Kurze Beine, langer Schatten

Über das von Ursula Amrein herausgegebene „Gottfried Keller Handbuch“

Von Peter C. PohlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter C. Pohl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literarische Jubiläen werfen normalerweise keinen Schatten, vielmehr finden sich alle wichtigen und weniger wichtigen, aber themennahen Publikationen vertriebstechnisch klug positioniert – und zwar im Jubiläumsjahr. Ursula Amrein, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Mitherausgeberin der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe, bricht mit dieser Regel. Sie hat ein Team von renommierten Keller-ForscherInnen versammelt und ein Handbuch zu Leben – Werk – Wirkung, so der Untertitel, Gottfried Kellers herausgegeben. Drei Jahre vor dem 200. Geburtstag des bedeutendsten deutschsprachigen Novellen-Dichters (im Jahr 2019) ist der Band im Metzler Verlag erschienen – zum Glück, wie sich getrost anfügen lässt. Denn ohne das Gottfried Keller Handbuch dürfte von nun an wenig in der Keller-Forschung laufen. Umsichtig konzipiert, reich an Informationen zur Biografie sowie historischen Kontexten und mit größtenteils überzeugenden Interpretationen einzelner Werke weiß die Publikation hohe und heterogene Ansprüche zu befriedigen. Insbesondere der ausgiebige Rekurs auf die Korrespondenzen und den in der 2013 abgeschlossenen Historisch-Kritischen Ausgabe edierten Nachlass ist lobend zu erwähnen.

Die Gliederung des Bandes unterteilt sich in eine die wichtigsten Lebensdaten zusammenfassende Biografie, einen langen, in Form wie Ausrichtung seiner einzelnen Beiträge leider stark variierenden Teil zum Werk, einem äußerst interessanten Abschnitt zu den Kontexten sowie einem Einblick in die Rezeption und Wirkung. Der Anhang versammelt grundlegende philologische Informationen zu Werkausgaben, Hilfsmitteln und Überblicksdarstellungen sowie ein Personen- und Werkregister. Gottfried Keller wird im Band nicht nur als Prosa-Schriftsteller, Lyriker und Publizist gewürdigt; auch seine bildkünstlerischen Werke und die Dramenfragmente finden angemessene Beachtung. Das Handbuch fächert das Œuvre des Schweizer Schriftstellers kleinteilig auf und ermöglicht es, Querverbindungen zwischen den einzelnen Werkteilen sowie zwischen Werk und Kontext zu ziehen. Der Band enthält überdies Hinweise auf so manches Desiderat wie zum Beispiel Kellers Bettagsmandate aus seiner Zeit als Stadtschreiber.

Bei allem Facettenreichtum, der dem Keller-Handbuch zu attestieren ist – einem Handbuch kann nicht die Funktion zukommen, andere Hilfsmittel wie Bibliografien, Biografien und Fachaufsätze zu ersetzen. Vielmehr soll es den Zugriff auf die besten Hilfsmittel erleichtern. Einige Konzessionen sind daher hinzunehmen. Unter anderem ist es nachvollziehbar, dass die Biografie Kellers knapp ausfällt. Eine immense Fülle von biografischen Informationen findet sich in späteren Abschnitten verstreut und wird teils wieder aufgegriffen, wobei Redundanzen unvermeidlich sind: Der „Trompetenstoß“, mit dem der alte Keller die Lektüre der Gedichte Georg Herweghs vergleicht und sie als Initialereignis seiner schriftstellerischen Laufbahn modelliert, wird mehrfach zitiert. Gleichwohl finden die wichtigsten Lebensstationen in der einleitenden biografischen Skizze genauso Erwähnung wie einige bizarre Details, man denke an die in der Keller-Philologie einst relevante Diskussion um die geringe Körpergröße des Autors – Luise Rieter, die erste in einer Reihe von Frauen, die das Liebensansinnen des Schriftstellers negativ beschied, monierte dessen zu kurze Beine; und die psychoanalytische Forschung um Adolf Muschg und Gerhard Kaiser vermochte in Kellers scheinbarem Kleinwuchs gar einen physischen Beweis für die von ihr diagnostizierten ödipalen Probleme und regressiven Tendenzen eines an die Mutter gefesselten Dichters zu erkennen.

Auch der Teil, der die Interpretationen der einzelnen Werke enthält, sieht sich mit einem textsortenspezifischen Dilemma konfrontiert. Auf der einen Seite haben sich einschlägige AutorInnen gefunden, die jede/r aus einer anderen Forschungsecke herkommend, ihr Scherflein beitragen: Neben Michael Andermatt (unter anderem zum Grünen Heinrich und den Züricher Novellen), Alexander Honold (Die Leute von Seldwyla) und Marianna Schuller (Sieben Legenden und Das Sinngedicht) seien hier Walter Morgenthaler und Philipp Theisohn erwähnt. Zum anderen richten sich Handbücher an unterschiedliche LeserInnengruppen: Neben interessierten Laien, die Antworten auf grundlegende Fragen suchen, ihre Leselust bahnen, weitere Texte eines Autors / einer Autorin entdecken möchten, sind dies Studierende, die unter dem Zeitdruck von Abgabefristen für Hausarbeiten eine rasche, fundierte und didaktisch reflektierte Orientierung suchen, Lehrende, die diese Orientierung in den Lehrveranstaltungen vermitteln möchten, und natürlich ForscherInnen, die nach Anregungen und Bestätigung suchen. Es ist beinahe unmöglich, allen Adressaten gerecht zu werden. Zu stark variieren die Komplexitätsgrade der Anfragen, als dass sich eine Sprache und eine Perspektive finden ließen, die ihnen gerecht würden. Es ist der schmal Grat, auf dem diese Publikationsform wandert. Dem Keller-Handbuch gelingt der Gang zumeist bravourös und ausbalanciert. Bisweilen gerät die Publikation jedoch, um im Bild zu bleiben, gehörig ins Schlingern.

Und damit zum größten Kritikpunkt: Vollkommen schleierhaft ist die Funktion, sind Umfang und Inhalt der einzelnen Bibliografien am Ende der Werkbesprechungen. Handelt es sich um den aktuellen Forschungsstand? Oder sind es Arbeiten, die in den einzelnen Kapiteln in der Argumentation herangezogen werden? Handelt es sich um repräsentative Studien? Oder dienen sie nur dazu, eine Forschungsposition zu untermauern? Wenn ja, welche Position wird eingenommen, wie repräsentativ ist die jeweilige Interpretation?

Diese Fragen tauchen zwangsläufig auf, da einzelne Unterkapitel die Forschungsliteratur zu Keller intensiv besprechen und nutzen, während es andere dabei belassen, die für sie relevanten Schriften der Sekundärliteratur zu vereinen. Beispielsweise konsultieren die von Marianne Schuller verfassten Texte zu den Sieben Legenden und zum Sinngedicht tendenziell gendertheoretische, psychoanalytische und poststrukturalistische Arbeiten und Theorieklassiker (unter anderem Jacques Derrida und Sigmund Freud). Im Falle der Sieben Legenden sowie des Sinngedichts ist so ein solcher Zugang sinnvoll, gewiss. Sowohl die von Keller vorgenommene Überschreibung und Überschreitung der Sammlung christlicher Heiligenlegenden Ludwig Theoboul Kosegartens als auch die das Motiv der Gattenwahl variierenden Novellen des Sinngedichts verschränken die Kritik an Gattungskonventionen mit der Kritik an der Geschlechterordnung. Zum einen bricht die Frivolität der Novellen das Legenden-Schema auf, zum anderen öffnet die experimentelle Anordnung des Sinngedichts die Novellenform wissensgeschichtlich; in Kellers Novellistik avanciert das Genre zu einer Wissensfigur, die sowohl die Vorstellungen bürgerlicher Sexualmoral als auch die idealistische Vorstellung artistischer Produktion dekonstruiert. Dennoch beschleicht einen das Gefühl, dass eine Darlegung der vorhandenen Forschungspositionen, wie es Andermatt für die Züricher Novellen umsichtig vornimmt, den didaktischen Anforderungen eines Handbuchs eher gerecht wird als die Dominantsetzung einer als solchen nicht markierten Position. Ganz aus dem Rahmen fällt der von Karl Wagner verfasste Abschnitt zu Martin Salander. Der Text ist nicht nur zu knapp ausgefallen (er gibt den Inhalt von Kellers letzten Roman bestenfalls punktuell wieder), sondern er bietet überdies eine disproportional große Literaturliste an, von der einige Arbeiten im Abschnitt gar nicht genutzt werden. Womöglich hätte eine annotierte Bibliografie zu den einzelnen Werken eine größere Homogenität geschaffen und die genannten Einseitigkeiten vermieden oder relativiert.

Dass der Komplexitätsgrad der Deutungen variiert, ist dagegen zwar auffällig, nicht aber unbedingt ein Manko. So besticht der von Alexander Honold geschriebene Teil zu den Leuten von Seldwyla durch einen eleganten, dichten, fordernden Stil, in dem nicht nur der gegenwärtige Forschungsstand wiedergegeben, sondern auch eine Tiefenbohrung zu den formal-poetischen Grundprinzipien der einzelnen Texte wie des Zyklus vorgenommen wird. Die einzelnen Interpretationsschritte nutzen unterschiedliche theoretische Perspektiven virtuos, um die konzise und pointierte Nacherzählung voranzubringen. Sowohl der einleitende Teil zum Zyklus als auch die einzelnen Zusammenfassungen und Interpretationen bereiten Vergnügen auf höchstem Niveau – zumindest wenn man sich mit Keller bereits auseinandergesetzt hat. Wer die Novellen erstmals gelesen hat, könnte sich dagegen an einigen Stellen bei der tour de force durch den Zyklus überfordert fühlen und nun seinerseits ins Taumeln geraten.

Die von Walter Morgenthaler, Philipp Theisohn und Ursula Amrain geschriebenen Passagen zur Lyrik führen mustergültig in das lyrische Schaffen Kellers ein. Dabei wird die Breite des lyrischen Werkes nicht nur vor Augen geführt und Gattungsvorlieben und Motivpräferenzen erläutert. Vielmehr gelingt es den AutorInnen an exemplarischen Beispielen, den Lyriker Keller in ein neues Licht zu rücken, wobei Schwerpunkte auf der Kompositionsstruktur der Zyklen, der Fest-, Natur-, Liebes- und der Politischen Lyrik liegen. Besonders aussagekräftig sind die Ausführungen zu den Gedichtzyklen, bei dem sich Parallelen zur Erzählkunst ergeben, wenn Theisohn „ein dialektisches Gattungsverständnis  [konstatiert], das eng mit der zyklischen Kompositionsstruktur verbunden ist“. Informatives zu den Dramenfragmenten hat Peter Villwock zusammengetragen, den publizistischen Arbeiten Kellers, die erst jüngst im Zuge der Historisch-Kritischen Keller-Ausgabe systematisch erschlossen wurden, widmen sich Ursula Amrein (Schriften zur Literatur und Kunst) und Michael Andermatt (Schriften zur Politik und amtliche Publikationen).

Im Abschnitt zum Kontext finden sich die Werkdeutungen fortgesetzt und sozialgeschichtlich perspektiviert. Der historisch-systematische Zugang, insbesondere die detaillierte Rekonstruktion der für Keller relevanten politischen, anthropologischen und religiösen Diskurse, bietet ein facettenreiches Panorama, aus dem heraus sich innovative interpretatorische Zugänge ergeben werden. Einen würdigen Abschluss für das Handbuch stellt das von Hugo Aust geschriebene Kapitel Gottfried Keller als Autor des Realismus dar, in dem eine Einordnung Kellers in die Epoche erfolgt. Zentrale Konzepte der Realismus-Forschung werden eingesetzt, um die spezifisch Keller’sche Gestalt des poetischen Realismus – die das Inkommensurable von Kunst und Wirklichkeit, Idealismus und Realismus zum Ausdruck bringt – zu erfassen. Und in schneller Abfolge werden die letzten Trends der Realismusforschung in Bezug auf das Werk Kellers diskutiert.

Dass das Handbuch einen Meilenstein auf dem Weg ins Jubiläumsjahr darstellt, sei abschließend erwähnt. Ein bisschen Taumelei lässt sich dabei problemlos in Kauf nehmen.

Titelbild

Ursula Amrein (Hg.): Gottfried Keller Handbuch. Leben-Werk-Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016.
420 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783476023278

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