Im Jahr des Otters

Über Matthias Hirths grandiosen Roman „Lutra lutra“

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 2016 im Verlag Voland & Quist veröffentlichte Roman Lutra lutra von Matthias Hirth ist nicht nur seinem Umfang nach – mehr als 700 Druckseiten – ein beeindruckendes Werk. Mit seiner literarischen Energie, seiner Imaginationskraft und seiner die moralischen Grenzen unserer postpostmodernen Gesellschaft herausfordernden Entschlossenheit nimmt es sich inmitten des beständigen Stroms an Neuerscheinungen wie ein Solitär aus, der nicht verschwiegen werden sollte.

Bei Hirths Erzählprojekt handelt es sich um den Versuch, an die Jahrtausendschwelle, konkret in die Jahre 1999/2000, zurückzugehen und die Stimmung respektive den Geist dieser Zeit – nach dem Ende der Ära Kohl, vor dem Platzen der Dotcom-Blase, vor dem 11. September – auf die Frage zu bannen: Welche Grenzüberschreitungen bleiben dem einzelnen Menschen noch, welche Abweichungen im Bereich der Sexualität sind ihm noch möglich, wie gelingt es ihm, sich zwischen äußeren Zwängen und gesellschaftlicher Indifferenz als Individuum selbst zu bestimmen? „König Hussein von Jordanien ringt mit dem Tod. […] Die NASA-Raumsonde Stardust ist von Cape Canaveral aus ins All gestartet […]. Bundeskanzler Schröder begrüßt die neue EU-Richtlinie zur Liberalisierung der Strommärkte“, heißt es gleich zu Beginn des Romans: eine Kartographie der Zeit, eine Chronologie der kleinen und großen Weltereignisse, die im Hintergrund mitläuft und immer wieder in die Handlung eingestreut wird.

An einem „Abend im Spätwinter 1999, dem letzten Jahr des alten Jahrtausends“ setzt die Handlung ein. Protagonist ist Fleck, eigentlich Fleckensteiner (der Vorname bleibt dem Leser unbekannt), ein Mann Anfang 30, der sein Leben erfolglos durch Studium und Beruf mit Sinn zu füllen versucht hat, hinter dem eine traumatische Beziehung mit einer Frau liegt und dem es nun dank einer kleinen Erbschaft seiner verstorbenen Großmutter möglich wird, frei von materiellen Sorgen für ein Jahr so etwas wie ein Experiment zu wagen. Seine ihn nun mehr und mehr ins Nachtleben verstrickende Existenz, mal mehr, mal weniger von maßlosen Exzessen begleitet, führt Fleck durch die Bars und Kneipen seiner Stadt und hinein in die Schwulenszene.

Im Jahr 1999, da darf man sich in der schwulen Community durchaus noch ein wenig wie ein Geheimbund von Verweigerern und Aufständischen gegen Spießertum und Wohlanständigkeit vorkommen. Die eingetragene Lebenspartnerschaft gibt es noch nicht, Homosexualität ist noch nicht inmitten des Mainstreams angekommen. Und dennoch ist es nicht so einfach, die Grenzen des Anständigen und Zulässigen im eigenen Aufbegehren gegen die Zwänge der bürgerlichen Moral tatsächlich zu sprengen. In einer permissiven und mehr passiv-aggressiven Gesellschaft, der im Grunde doch alles gleichgültig ist, über diese Grenzen hinauszugehen und dies noch als einen Akt des Aufbegehrens zu inszenieren, den doch eigentlich alle gern tun würden – man ahnt, wohin dieser Versuch, zu dem Fleck mehr getrieben wird, als dass er ihn bewusst unternähme, führen kann.

Warum es dann allerdings gerade ein homosexuelles Begehren ist, mit dem der Protagonist jenseits aller Geschlechterkonventionen und Identitätszuschreibungen mit einem Mal Sexgeschichte an Sexgeschichte zu reihen beginnt, wird nicht klar. Ist er plötzlich selbst schwul geworden? Kurz fragt er sich das selbst, aber im Grunde interessiert es ihn wenig. In den Exzessen und Depressionen, die Hirth seinen ebenso kunstvoll wie eindrücklich gezeichneten und konsequent psychologisierten Protagonisten wie in einer Versuchsanordnung durchlaufen lässt, sind Fleck immer wieder Reflektor- und Spiegelfiguren an die Seite gestellt, die jeweils einen anderen Aspekt von Begehrenszuschreibungen und gesellschaftlichen Rollen hervorheben.

Beispielsweise Meinhard, der Fleck als kommentierender, ihn analysierender älterer Gesprächspartner dient und der aus einer Opferperspektive das im schwulen Milieu vorherrschende System von Angebot und Nachfrage auf Grundlage des Kapitals „Körper“ durchleuchtet. Da ist Felix, ein harmloser junger Mann, mit dem Fleck für kurze Zeit so etwas wie eine Beziehung führt, was natürlich nicht gut enden kann. Nicht zu vergessen Jenia, ein Stricher, zu dem umgekehrt Fleck eine zunehmende Affinität entwickelt, der für ihn jedoch trotz allem unerreichbar bleibt.

„Nirgendwo werden die Gesetze der Zuchtwahl strenger angewandt als unter Homosexuellen“, heißt es einmal, und diese Gesetze beleuchtet Lutra lutra mit einer Gnadenlosigkeit, die dem sezierenden Blick des Erzählers geschuldet ist. An anderer Stelle überlegt Fleck: „Vielleicht hatte es ja wirklich seinen Reiz, dieser Schweinchensekte beizutreten, bei der alle sofort an Aids und Analverkehr dachten […]. Als Ohrfeige für die bürgerliche Wohlanständigkeit, als Tritt ins Gesicht der braven Funktionsidioten, für die es nichts Schlimmeres gab, als aufzufallen?“ Eben darum geht es ihm, um die Funktionalisierung der Party für das wilde Leben, als Ort des Subrationalen, an dem Körperlichkeit und Sexualität verschwimmen und entgrenzt werden, um die Beobachtung einer sexuellen Verobjektivierung des Mannes durch sein Schwulsein.

Die überaus stringente und planförmige Art und Weise, mit der der Autor am Exempel seines Protagonisten Schritt um Schritt die Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit eines absoluten Bösen durchspielt und ihn zielgerichtet, über manche Hürden und Rückschläge hinweg, auf immer neue Grenzüberschreitungen zusteuern lässt, ist beeindruckend. Nicht ohne Grund verweist der Autor selbst in seiner Danksagung auf Fjodor Dostojewski. Und obwohl Lutra lutra mitnichten eine einfache und stets erheiternde Lektüre ist, ist keine Seite dieses großen Werkes zu viel geschrieben. Der so breit aufgespannte Resonanzraum wird gebraucht, um das Kernstück dieses Projektes erzählerisch zu vermitteln. Es ist kein Thesenroman, eher ein Experimentroman in dem Sinne, dass eine akribisch ausgearbeitete Hauptfigur in eine Welt, durch eine Handlung geschickt wird – und wir als Leser beobachten sie in ihrem Agieren. „Ein Gedanke blitzte in ihm auf. Mut. Mut wollte er haben. Furchtlosigkeit“, heißt es einmal. „Völlig unabhängig sein, frei von jeder Art von Angst, von den Erwartungen anderer Leute, von den eigenen Erwartungen. Eine durch nichts zu erschütternde, aus sich gespeiste Selbstgewissheit, dafür würde er seine Seele eintauschen.“ Als Leser dürfen wir Fleck atemlos auf seiner Reise begleiten.

Mit seinem Titel verweist der Roman auf das Tier des Jahres 1999, den Fischotter, Lutra lutra, wie im Roman dem Radio zu entnehmen ist. Der Fischotter begegnet Fleck in einem Tierfilm. Dabei steht er emblematisch für den Grenzgänger: „Alles Geschmeidigkeit und Leichtigkeit. Und vor allem nicht dieses verdammte Bedauern. So sein können, sagte er sich. Aber so war ich nie, so werde ich nie sein. Ich bin schon nicht mehr von heute, ich stamme schon aus einer anderen Zeit, einer Zeit der Schwere und der Skrupel.“ Und schließlich wird Fleck im Club seine eigene Ontologie als Lutra lutra wie folgt erklärt: „Otter sind die jüngeren: Schwimmertypen, schlank, trainiert, nicht ganz so behaart; jung, aber keine Twinks. Einen Otter stößt keiner von der Bettkante. Leckere Typen, so einer wie du eben.“

Äußerliche Schönheit ist für Fleck allerdings keine entscheidende Kategorie, hat er doch den ihm durch den Autor gesteckten Pfaden zu folgen:

Dass moralische Katastrophen und gesellschaftliche Traumata Auswirkungen auf nachfolgende Generationen haben, ist aus psychologischer und soziologischer Sicht unbestritten. Welche Einzelbiografie aber in welchem Grad mit welcher der vielen Zersetzungsstufen belastet ist und welche Abfolge von Bewegungen und Gegenbewegungen nötig ist, um derartige generationelle Kontaminierungen aufzulösen: schwer zu sagen. Flecks Unruhe und sein kruder Emanzipationsversuch, der bald beinah einen Menschen das Leben kosten wird, markieren halbwertszeitliche Zwischenschritte.

Bezeichnenderweise gerät Fleck in einer Schlüsselbegegnung an Sandra, ausgerechnet eine Frau, die zu seiner radikalen Gefährtin wird und viel weiter geht als seine männlichen Partner. In einer Anti-Lovestory mit ihr gelangt Fleck an ein dunkles Ende seines Weges. Dessen Folgen wirken auch über das Ende des Romans hinaus, und wir dürfen uns fragen, welche Schlussfolgerungen uns dies für die Jahre im Anschluss an die Handlung von Lutra lutra, bis in unsere Gegenwart, übrig lässt.

Titelbild

Matthias Hirth: Lutra lutra.
Verlag Voland & Quist, Dresden 2016.
732 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783863911362

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