Die Logik des Widersinnigen

Máirtín Ó Cadhains 1953 in irischer Sprache publizierte Satire über den öffentlichen Dienst besitzt auch heute noch Relevanz

Von Paula BöndelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paula Böndel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

J., Protagonist der Novelle Der Schlüssel (An Eochair) von Máirtín Ó Cadhain, ist Papierbeauftragter im Öffentlichen Dienst. Er wird in seinem fensterlosen Büro von seinem Vorgesetzten S. am selben Tag, an dem S. zu einem zweiwöchigen Urlaub aufbricht, eingeschlossen. Obwohl J. über einen Zweitschlüssel verfügt, gelingt es ihm nicht, die Tür zu öffnen: Der Schlüssel bricht im Schloss ab und er muss die Nacht im Büro verbringen. Erst am nächsten Tag wird man auf seine missliche Lage aufmerksam. Indessen taucht ein weiteres, noch größeres Problem auf, denn für einen solchen Vorfall gibt es im Öffentlichen Dienst keinen Präzedenzfall, weshalb zuallererst die Zuständigkeiten geklärt werden müssen. „Was immer sonst passieren mochte, im Öffentlichen Dienst passierte nichts Außergewöhnliches“, glaubt J., doch seine Geschichte zeugt vom genauen Gegenteil: Sie ist nichts anderes als eine unerhörte Begebenheit.

Es ist eine makabre, fast surreale Welt, die Ó Cadhain in seiner Novelle heraufbeschwört und in der J. täglich seinen Dienst verrichtet. Ein verengter Raum aus Regeln, Vorgehensweisen, Vorschriften – und aus Papier, denn „der Öffentliche Dienst ist Papier, jeden Formats, jeder Form und jeder Fabrikation, jeder Farbe und jeder Qualität“. Quittungen, Anweisungen, Akten, Aktennotizen, Aufklebern, Ordnern – allen kommt eine immanente Bedeutung zu, ihnen wird sogar ein eigenes Leben zugeschrieben. Die Ordner bilden eine Welt für sich und sind untereinander verfeindet. Streitigkeiten werden ausgefochten und es kommt zu Bürgerkriegen, besonders nach einem Regierungswechsel: „Es gab Menschen, die schworen, Kreischen, Schläge, Handgemenge und Heulen von Ordnern in den Aktenschränken gehört zu haben. Ordner wurden zerknittert, zerstochen, zerfetzt, zerrissen aufgefunden.“ Manch einer scheint ja auch nach dem Tod noch sein Unwesen zu treiben: „Der Ordner mit den Unterlagen über die Verwaltungsgelder von Seines Freundes Regierung war vor Jahren vernichtet worden, wurde aber in regelmäßigen Abständen gesichtet, und seine rote Tinte sah jedes Mal mehr aus wie Blut, wenn die Geschichten zutrafen.“

J. ist sich bewusst, dass es ihm gelingen könnte, die Tür aufzubrechen, doch kommt ein solches Vorgehen für ihn nicht infrage. Als leidgeprüfter Staatsdiener, der einen peinigenden Juckreiz, eine zänkische Ehefrau und einen herrischen Vorgesetzten erdulden muss, hat er die Regeln des Öffentlichen Dienstes dergestalt internalisiert, dass das Aufbrechen der Bürotür dem Brechen eines staatlichen, quasi göttlichen Siegels gleichkäme. So bleibt ihm nichts anderes übrig als auf die Vorgehensweise des Öffentlichen Dienstes zu vertrauen, allerdings wider besseres Wissen, denn J. weiß, dass „ein ungeschriebenes Gesetz“ existiert, „nach dem nichts jemals in Eile geschehen durfte. Die Dinge auf die lange Bank zu schieben, oder sie gar nicht erst anzurühren, war ein Verteidigungsmechanismus, eine Garantie dafür, dass irgendwann alles so geschehen würde, wie es sich gehörte. Etwas gar nicht zu tun, garantierte, dass es nicht auf unangemessene Weise getan wurde“.

Während J. in seinem fensterlosen Büro ohne Nahrung und Wasser ausharren muss, wird die Angelegenheit vom Büroleiter „auf dem korrekten Dienstweg“ weitergeleitet: Zunächst an den Personalchef und von diesem über den obersten Verwaltungsbeamten, dann über den stellvertretenden Amtsleiter und den Amtsleiter zum stellvertretenden Staatssekretär, der sie an das Verwaltungsamt, genauer gesagt an den Obersten Kontrolleur der Dringlichen Angelegenheiten des Verwaltungsamtes, weiterverweist: „,Aber ich habe Feierabendʻ, sagt Dringliche Angelegenheiten ,und mir liegt keine Aktennotiz über die Angelegenheit vor. Ohne Aktennotiz darf ich diese Tür nicht einmal mit einer Feder anstupsen.ʻ“

Indessen hat die Frau von J. die Öffentlichkeit auf seine Lage aufmerksam gemacht und andere Instanzen mischen sich in die Angelegenheit ein: Die Presse wittert eine aufregende Story, Politiker und Gewerkschafter nutzen die Lage, um sich gegenseitig verbal zu attackieren, der Priester ruft an. Wenn J. in seiner Verzweiflung versucht, den Katholischen Erzbischof, der sich in Rom aufhält, zu erreichen, wird ihm versichert, dass die Ordensschwestern für ihn beten. Und so nimmt seine prekäre Lage immer bedrohlichere Züge an. Schließlich wird die Armee zum Öffnen der Tür eingesetzt, was zur Rettung des Papierbeauftragten führen soll. Die Ironie des Ganzen kulminiert im letzten Satz der Novelle: „Das Verwaltungsamt konnte aus der ganzen Affäre immerhin eines retten, nämlich die beiden Teile des abgebrochenen Schlüssels.“

Ó Cadhains bissiger Humor richtet sich nicht nur gegen den Öffentlichen Dienst, sondern auch gegen die irische Politik der damaligen Zeit. Die Namen der zwei großen Parteien Fianna Fáil (Soldaten des Schicksals) und Fine Gael (Familie der Iren) werden in „Fine Fáil“ und „Fianna Gael“ umgewandelt. Die nur marginalen Unterschiede und die weitreichenden persönlichen Beziehungen zwischen ihnen werden noch dadurch unterstrichen, dass sie auch als „Seines Vaters Regierung“ und „Seines Freundes Regierung“ bezeichnet werden. Überdies tragen einzelne Politiker sprechende Namen wie Fitzlaber, MacFurz und Ó Profit.

In seinem Heimatland wird der Autor, der ausschließlich in irischer Sprache schrieb, mit James Joyce verglichen, was auf seinen 1949 veröffentlichten Roman Cré na Cille – der Titel lässt sich in etwa mit „Friedhofserde“ übersetzen – zurückzuführen ist. Evidenter in Der Schlüssel sind die Anklänge an Flann O‘Brien, obwohl auch grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Autoren zu verzeichnen sind. Eine Analogie zu Kafka drängt sich ebenfalls auf: Nicht nur die Reduzierung des Namens auf ein Initial, sondern auch die Abgeschlossenheit der in sich selbst verstrickten bürokratischen Welt mit grotesken Zügen mutet kafkaesk an.

Das Geschehen der Novelle wird aus einer ironischen Distanz geschildert, die sich gleichsam auch auf den Leser überträgt. Die Geschichte von J. bewegt sich entlang der Grenze zwischen Komischem und Tragischem bis hin zum unvermeidbaren Ausgang, doch ist sie von schwarzem Humor, aberwitzigen Wendungen und Überspitzung so durchsetzt, dass selbst dem Tragischen ein gewisses Maß an Komik abzugewinnen ist. Diese Spielart des Grotesken stellt weniger die Identifikation mit dem Schicksal des Protagonisten in den Vordergrund, als dass sie eine Demontage der Institution, deren Produkt er geworden ist, betreibt. Der Staat und seine Institutionen werden mit ihrer inhärenten Logik, die sich jeglicher Vernunft verschließt, der Lächerlichkeit preisgegeben.

Der Schlüssel entstand in einer Zeit, die infolge des zunehmenden Einflusses der Katholischen Kirche in Irland von Rückständigkeit, Sittenstrenge und einer massiven, mittelalterlich anmutenden Zensur geprägt war. Aus heutiger Sicht hat die Novelle als Bürokratiesatire ein wenig Patina angesetzt, ohne jedoch an Bedeutung verloren zu haben. Gerade als Zeugnis der Auflehnung gegen einen repressiven Staat und seine Institutionen in einer Zeit der Abschottung nach außen ist diese auf hohem literarischen Niveau verfasste Geschichte relevanter denn je.

Ó Cadhains Prosatexte nehmen einen Nischenplatz in der Literatur ein und sein Roman Cré na Cille, dessen deutsche Fassung unter dem Titel Grabgeflüster in Kürze erscheint, galt lange als unübersetzbar. Der Schlüssel – erst 2015 ins Englische übertragen – ist das erste seiner Werke, das in deutscher Sprache veröffentlicht wurde. Umso beachtenswerter ist es, dass der Kröner Verlag die Novelle in einer Übersetzung von Gabriele Haefs herausbringt, die der 1967 veröffentlichten irischen Ausgabe des Textes folgt. Anmerkungen und ein Zeittafel tragen überdies zur Entschlüsselung der vielen Anspielungen bei. So ist mit Der Schlüssel der Weg dafür geebnet, dass Ó Cadhain, der nicht nur als wichtigster moderner Prosaautor in irischer Sprache und Erneuerer der irischsprachigen Literatur gilt, sondern inzwischen auch ein anerkannter Autor in der englischsprachigen Welt ist, ebenso ins Bewusstsein der deutschen Leserschaft vordringen kann.

Titelbild

Máirtín Ó Cadhain: Der Schlüssel. Novelle.
Mit Anmerkungen und Zeittafel.
Übersetzt aus dem Irischen von Gabriele Haefs.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2016.
102 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783520600011

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