Zwischen Anpassung und kontrollierter Aufmüpfigkeit

„An den Grenzen des Möglichen“: Ingrid Sonntag präsentiert Material zur Geschichte des Leipziger Reclam-Verlags zwischen 1945 und 1991

Von Günther FetzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Fetzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Bücher, die sind unrezensierbar. Dazu gehört das von Ingrid Sonntag herausgegebene Buch An den Grenzen des Möglichen über den Leipziger Reclam-Verlag. Unrezensierbar deshalb, weil man den 544 Seiten mit 52 Beiträgen von 47 Autorinnen und Autoren auf so beschränktem Raum nicht gerecht werden kann. Aber auch unrezensierbare Bücher verdienen es, dass man auf sie gebührend aufmerksam macht.

Jeweils fast 200 Seiten der schön gestalteten Broschur nehmen „Verlagsgeschichte“ und „Programm“ ein, etwas über 100 Seiten das Großkapitel „Buchentstehung im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Zensur“, den Rest vor allem das umfangreiche und hilfreiche Personenregister, durch dessen Nutzung sich viele aufschlussreiche Querbezüge ergeben.

Der Teil über die Verlagsgeschichte widmet sich dem Wiederaufbau des Verlags nach 1945  (Karolin Schmahl, Carmen Laux), beschreibt die Koexistenz zweier Reclam-Verlage in Ost und West (Ingrid Sonntag und Carmen Laux) und porträtiert wichtige Verlagsleute aus dieser Zeit, allen voran Hans Marquardt, der von 1952 bis 1962 Cheflektor und von 1961 bis 1987 Verlagsleiter war und „in seinem Berufsleben einen pragmatischen, routinierten und ergebnisorientierten Kontakt mit dem MfS“ pflegte (Ingrid Sonntag). Aber auch Hildegard Böttcher als rechte Hand Ernst Reclams und erste Verlagsleiterin sowie Gotthold Müller, der 1947 im Einverständnis mit Reclam die Reclam Verlag GmbH in Stuttgart gegründet hatte (Carmen Laux), werden vorgestellt. Eine interessante Personalie ist der berühmte Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der zwischen 1949 und 1963 an der Leipziger Universität lehrte. Er bildete an seinem Institut nicht nur Lektoren, Autoren, Übersetzer und Herausgeber aus, sondern war auch selbst – gegen gutes Honorar – für den Verlag als Herausgeber tätig, wurde „im deutsch-deutschen Literaturaustausch für den Verlag aktiv“ und nahm „als Festredner Einfluss auf die Programmpolitik“ (Ingrid Sonntag).

Das Großkapitel über das Programm bringt Artikel über einzelne Literaturen (Frankreich und Spanien, Lateinamerika, Russland), über die „Philosophie im Kalten Krieg“ (Wilhelm G. Jacobs) sowie über das Schicksal einzelner Bücher, so über Walter Benjamins Lesezeichen oder das erstmalige Erscheinen von Günter Grass in der DDR. Hier finden auch zwei Beiträge über die Reihengestaltung der Universalbibliothek und die „schönen Bücher“ (Markus Dressen und Jan Wenzel sowie Herbert Kästner) ihren Platz.

Das „Spannungsfeld zwischen Anspruch und Zensur“ wird am Beispiel von Autoren und ihren Büchern untersucht. Zu nennen sind hier vor allem Stephan Hermlins Deutsches Lesebuch (Stephan Papst), die Erstveröffentlichung von Wolfgang Hilbigs Stimme Stimme (Thomas Böhme), den Heiner-Müller-Band Müller Material (Frank Hörnigk) und die Edition Freiheit und Ordnung zum 100. Geburtstag des in der DDR lange Zeit verfemten Philosophen Ernst Bloch (Ingrid Sonntag).

Neben den zahlreichen wissenschaftlich orientierten Beiträgen – die Veröffentlichung ist Teil des Forschungsprojekts „Leipziger Verlagsarchive: Reclam als Erinnerungsspeicher und Labor“ – durchziehen Zeitzeugenberichte (Juergen Seuss, Jürgen Fuchs, Andreas  Koziol), Erinnerungen von Autoren (Fritz Mierau, Hans-Günter Ottenberg)  und ehemaligen Verlagsmitarbeitern (Helga Bergmann, Werner Creutziger, Heinfried Henniger) die Kapitel. Bei einem umfangreichen Werk dieser Art ist es immer schwer, die Anspruchshöhe zu halten, doch sind einige Beiträge doch sehr kurz und feuilletonistisch geraten, sodass man insgesamt den roten Faden der Verlagsgeschichte manchmal zu sehr aus den Augen verliert – auch wenn Ingrid Sonntag als Hauptautorin mit zehn (Teil-)Beiträgen es immer wieder schafft, dem Ganzen eine stützende Struktur einzuziehen, so vor allem in ihrem Vorwort „Geschichte als Verlagsgeschichte“. Hier zeichnet sie die Historie des Verlags, der selbst zu DDR-Zeiten ein Privatverlag geblieben war, konzise nach. Offen nennt sie auch Themen, „die ursprünglich angedacht waren, aber aus unterschiedlichen Gründen leider keine Aufnahme gefunden haben“, so vor allem „im Bereich der Buchkunst“. Das Vorwort des ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse geht zwar im Kern nicht über die üblichen rhetorischen Versatzstücke hinaus, bringt aber an einer Stelle den insgesamt verdienstvollen Band auf den Punkt: „Das Buch erzählt aus unterschiedlicher Perspektive Geschichten eines kleinteiligen, zähen Kampfes gegen politische Borniertheit und ideologische Enge. So entstehen traurig-trübe und erhellend-freundliche Porträts der Akteure in ihren Verstrickungen und Erfolgen. Und dabei entsteht das Porträt eines Kapitels deutscher Geistes- und Kulturgeschichte im vergangenen Jahrhundert.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Titelbild

Ingrid Sonntag (Hg.): An den Grenzen des Möglichen. Reclam-Leipzig 1945–1991.
Unter Mitarbeit von Dr. Kerstin Beyerlein und Carmen Laux.
Ch. Links Verlag, Berlin 2016.
544 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-13: 9783861539315

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