Die Ordnung des Leidens

Stephanie Bölts geht Wissenskonzepten der Krankheit in ihren gattungsspezifischen literarischen Formen nach

Von Ulrike SteierwaldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Steierwald

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich heute den „Sprachen des Leidens“ widmen möchte – so die Formulierung in der Einleitung zu Stephanie Bölts Krankheiten und Textgattungen –, sieht sich mit einer Fülle von seit Jahrzehnten prosperierenden Forschungsansätzen und -ergebnissen zu historischen Wissensformen der Krankheit konfrontiert. Umso erfreulicher, dass die Studie zunächst in einem souveränen wie fokussierten Aufschlag sowohl den eigenen wissenschaftlichen Standort als auch den sehr heterogenen Forschungstand klärt. Es geht der Autorin um sprachlich-rhetorische Strategien und historische Konzeptualisierungen von Krankheit, die sich um 1800 in den Diskursen der Wissenschaft und Literatur als Wissen bildeten. Eine insbesondere im angloamerikanischen Bereich stark vertretene, programmatisch interdisziplinär ausgerichtete literature and science-Forschung fragt nach Überschneidungen und Einflussnahmen semantisch zu definierender Themenfelder. Demgegenüber zeigen die Archäologien einer „Poetologie des Wissens“ epistemisch-narrative Modelle in Literatur und Naturwissenschaften auf, während eine weitere Forschungsperspektive eher auf die spezifischen historischen Sprachfiguren einer eigenen ästhetischen Wissenskultur und -praxis der Literatur zielt. Stephanie Bölts‘ quantitativ erfreulich knapper, aber klarer, auf frühere Berichte zurückgreifender Forschungsüberblick lässt zunächst hoffen, dass für die Literaturwissenschaften inzwischen ein wissenstheoretisch und definitorisch breites Plateau erreicht ist. Die auf ihm basierenden Forschungen müssten meines Erachtens also – auch abgesehen von dieser Dissertation – Methoden und Theoreme nicht mehr ausführlich reproduzieren oder zu vermeintlich neuen Fragestellungen aufblasen, sondern könnten, im besten Falle auf diesem Plateau aufsetzend, weiterführende Erkenntnisse gewinnende Lesarten von Texten und Kontexten aufzeigen.

Und so lautet auch Bölts‘ mutiger wie berechtigter Anspruch einleitend: „In der Forschung wird dieses ‚literarische‘ Wissen jedoch häufig lediglich postuliert und es bleibt unscharf, worin es genau besteht. Durch die Fokussierung auf die formale, sprachliche Darstellung von Krankheit wird in dieser Arbeit textnah nach einem spezifisch literarischen Umgang mit Wissen gefragt. Der gattungsspezifische Frageansatz ermöglicht somit eine produktive Verbindung der zuvor genannten drei Forschungsperspektiven.“ Hier beschleicht den/die Leser/in der Studie jedoch zum ersten Mal die Sorge, wie denn die sich klar widersprechenden Methoden und Theoreme und die ohne die Augen schmerzendes Schielen schwer zusammenzubringenden Forschungs-Perspektiven verbunden werden sollen? Und leider erweist sich diese Sorge auf den folgenden mehr als vierhundert Seiten allzu oft als berechtigt.

Der Ansatz einer philologischen, auf Textnähe zielenden Präzisierung des gattungsspezifischen Wissens der Literatur ist ja durchaus überzeugend. Gattungen sind spezifische Formen der sprachlichen Ordnung, die auf die jeweilige Konzeption und Konstituierung von Krankheit einwirken und so deren historisches Wissen bestimmen. Dieser diskursanalytischen Fragestellung folgend, bieten sich die unermesslichen Textfelder des medizinischen und literarischen Diskurses um 1800 an, da auch Ästhetik und Poetologie der Sattelzeit in ihren konfliktgeladenen und sich widersprechenden Verhandlungen normative Gattungsdefinitionen im Sinne von festzulegenden Formen in Frage stellten. „Gattungen“ wurden jenseits einer fixierbaren Struktur als formüberschreitende Wahrnehmungsmuster und Wissensmodi erkennbar. Bölts‘ eigener Gattungsbegriff lässt jedoch im Folgenden die Logik dieser als historische Wissensdisposition erkannten Definition außen vor und setzt ihr die methodisch-apodiktische Differenzbildung von „außertextueller Wirklichkeit“ und einem nicht näher definierten Inneren der Textstruktur entgegen.

Der der Studie zugrundeliegende Literatur- wie Gattungsbegriff bleiben damit unklar bzw. inkonsequent. Beispielsweise gehen wir entweder von „intra- wie extraliterarischen, diskursübergreifenden Ordnungsgenera“ der sprachlichen Form aus oder wir legen ein Textverständnis an den Tag, das der Gattung als spezifischer Formung die Strukturierungs- und Repräsentationsfunktion „außertextueller Wirklichkeit“ zuschreibt. Hier ist Entscheidung angesagt. Und da dieser Casablanca-Moment in der Studie leider auch hinsichtlich anderer methodischer Fragen versäumt wird, ist die Freude an der Lektüre der eigentlich eine Fülle von Textkenntnis, einen immensen Lektürereichtum und überzeugende Einsichten in sich bergenden Dissertation immer wieder getrübt. Ein souveräner Methoden-Eklektizismus könnte heute – nach den Krisen der mit sich ringenden Literaturwissenschaften und nach Jahren des theoretisch-methodisch sich allmählich nur noch selbst befriedigenden Theorie-Overloads – durchaus überzeugen. Dabei muss jedoch die Betonung auf dem Wörtchen „souverän“ liegen, denn nur so entstehen konsequent weiterdenkende und damit auch wieder zur Schönheit von klarerem Erkenntnisgewinn beitragende wissenschaftliche Texte. Für ein präzises Spiel mit unterschiedlichen Herangehensweisen müssen diese gänzlich durchdrungen und die Fallstricke ihrer potenziellen Widersprüchlichkeit erkannt sein.  

Literarische Texte im Bewusstsein der eigenen Historizität des literaturwissenschaftlichen Wissens (!) philologisch neu zu lesen, ohne die Deutungsmuster auf diese rückzuprojizieren, gelingt der Studie kaum. Interpretationen geraten zu Deutungen, die als unbeholfene Reduplikationsversuche eine unfreiwillige Komik annehmen. So lassen sich beispielsweise die Köperbilder der Wunden, Risse und Narben in Jean Pauls Das Leben des Quintus Fixlein gerade nicht als Nachvollzug und Bestätigung der medizinhistorisch wirkungsmächtigen Konstruktionen des Außen und Innen erklären. Bölts‘ Interpretationen werden zu hilflosen, sprachlich unpräzisen Umdichtungen des literarischen Textes: „Thiennettes inneres Leiden wird mit drastischen Bildern wie dem des abgeschlagenen Kopfes unterstrichen und veräußerlicht. Während der Tote aber keine Tiefendimension mehr hat, auf die sein bleiches Gesicht verweist, versteckt sich laut dem Erzähler hinter Thiennettes Oberfläche das Leiden im Inneren. Die Risse in ihrer Haut sind verschlossen und das Blut fließt nur nach Innen und sammelt sich im Herzen als dem emotionalen Zentrum des Menschen.“ – Alles klar?

Abgesehen von dem Methodendilemma und einem Scheitern am virtuosen Anspruch, Literatur „textnah“ interpretieren zu wollen  – zwei weit geöffnete Fallen für die heutigen Literaturwissenschaften, vor denen Stephanie Bölts nicht allein steht –, bietet die Studie aufgrund einer überzeugenden Textauswahl und angesichts detaillierter Analysen der Maß bzw. Ordnung gebenden Episteme des medizinischen Wissens um 1800 eine reiche und gewinnbringende Lektüre. Obwohl immer wieder auf die funktionalen und klassifikatorischen Bestimmungsmöglichkeiten von Gattungen verwiesen wird, gliedert Bölts sprechenderweise ihre Ausführungen in vier Kapitel, die die Textauswahl eher nach literarischen Schreibweisen als nach einschlägigen, festgelegten „Gattungen“ einteilen. Es geht um rhapsodische Entwürfe, Fallberichte, die Narrative der Erzählung und die performativen Expositionen des Dramatischen.

Versucht man, das Gesamtergebnis der Studie für sich selbst zu rekapitulieren, wird überzeugend sichtbar, dass und wie sich in den spezifischen literarischen Modi die historischen medizinischen Dispositive zeigen – beispielsweise im analytisch-sezierenden, Außen und Innen konstruierenden Blick, in der Vorläufigkeit des Symptoms wie des Fragments, in der narrativen Einholung von kausalen Fallgeschichten, durch die organisierende Macht der Beobachtung in theatralen Expositionen oder durch die Veräußerlichungsstrategien in Aufführungspraxen des Körperlichen. Hier unterlaufen die Ergebnisse dieser Dissertation quasi ihre eigenen methodischen und definitorischen Vorgaben, überbieten sie damit zugleich und gelangen schließlich doch zu sehr aufschlussreichen Erkenntnissen über das „gattungsspezifische Wissen in Literatur und Medizin um 1800“.

Titelbild

Stephanie Bölts: Krankheiten und Textgattungen. Gattungsspezifisches Wissen in Literatur und Medizin um 1800.
De Gruyter, Berlin und Boston 2016.
445 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110426366

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