N.A.M.E.n und doch nicht ganz so anonyme Großstadtnachbarn

Über die 46. Ausgabe der „BELLA triste“

Von Christina DittmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Dittmer

Die Zeitschrift BELLA triste aus Hildesheim widmet sich dreimal im Jahr Prosa, Lyrik, Dramatik und Essays junger Autoren und führt Interviews mit ihnen. Den Anfang der 46. Ausgabe von November 2016 macht Carla Hegerl vom Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Ihre Gedichte sprechen vom Zueinanderfinden zweier Figuren und vom Sich-aktiv-in-Beziehung-setzen. Geometrisch, berechnend und dann wieder durch Unberechenbarkeit gebrochen: „ich so: […] ich definiere meinen schwerpunkt als/ integral deiner zunge./ du so: ich werfe girlanden nach dir.“

Yael Inokais Marlboro Rot ist eine Erzählung in Dialogform über Nachbarn in der Großstadt, die sich nur theoretisch nicht kennen. Denn die so oft zitierte Anonymität existiert in Wirklichkeit nicht, da sich die Nachbarn ständig durchs Fenster sehen: „Beim Einkaufen im Supermarkt grüßt man sich nicht./ Obwohl es so ist, als hätte man gerade den Hauptdarsteller seiner Lieblingssendung gesehen“. Dieser stumme Voyeurismus wird schließlich durch die Kinder gebrochen, die sich beim Zigarettenholen treffen. „SOPHIE: Der Papa raucht nicht mehr./ DANIEL: Dein Papa raucht heimlich./ SOPHIE: Ich kenn dich./ DANIEL: Wie heißt du?/ SOPHIE: Sag ich nicht.“

In Cathrin Stadlers Kurzgeschichte Stirbt ein Seemann wandelt die Ich-Erzählerin auf den „Spuren ihrer Verluste“. Magdalena Schrefels MÄDCHENMATERIAL, fortlaufend ist ein Theatertext über die jugendliche Sozialisierung in der rauen Atmosphäre der Großstadt. Im Bildteil der BELLA triste finden sich Aquarelle von Elliot Beaumonts, einem Illustrator aus Sydney, der in Berlin lebt und arbeitet.

Erst aus dem Bett aufzustehen wenn der Hunger einen killt und dann Benjamkn [sic] Blümchen Torte essen das ist Rap! lautet der Titel des Essays von Jacob Teich, der mit einem Abriss über Breakdance in der DDR Anfang der 1980er-Jahre beginnt. Von den Behörden wurde der Tanz anfangs durchaus als „Ausdruck der Lebensfreude und Solidaritätsbekundung mit den Armen und Unterdrückten in den Ghettos des Klassenfeindes“ geschätzt. Der dadurch ausgedrückte und durch aufgebügelte Markenlogos auf der Kleidung visualisierte Einfluss der USA wurde im Folgenden jedoch misstrauisch beäugt. Teichs Essay schließt mit der Geschichte der Gründung des Musiklabels Aggro Berlin ab, das den Gangster-Rap auf Deutsch etablierte und die sozialen Klüfte in der Gesellschaft der Zeit ausdrückte. Verflochten ist die essayhafte Schilderung mit der Biografie eines Ich-Erzählers, der früher Mitglied einer  Hip-Hop-Band gewesen ist und der sich nun in der Psychiatrie wiederfindet und auf seine Eingangsdiagnose wartet.

Der zweite Teil der Herbstausgabe steht unter dem Titel N.A.M.E. und vereint Texte von Pascal Richmann, Maren Kames, Leander Fischer und Lara Hampe. Richmann philosophiert über nomen est omen und stellt fest, dass Schicklgruber kein guter Name für einen Diktator wäre (so hätte der Name von Adolf Hitler gelautet, hätte sein Vater nicht den Namen seines Ziehvaters angenommen), Kim Il-sung („die Sonne“) allerdings auch nicht. Kames konstruiert einen Text über Eiszerfallslandschaften: „Ich wollte einen Text, dessen Schichtung offenliegt, wie in einem Bruch.“ Fischer nähert sich dem Thema Spitznamen ebenso komödiantisch wie fatal. Hampe schreibt ironisch über die „Beschreiberinnen“ einer Winterkollektion, die im Auftrag von Modefirmen Namen für Kleidung „auf emotionale Art“ erfinden.

Den Abschluss der BELLA triste-Ausgabe bildet ein sehr lesenswertes Interview mit Shida Bazyar, der Autorin von Nachts ist es leise in Teheran (2016). Sie erörtert unter anderem die Frage nach dem Umgang mit biografischem Material, genauer, dass sie ihre Eltern zwar als Quelle benutzt hat, nicht aber deren Geschichte nacherzählt. Als Leser erhält man einen interessanten Einblick in ihren Recherche- und Schreibprozess, wenn sie beispielsweise von ihrer Reise in den Iran berichtet, bei der sie vor lauter Paranoia keine detaillierten Notizen aufgeschrieben hat. Dies habe ihr beim Schreiben jedoch geholfen, da sie aus dem Fundus ihrer Erinnerung schöpfen konnte und sich nicht an ein Manuskript klammern musste. Auch spricht sie an, dass sie durch die aktuelle Flüchtlingsthematik in Deutschland oft in eine Kategorie gesteckt würde, zu der sie sich nicht zugehörig fühlt. Ferner spricht sie darüber, wie sie als Autorin mit zu einseitigen Interpretationen der Leser umgeht, mit denen sie bei Lesungen konfrontiert wird, und stellt klar, dass ‚blöde Fragen‘ im Grunde genommen wichtig für gute Diskussionen sind.

Die vertretenen Autoren sind überwiegend Studierende und Absolventen künstlerischer Hochschulen, beispielsweise des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und dem Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft Hildesheim. Dennoch ist die Veröffentlichung in der Zeitschrift nicht nur diesen vorbehalten, sondern sie bietet auf ihrer Homepage die Möglichkeit der offenen Manuskripteinsendung. BELLA triste liefert einen interessanten, abwechslungsreichen und anspruchsvollen Einblick in die Arbeiten junger Literaten. Das Interview mit Shida Bazyar bietet darüber hinaus spannende Eindrücke in den Schaffensprozess der Autorin.

In der Zeitschrift enthalten ist auch ein Hinweis über die Artist Residence auf dem vom Bella triste e.V. veranstalteten PROSANOV | 17 – Festival für junge Literatur, das vom 8. bis 11. Juni 2017 in Hildesheim stattfindet.

BELLA triste 46. Zeitschrift für Junge Literatur.
Bella Triste, Hildesheim 2016.
111 Seiten, 5,35 EUR.