistische Literaturgeschichte insgesamt ein ungeheurer Glücksfall. Seiner Bekanntschaft mit dem nach 1945 völlig isoliert in Dänemark lebenden Wilhelm Krämer verdanken wir nicht nur zahlreiche Quellendokumente, die sich in seinem Besitz befanden, sondern auch die Fußnoten und Nachweise zu Krämers Günther-Biographie, die zunächst ohne diesen absolut unerlässlichen Apparat veröffentlicht wurde. Erst mit der Veröffentlichung der vollständigen Biographie konnten Krämers Aussagen und Behauptungen nachvollzogen – und kritisch abgewogen werden.

Den größten Dienst leistete er aber der Günther-Forschung und der Germanistik mit der Ausgabe der Werke 1998 im Klassiker Verlag. Diese Ausgabe umfasst etwa 40 Prozent aller bekannten Texte, die in vorzüglicher Kommentierung für ein nicht-wissenschaftliches Publikum vorgelegt wurden, und die damit erstmals kritisch durchgesehene, aber nicht nach wissenschaftlichen Kriterien abgedruckte Texte – das verhinderten die editorischen Richtlinien des Verlags – präsentierte. Es ist in aller Regel diese Ausgabe, die für den ersten Kontakt mit Günther sorgt, und durch ihre für das breitere Publikum gedachte Kommentierung sowie die vorzüglichen einführenden und biographischen Abschnitte wird sie vor allem an den Universitäten auch die wohl am meisten benutzte Ausgabe bleiben.

An dieser Stelle sind die Bände I, 1-2 und II, 1-2 bereits besprochen worden, es gilt demnach nur noch, die mittlerweile die Ausgabe komplettierenden Bände anzuzeigen und zu würdigen. Die Notwendigkeit einer erstmals wirklich kritischen Ausgabe liegt dabei auf der Hand, denn weder Krämers Ausgabe noch Bölhoffs Ausgabe im Klassiker-Verlag präsentierten einen tatsächlich kritischen Text. Gleichzeitig blieben auch nach Krämers Ausgabe noch viele Texte ungedruckt, teils, weil Krämer sie einfach ausgeschlossen hatte, teils, weil es Neufunde waren. In der jetzt vollständigen Ausgabe liegen nun erstmals alle Texte in kritischer Form vor. Dass das möglich wurde – und das von nur einem Herausgeber – ist bewundernswert und setzt eine lebenslange intensive Auseinandersetzung mit dem Autor und seinem Werk voraus. Hilfreich war sicherlich auch, dass es keinen fotomechanischen Neudruck, etwa den der Straube-Ausgabe von 1764, gab. Die Nachdruck-Bände beispielsweise von Trunz‘ Opitz-Ausgabe sind noch heute in lebhaftem Gebrauch, obwohl sie durch die kritische Ausgabe von Schulz obsolet geworden sind. Einen Zwischenschritt wie die erste Bölhoff-Ausgabe hatte es nicht gegeben, die Reclam-Ausgabe kann als solcher nicht gelten. Auch bei Opitz werden viele Leser und Forscher für ihre konkrete Arbeit oft auf die viel einfacher erreichbaren Trunz-Nachdrucke mit ihren wertvollen Kontextualisierungen zurückgreifen und erst in einem zweiten Schritt die kritische Ausgabe gegenlesen. Bölhoffs Abstinenz in Betreff des Anmerkungsapparats hat aber sicher auch technische Gründe, denn eine ausführlichere Kommentierung hätte nicht nur die Umfänge der Bände erheblich verstärkt, sondern auch zu einer zeitlichen Streckung geführt, die jetzt vermieden werden konnte. Zudem könnten Urheberrechtsgründe die Verwendung des Kommentars der Klassiker Verlags-Ausgabe eingeschränkt haben.

Bölhoff folgt bei seiner älteren Ausgabe einem gattungsbestimmten Ordnungs- und Strukturprinzip, indem er zunächst einmal Krämers der Tradition folgende Gattungseinteilung zum Ausgangspunkt nimmt; Krämer kennt Liebesgedichte und Studentenlieder (Bd. 1), Klagelieder und geistliche Gedichte (Bd. 2), Freundschaftsgedichte und -Briefe (Bd. 3), Lob- und Strafschriften (Bd. 4) und Gelegenheitsdichtungen (Bd. 5 u. 6), die er dann in jedem Band zeitlich anordnet. Auf diese Art und Weise entsteht eine Ansicht der „Gattungsgeschichte“ der jeweiligen (Sub-)Gattungen im Werk des Autors. Dieses Modell modifiziert Bölhoff dadurch, dass er nicht die Gattungen, sondern die grundlegenden biographischen Entwicklungsphasen in den Vordergrund stellt: Dichtungen der Schuljahre 1710–1715 (Bd. 1), Dichtungen der Universitätsjahre 1715–1719 (Bd. 2), Dichtungen der ersten Wanderjahre 1719–1721 (Bd. 3) und Dichtungen der letzten Wanderjahre 1721–1723 (Bd. 4). Angesichts der vielen, nicht immer befriedigend zu lösenden Datierungsfragen, bei denen Bölhoff nicht selten zu begründeteren Festlegungen als Krämer kommt, handelt es sich bei den zeitlich relativ kurzen Abschnitten oft um nur ungefähre Annahmen, die jedoch immer mit nachvollziehbaren Gründen erfolgen. Gleichzeitig aber modifiziert Bölhoff auch das Gattungsraster durch Differenzierung und Umetikettierung. Durch alle Bände hindurch verfolgt er eine Trennung in die Abteilungen Religiöse Dichtungen, Dichtungen der Respublica litteraria und Erotische Dichtungen. Band 1 bringt außerhalb dieser Abteilungen noch das Theodosius-Drama, Band 3 und 4 versammeln Notizen und Entwürfe aus den wenigen überlieferten Taschenbüchern des Autors. Band 1 bis 3 führen unter den religiösen Gedichten Leichencarmina, geistliche Gedichte und – außer in Band 1 – Klagegedichte. Band 4 führt neben den Leichencarmina Auftragsübersetzungen aus Louis Isaac Lemaitre de Sacy, Bibelparaphrasen und Devisen-Gedichte sowie Klage-, Trost-, Buß- und Rechtfertigungsgedichte. Unter der etwas ungewöhnlichen Bezeichnung Dichtungen der Respublica litteraria führt Band 1 Lob- und Glückwunschgedichte, Geleit-Gedichte und Freundschaftsgedichte, was in Band 2 um die Gattungen Satiren, Studentenlieder und poetologische Gedichte erweitert wird. Band 3 ersetzt die poetologischen Gedichte durch die Verteidigungsschrift gegen den Magister Fritsche, dessen Satire im Kommentarband abgedruckt ist, und Band 4 führt dann wieder die poetologischen Gedichte ein, die um Prosa-Briefe ergänzt werden. Alle Bände führen unter der Abteilung Erotische Dichtungen Hochzeitsgedichte – außer Band 3 – sowie galante und verliebte Gedichte.

Alle Bände sind mit einem Kommentarband versehen, während Band 1 zusätzlich eine knappe Einführung zu Leben, Werk und Edition bietet, zudem ausführlich über die Einzel- und Sammelhandschriften, die gedruckten Textzeugen und die Textverbreitung berichtet. Der textkritische Apparat folgt der jeweiligen Bandstruktur und bringt Infos zur Überlieferung des Textes, zur Datierung, Verbreitung, zu den Varianten und sehr knappe Texterläuterungen. Band 4 beinhaltet dann auch eine Liste der Gedichtanfänge für alle Bände. Bölhoff konnte bei seiner Edition dabei auf viele Ergebnisse seiner 3-bändigen großen Bibliographie zurückgreifen, was sicherlich den logistischen Aufwand erleichtert hat und für für vergleichbare Editionsprojekte geradezu rasante Veröffentlichungsfolge sorgte.

Doch die Ausgabe bringt als Band 5 zusätzlich noch eine Quellendokumentation in zwei Teilbänden: als Band V,1 die vorliegenden Handschriften mit Transkriptionen und V,2 einen Abdruck der 35 erhaltenen Gelegenheitsdrucke. Beide Bände sind zur besseren Lesbarkeit in einem etwas größeren Format gedruckt, wobei die drucktechnische Qualität von besonderer Güte ist.

Diese 5-bändige, in 10 Teilbänden erscheinende Ausgabe ist in jeder Hinsicht ein Meilenstein der Günther-Forschung: kritisch, so weit wie heute möglich komplett und sachkundig ediert wird sie für sehr lange Zeit das unverzichtbare Instrument für die Günther-Forschung sein. Ihre bislang unerreichte Textpräsentation wird sicher nicht zu einem neuen Günther-Bild führen, aber sie macht erstmals den Gesamtbestand in chronologischer Ordnung sichtbar, ohne dass auf das Ordnungsprinzip nach Gattungen ganz verzichtet werden müsste. Man mag sich streiten, ob es alternative Möglichkeiten für die Zuordnung der Gattungen gegeben hätte, so wäre etwa eine Abteilung Gelegenheitsdichtung geeignet gewesen, die weit überwiegende Zahl der Texte Günthers als dorthin gehörig auszuweisen, denn die Respublica litteraria ist letztlich keine eingeführte Obergattung, um so klassisch okkasionalistische Textsorten wie die Lob- und Glückwunschgedichte und die Promotions- und Geleitgedichte zu versammeln. Die Briefe Günthers in Band 4 hätten schließlich eine eigene Ordnungskategorie in der Nähe der Taschenbücher verdient, ebenso wie die Klage- und Rechtfertigungsgedichte, die unter dem Rubrum Religiöse Dichtungen nur mit Not unterkommen. Das sind aber nur unbedeutende Anmerkungen angesichts der Herkulesarbeit, die Bölhoff hier geleistet hat und für die wir dankbar sein sollten.

Wer also rund 1400 Euro im Portefeuille für Anschaffungen dieser Art hat, kann sie hier gut anlegen, und macht dabei sogar noch ein Schnäppchen, denn bei Bandpreisen von 339 Euro für Schnitzlers Leutnant Gustl und 549 Euro für Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald muss der geneigte Interessent prospektiv mindestens 12000 Euro für den kompletten Horváth in vielleicht 25 Bänden oder für einen kritisch edierten Schnitzler in 40 Bänden aus dem Verlag De Gruyter aus der Kasse abzweigen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Johann Christian Günther: Textkritische Werkausgabe in vier Bänden und einer Quellendokumentation. Band I Dichtungen der Schuljahre 1710-1715 Teil 1 Texte.
Herausgegeben von Reiner Bölhoff.
De Gruyter, Berlin 2013.
794 Seiten, 229,00 EUR.
ISBN-13: 9783110283921

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Johann Christian Günther: Textkritische Werkausgabe. Bd. 2: Dichtungen der Universitätsjahre 1715 – 1719.
Herausgegeben von Reiner Bölhoff.
De Gruyter, Berlin 2013.
948 Seiten, 229,00 EUR.
ISBN-13: 9783110295191

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Johann Christian Günther: Textkritische Werkausgabe. Bd. 3: Dichtungen der ersten Wanderjahre 1719-1721.
Herausgegeben von Reiner Bölhoff.
De Gruyter, Berlin 2014.
533 Seiten, 249,00 EUR.
ISBN-13: 9783110295207

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Johann Christian Günther: Textkritische Werkausgabe. Bd. 4: Dichtungen der letzten Wanderjahre 1721-1723. Teil 1: Texte. Teil 2: Nachweise, Erläuterungen und Gesamtverzeichnisse.
Herausgegeben von Reiner Bölhoff.
De Gruyter, Berlin 2014.
1004 Seiten, 289,00 EUR.
ISBN-13: 9783110295214

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Johann Christian Günther: Textkritische Werkausgabe in vier Bänden und einer Quellendokumentation. Band V Quellendokumentation. Teil 1: Handschriften mit Transkriptionen.
Herausgegeben von Reiner Bölhoff.
De Gruyter, Berlin 2015.
368 Seiten, 199,95 EUR.
ISBN-13: 9783110295221

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Johann Christian Günther: Textkritische Werkausgabe in vier Bänden und einer Quellendokumentation. Band V Quellendokumentation. Teil 2: Einzeldrucke.
Herausgegeben von Reiner Bölhoff.
De Gruyter, Berlin 2015.
201 Seiten, 159,95 EUR.
ISBN-13: 9783110451641

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