Was ist „jüdische Religionsphilosophie“?
Michael Zank kartographiert einen nahezu unbekannten Kontinent
Von Thomas Meyer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDawid Slucki (oder David Slutzki) starb 1889 in Warschau. Heute sind die Werke dieses unermüdlichen Herausgebers vor allem mittelalterlicher jüdischer Texte, aber auch von Übersetzungen von Jean Racine ins Hebräische, wenn überhaupt, dann allenfalls in Spezialbibliografien zu finden. Mehr als das Todesdatum ist übrigens nicht über sein Leben bekannt, ja, schon die unterschiedlichen Transkriptionen seines Namens deuten darauf hin, dass es nie jemand so richtig erst meinte mit seinem Werk. In den 1860er-Jahren entwickelte Slucki/Slutzki erst in Leipzig, dann in Warschau eine rege publizistische Tätigkeit, zu der auch eine Reihe mit dem Titel „Sifrei Chochmat Yisrael“, übersetzt: „Bücher der Weisheit Israels“, gehörte. Slucki/Slutzki wollte jüdisches Wissen popularisieren, also druckte er parallel zu den hebräischen Texten – darunter viele Kommentare – deutsche Übersetzungen. „Chochmat Yisrael“ übersetzte er dabei nicht wörtlich, sondern, in deutlicher Anlehnung an den Zeitgeist, mit „jüdische Religionsphilosophie“. „Religionsphilosophie“ war ein seit etwa 1810 etablierter Begriff, welcher der seit Immanuel Kant sprunghaft gestiegenen Beschäftigung von Philosophen mit Theologie und natürlich auch umgekehrt einen Ausdruck verlieh, der systematische Ansprüche anmeldete. „Religionsphilosophie“ gehört zudem zu einer Art Trend, der auf die durch die Aufklärung folgende Pluralisierung und Ausdifferenzierung der Lebenswelt mit einer Vervielfältigung der „Philosophie“ reagierte: Neben Religionsphilosophie gab es nunmehr auch die Geschichtsphilosophie und viele andere Komposita.
Genau 150 Jahre nachdem Slucki/Slutzki in seiner Reihe den „Kuzari“ von Yehuda Halevi edierte, setzt Michael Zank, der an der Boston University lehrende Direktor des dort ansässigen Elie Wiesel Center for Jewish Studies, nochmals grundsätzlich an. „Jüdische Religionsphilosophie als Apologie des Mosaismus“ ist ein aus 20 Aufsätzen und Vorträgen aus den vergangenen 20 Jahren zusammengesetztes Ganzes, das in komplexer Weise die Geschichte einer Denkbewegung, ihrer Motive und Systematik ausleuchtet, die innerhalb des Judentums immer umstritten, außerhalb erst nach der Shoah überhaupt erst umfänglich wahr- und ernstgenommen wurde, nämlich die „jüdische Religionsphilosophie“ in ihren vielfältigen Erscheinungsformen.
Die Rede von „jüdischer Religionsphilosophie“ war schon immer ein politisches Statement – nicht erst seit der Verwendung durch Slucki/Slutzki. Denn zum einen wird damit eine Ebenbürtigkeit behauptet, war „Religionsphilosophie“ doch zunächst und vor allem eines: protestantisch und dann katholisch. Jetzt also „jüdisch“. Das führte zur aufmerksamen Beobachtung, was denn der jüdische Eigensinn hier mit „Religionsphilosophie“ genau ausdrücken wollte. Es stellte sich heraus, dass damit in erster Linie ein historisches und epistemologisches Interesse verbunden war. Wie lassen sich die Verfugungen von mittelalterlich-jüdischem Wissen mit aristotelischen, neuplatonischen und womöglich platonischen Philosophemen begreifen, zumal dann, wenn es eine islamische Rezeption und Überlieferung der antiken Texte zu berücksichtigen gilt? Wie verläuft die christliche Aufnahme dieser Überlegungen? Und wie wirkt sich all das wiederum auf das Judentum aus, dessen Übergang von der „Tradition“ in die „Moderne“ über eine tiefe „Krise“ (Jacob Katz) führt? Und schließlich: Wie lassen sich diese Verfugungen aufnehmen in ein nunmehr dezidiert modernes jüdisches Denken, das sich zugleich an die so zu verstehenden Traditionen gebunden sieht?
Das hier zum Ausdruck kommende Erkenntnisinteresse geriet zunehmend unter politischen Druck, je mehr seit 1900 die zionistischen Strömungen und die erneute Legitimation des Judentums während des Ersten Weltkrieges von innen und außen die Vorwürfe der Apologetik und Assimilation an die Vertreter der jüdischen Religionsphilosophie richteten. Ihre Kulmination erfuhr aus philosophischer Sicht die Kritik am geschilderten historischen und epistemologischen Interesse im April 1935, als Leo Straussʼ gelehrte Kampfschrift „Philosophie und Gesetz“ in die deutschen jüdischen Buchhandlungen kam.
Wie genau die Entwicklung hin zu dieser Kulmination verlief – die Hauptprotagonisten lebten zu dieser Zeit in Cambridge (Strauss), der zum Angriffsziel erkorene Julius Guttmann in Jerusalem – kann man bei Zank genealogisch, begriffsanalytisch und stets gewürzt mit einer Prise ironisch-polemischem Pfeffer genau nachvollziehen.
Um die Problematik – die selbst keine rein historische ist, wie der politisch denkende Zank deutlich werden lässt – systematisch zu fassen, beteiligt sich der Autor zunächst an der Gretchenfrage der Zunft: „Was ist jüdische Philosophie?“, um anschließend „Profile jüdischen Philosophierens“ vorzustellen, auf die schlussendlich „Anwendungen der jüdischen Philosophie“ folgen.
Zank legt in drei Schritten die Konfliktlinien um die jüdische Religionsphilosophie so offen, dass ihre grundsätzliche Relevanz für eine gegenwärtige Verständigung dessen, was jüdische Religionsphilosophie heute zu einem Verständnis der ‚Judentümer‘ beitragen kann, deutlich wird.
Zunächst insistiert er darauf, dass die philosophisch-theologischen Debatten keinerlei Trennung in innerjüdisch vs. außerjüdisch bieten, dass sie zudem genuin politisch sind, was nicht nur durch den rechtlichen Status weit bis ins 19. Jahrhundert bedingt ist, sondern auch durch die wechselhaften Konstellationen, in denen dem Judentum Auskünfte über seine Rechtfertigung als eigenständige Religionsgemeinschaft und seine Fähigkeit beziehungsweise Unfähigkeit zur Integration abverlangt werden. Mehr noch: Zank erinnert eindrücklich daran, dass von Baruch de Spinoza über Hermann Cohen bis hin zu Strauss ein besonderes, aber je anders geartetes politisches Philosophieren aus den Quellen des Judentums betrieben wird.
Nach der Kartographierung diverser Debattenlagen werden zweitens mikrologische Studien möglich, die die notwendigen hermeneutischen Vertiefungen des Gesagten betreffen. Sie sind gleichermaßen dem Tora- beziehungsweise Tanachverständnis der Protagonisten ebenso gewidmet – etwas, was man ‚Aktualisierungen im Abgleich mit Traditionsbeständen‘ nennen könnte – wie den nicht selten diametral entgegenstehenden Ansichten von Cohen, Martin Buber und all den anderen Beteiligten darüber, was denn „Judentum“ und „jüdische Religionsphilosophie“ überhaupt sein könnten. In den detaillierten Nachzeichnungen wird deutlich, wie sehr hier unter den spezifischen Bedingungen des späten 19. Jahrhunderts bis hin zum Ende des 20. Jahrhunderts die entlastende Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingezogen wird. Es steht sozusagen immer alles zugleich auf dem Spiel. Das „Buch der Könige“ etwa wird zum Dokument der „Machtfrage“, die „Bücher Salomons“ werden zum Prüfstein für die Auserwähltseinsproblematik inmitten christlicher Mehrheitsgesellschaften. Und die Gründung des Staates Israel und seine mögliche Zukunft werden hier gleichfalls am Uralten wie am noch Unbekannten, gleichwohl latent Vorhandenen abgeglichen.
Logisch folgerichtig schließen die sich anschließenden „Anwendungen“ direkt auf historische Ereignisse und beweisen, dass die Vernunft- und Legitimationsstrukturen jüdischer Religionsphilosophie keine Ergebnisse syllogistischer Verkrampfungen sind, sondern vielmehr kommentierend-eingreifende Klärungsversuche über den Ort und die Handlungsmöglichkeiten modernen Judentums. Man lese dazu etwa das Kapitel über „Bescheidenheit als Kriterium guter Theologie“, um die Bedingungen der Möglichkeiten von jüdischer Religionsphilosophie heute besser zu verstehen.
Auch wenn Zank in seinem Buch vieles anspricht, so gilt zugleich die Formel „repetitio mater studiorum“ für die Textsammlung, allein schon deshalb, um die Denkfiguren mit dem Leser einzuüben, die durch die direkte Konfrontation und Applikation mit und auf die Wirklichkeit einem auf die sprichwörtliche Pelle rücken. Keine Frage – neben Karl Erich Grözingers vierbändiger Einübung in das „Jüdische Denken“ ist Zanks Buch ein gewichtiger Beitrag zu einer nunmehr denkbaren Revitalisierung jüdischer Religionsphilosophie.
Ein Buch über Jerusalem ist von Zank angekündigt. Es kann sich, soviel scheint nach der Lektüre von „Jüdische Religionsphilosophie als Apologie des Mosaismus“ klar, nur um eine explosive Publikation handeln. Eine, die dem zweiten Teil des Titels des vorliegenden Werkes, dessen Erläuterung hier bewusst ausgespart wurde, wohl vollends gerecht zu werden versucht.
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