Chinoiserien und Sarotti-Mohren

Fanny Esterházys „Bildbiographie“ Arno Schmidts erinnert an die Virulenz deutscher Kolonialphantasien für dessen Leben und Werk

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum wir die Vita eines Autors nicht einfach ignorieren können

Es gab einmal eine Zeit, in der Literaturwissenschaftler glaubten, die Beschäftigung mit Schriftsteller-Biographien sei sinnlos. Das hatte mit poststrukturalistischen Ansätzen wie denen von Roland Barthes, Jacques Derrida und Michel Foucault zu tun. Die Nestoren der French Theory gingen davon aus, dass ein literarischer Text die Annahme einer wie auch immer gearteten Autorschaft gar nicht benötigt, um gedeutet zu werden.

Jede Theorie hat ihre Verdienste. Auch wenn insbesondere Barthes’ und Derridas Schriften eine dezidierte Unverständlichkeit kultivierten, deren literaturwissenschaftliche Adaption dazu führte, dass die betreffenden Interpretationen oftmals nichts als heiße Luft produzierten, war die Erkenntnis, dass jede Autorposition ein relativierbares Konstrukt ist, für die Literaturwissenschaft wichtig. Mehr noch: Der Dekonstruktivismus kann angesichts der traditionell extrem positivistisch ausgerichteten Arno-Schmidt-Forschung, die in den Diskussionen der Arno-Schmidt-Mailingliste mitunter sogar zum Ressentiment gegenüber der Literaturwissenschaft generell ausartet, mit seiner Konzentration auf das Primat des Textes geradezu befreiend erscheinen. Wo noch das letzte fiktive Detail mit der Brechstange in ‚wirkliche Orte‘ an historischen Schauplätzen übersetzt und die Intertextualität der Werke allein durch nachweisliche Lektüren und intentionale Zitate des Autors Schmidt dechiffriert werden soll, sehnt man sich fast schon wieder nach dem gleichmäßigen Rauschen des Jargons von Derridas „Grammatologie“ (1968) zurück.

Orthodoxe poststrukturalistische Prämissen verloren allerdings nach den 1980er Jahren an den Universitäten relativ schnell an Bedeutung. In der Literaturwissenschaft sprach man von der Rückkehr des Autors. Ganz ohne diese ‚Funktion‘ geht es letztlich wohl doch nicht: Insbesondere beim Blick auf die Geschichte der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur wäre eine Ausblendung der Biographie der behandelten Autoren sogar ethisch fragwürdig bzw. würde wesentliche Werkkontexte ignorieren, die für deren hermeneutische Erschließung zentral sind. Man denke hier nur an die Debatte, die W. G. Sebald 1993 mit einer Polemik über die Rolle Alfred Anderschs im Nationalsozialismus bzw. deren Verharmlosung in dessen Schriften nach 1945 anstieß.

Wissenschaftler wie Jörg Döring, Markus Joch, Felix Römer und Rolf Seubert griffen Sebalds Kritik in den letzten Jahren wiederholt auf, um der Verantwortung Anderschs als Ehemann einer von der nationalsozialistischen Verfolgung bedrohten jüdischen Frau, als Wehrmachtssoldat und als publizierender Autor im „Dritten Reich“ mittels akribischer biographischer Nachforschungen genauer auf den Grund zu gehen. Dabei ging es nicht etwa um eine selbstgerechte Abkanzelung des behandelten Schriftstellers und seines Gesamtwerks. Viemehr bemühten sich die genannten Forscher um die Klärung des Wahrheitsgehalts einzelner literarisierter Selbstdarstellungen, die von Andersch selbst als faktuale Berichte über Kriegserfahrungen ausgegeben worden waren und wesentlich zu seiner ethischen Positionierung im literarischen Feld nach 1945 beigetragen hatten. Vergleichbar kritische Untersuchungen zu Leben und Werk Arno Schmidts sind allerdings bislang rar.

Wesentliche Vorarbeit zu einer umfassenden Biographie Arno Schmidts

Arno Schmidt selbst, in vielerlei Hinsicht ein ähnlicher Fall wie Andersch, hätte für die literaturwissenschaftliche Dekonstruktion von Autorschaftskonzepten nur Hohn und Spott übriggehabt. Wer vorsätzlich dafür Sorge trage, dass die Vita eines Schriftstellers ein „weißer Fleck“ bleibe, der müsse „bestraft werden“, postulierte Schmidt in dem ihm eigenen barschen Ton. Damit bezog er sich in erster Linie auf seine eigene publizistische Tätigkeit als Biograph: 1958 hatte der Autor eine umfassende Monographie über Leben und Werk Friedrich de la Motte Fouqués vorgelegt und davor viel Lebenszeit darauf verwendet, das dafür nötige Material mühsam aus Archiven zusammenzutragen. In Schmidts Vorstellung musste der Schriftsteller jedoch auch selbst dafür Sorge tragen, dass er seiner Nachwelt möglichst exakte biographische Daten, Materialien und Selbstbeschreibungen überließ. Schmidt versuchte darüber hinaus sogar die Deutung seiner Werke nachhaltig zu beeinflussen. Darin treten nicht zuletzt durchweg Erzähler und Protagonisten auf, die mit einem besonders robusten Selbstbewusstsein ausgestattet sind und permanent den Eindruck erwecken sollen, es handele sich bei ihnen um Alter Egos des Autors. Wie Schmidt dulden auch sie keinerlei Widerspruch und machen sich gerne über Akademiker lustig, um zugleich sehr klare Vorgaben dazu zu machen, wie man generell mit Literatur umzugehen und sie zu verstehen habe. Gemeint waren damit sowohl die Werke der von Schmidts Erzählinstanzen diskutierten Schriftsteller aus der Literaturgeschichte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts als auch die eigenen Texte des Autors.

Mit anderen Worten: Kaum ein Autor der deutschen Nachkriegszeit hat soviele Angaben über sein eigenes Leben und dessen erwünschte Deutung hinterlassen wie Arno Schmidt. Paradoxerweise – oder gerade deshalb – liegt bislang immer noch keine ausführliche und umfassende Biographie über ihn vor, sieht man einmal von Wolfgang Martynkewiczs 1992 erschienener Rowohlt-Monographie oder auch Wolfgang Albrechts Metzler-Porträt von 1998 ab, die aber allenfalls als erste Versuche oder Vorstudien für ein solches Projekt gelten können. Die Aufgabe scheint, allein schon aufgrund des Materialreichtums und der Doppelbödigkeit der Schmidt’schen Selbstdokumentationen, auf berufene Wissenschaftler geradezu einschüchternd zu wirken. Bernd Rauschenbach von der Arno Schmidt Stiftung in Bargfeld, seit Jahrzehnten einer der besten Kenner des Lebens und Werks dieses Autors und noch dazu direkt an der Quelle des Bargfelder Nachlass-Archivs, versuchte einige Jahre lang tapfer, die Lücke zu schließen. Er brach das Projekt jedoch letztlich ab. Wie danach zu hören war, soll im Jahr 2015 der erfahrene Autor Sven Hanuschek, der u.a. eine vielbeachtete, 2005 erschienene Darstellung zu Leben und Werk Elias Canettis vorgelegt hat, nunmehr die Aufgabe übernommen haben, eine ausführliche Schmidt-Biographie für den Hanser Verlag zu verfassen.

Bis diese erscheint, können die Leser auf die bereits viel besprochene und gelobte „Bildbiographie“ von Fanny Esterházy zurückgreifen, die Bernd Rauschenbach mit kundigen einführenden Texten zu den Materialien flankiert hat. Der bibliophil gestaltete Band im Format eines Coffee Table Books für die Schöner-Wohnen-Elite hat einige Aufmerksamkeit erregt und scheint sich gut zu verkaufen. Er liegt nur wenige Monate nach seinem Erscheinen bereits in der zweiten Auflage vor. Selbst Denis Scheck berichtete im Ersten Deutschen Fernsehen über die Publikation, indem er vor der Kamera begeistert darin hin- und herblätterte. Scheck fällt seit Jahren als prominenter TV-Literaturkritiker auf, der den Avantgardisten Schmidt vor seinem Massenpublikum gerne als wichtigsten deutschen Nachkriegsautor rühmt, wenn er nicht gerade auf Kosten der deutschen Rundfunkbeitragszahler nach L.A. jettet, um in den Hollywood Hills mit schwäbischem Zungenschlag Werbung für den neuesten Christian-Kracht-Roman zu machen.

So viel Medieninteresse gab es zuletzt zu Schmidts 100. Geburtstag im Jahr 2014. Offensichtlich hat der Autor in den Medien eine Art Kultstatus zurückgewonnen, und zwar nicht nur durch das schillernde Fortspinnen seiner Poetik in vertrackten Werken der Gegenwartsliteratur wie denen Dietmar Daths, Reinhard Jirgls und Georg Kleins. Naserümpfen über halsbrecherische literarische Formexperimente war gestern: In gewissen Kreisen des Feuilleton-Publikums und des Literaturbetriebs gilt es wieder als schick, Schmidt gut zu finden. So zählt z.B. auch der Lifestyle- und Modefachmann Joachim Bessing als Schriftsteller seit vielen Jahren zu den lautstarken Arno-Schmidt-Verfechtern und verkündete im Oktober 2016 in seinem Tagebuch auf Waahr.de, dass er sich die teure „Bildbiographie“ zugelegt habe.

Die Herausgeberin Fanny Esterházy, die bis dato in der Schmidt-Forschung nirgends in Erscheinung getreten war und nun mit ihrem biographischen Meilenstein als Shootingstar am Firmament des Schmidt-Kosmos aufscheint, hatte als Lektorin zusammen mit Jan Philipp Reemtsma und dem renommierten Setzer der Publikationen der Arno Schmidt Stiftung, Friedrich Forssmann, seit vielen Jahren immer wieder gemeinsam Bücher gemacht. Forssmann, bereits seit Langem ein hoch gehandelter Vertreter seiner Zunft, hat Esterházys Band mit geschickter Hand gesetzt und darüber in einem Werbefilm des Suhrkamp Verlags gemeinsam mit ihr, Bernd Rauschenbach und seiner Stiftungs-Kollegin Susanne Fischer Auskunft gegeben. Fischer rühmt den Band hier eingangs als die „erste größere biographische Arbeit über Arno Schmidt, die überhaupt erscheint in der Welt“, während Forssmann mit dem kryptischen Hinweis, dass das Buchformat DIN A 4 eines sei, „das sich selbst ganz besonders wenig thematisiert“, wie ein gestandener Dekonstruktivist klingt.

Die Herausgeberin weist ihre Publikation im Vorwort ausdrücklich als „wesentliche Vorarbeit zu einer umfassenden Biographie“ aus und betont, dass sich ihr Band jeglicher Wertungen seines Materials enthalte. Tatsächlich bietet dieses umfassende und erlesen gestaltete Buch genau das: Bilder und Textfragmente, die zur Erläuterung von Schmidts Werk dienen können, jedoch nirgends eine weiterführende Kommentierung erfahren. Die „Bildbiographie“ setzt sich mithin aus lauter Dokumenten und Zitaten aus Schmidts Werk zusammen, die neben – teils erstmals zu sehenden – Reproduktionen von Privatfotos stehen. Die textuellen Selbstzeugnisse wurden kenntnisreich aus Schmidts umfangreichem Werk zusammengesucht und mit vielen erhellenden Brief- und Tagebuchformulierungen kombiniert.

Nicht nur kommende Biographen wie Hanuschek, sondern auch alle diejenigen, die sich als Leser näher mit Schmidt und seinem Werk befassen möchten, werden fortan nicht mehr an diesem dicken und gewichtigen Band vorbeikommen. In Sachen Publicity ist der Arno Schmidt Stiftung ein regelrechter Coup gelungen. Nüchtern betrachtet könnte man Schmidts Werk in der opulenten und zugleich übersichtlichen Aufbereitung der „Bildbiographie“ sogar Leserschichten schmackhaft machen, deren Aufmerksamkeitsspanne sonst eher auf Paolo Coelho, Bernhard Schlink und Martin Suter gepolt ist.

Der „Fragebogen“: Ungereimtheiten in Schmidts amtlichen Urkunden

Wie man seit langer Zeit weiß, fälschte Schmidt amtliche Dokumente. Der genaue Grund dafür ist bis heute nicht immer zweifelsfrei geklärt. Nun kann man sich also in der „Bildbiographie“ zum Beispiel auf drei großzügigen DIN-A-4-Seiten jenen berüchtigten Entnazifizierungs-Fragebogen im Farb-Faksimile ansehen, den Deutsche nach 1945 für das „Military Governement of Germany“ auszufüllen hatten, und nachlesen, was Schmidt dort angab. Diese Eigentümlichkeiten sind der Forschung zwar hinlänglich bekannt, ausdiskutiert sind sie aber noch lange nicht: In dem Formular ist von einem – nach wie vor nirgends nachweisbaren – Studium an der Universität Breslau die Rede, das von 1931 bis 1933 gedauert haben soll. Als „Grund für den Wechsel der Position oder die Beendigung des Dienstverhältnisses“ trug Schmidt am 21. Juli 1948 in seinen Fragebogen ein: „Freiwilliger Abbruch des Studiums zur Vermeidung von Komplikationen (Schwester heiratete 1931 einen jüdischen Kaufmann)“. Die Angabe stimmt mit einer fast identischen Formulierung in einer biographischen Skizze Schmidts überein, die Esterházy dem Dokument an die Seite gestellt hat: Er habe „ganz bewußt“ sein Studium abgebrochen, „um vor pseudoheroischen Komplikationen in selbstgewählte Unscheinbarkeit auszuweichen“.  

Wie auch in anderen Dokumenten der Zeit verschwieg Schmidt zudem sein tatsächliches Geburtsdatum (1914) und machte sich in dem Fragebogen durch die Angabe des Geburtsjahres 1910 vier Jahre älter. Warum diese Fälschungen? Die Fiktion des Breslauer Studiums sollte vielleicht, wie in der „Bildbiographie“ angegeben, die sich durch das unrichtige Geburtsdatum ergebende Lücke in Schmidts Lebenslauf wieder schließen. Allerdings wirkt der angebliche Grund für den Studienabbruch dadurch nicht weniger fragwürdig. Wollte sich Schmidt damit nachträglich zu Entlastungszwecken mit Hilfe der verbotenen Heirat seiner Schwester zu einem Opfer des Nationalsozialismus stilisieren, indem er in dem Fragebogen ein Studium erfand, dass er wegen des jüdischen Schwagers habe abbrechen müssen, um nicht weiter aufzufallen? Inwiefern hätte Arno Schmidt in einem solchen Studium und mit dieser Familiengeschichte 1933 überhaupt die erwähnten nebulösen „Komplikationen“ erleben oder gar verursachen können? Was genau war damit gemeint? Vermag es zu überzeugen, dass ein deutscher Student bereits im Jahr der Machtübernahme Adolf Hitlers sofort ein ganzes Studium abbrach, nur weil die Schwester seit 1931 mit einem Deutschen aus jüdischer Familie verheiratet war? Wurden „arische“ Studierende bereits zu diesem Zeitpunkt an deutschen Unis diskriminiert, wenn Verwandte mit Juden in den Bund der Ehe getreten waren? Welche gesicherten historiographischen Erkenntnisse ließen sich zu dieser Frage beibringen? Und wie verhielt sich Schmidt in jenen Jahren eigentlich selbst gegenüber seiner Schwester und ihrem Mann?

Manche autobiographisch grundierte Bemerkung literarischer Figuren aus Schmidts Spätwerk legt jedenfalls die Vermutung nahe, dass der Bruder die Liebesbeziehung der Schwester bereits vor der Heirat nicht ohne Argwohn betrachtete. Nähere Hinweise zu Schmidts nicht immer einfachem Verhältnis zu seiner Schwester und seinem Schwager Rudy Kiesler hat Bernd Rauschenbach bereits 2003 in seinem Beitrag „Schwager Levy“ gegeben. Dies ist nun allerdings auch schon wieder 14 Jahre her und zeigt, wie wenig sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten in der genaueren Erforschung der Biographie Schmidts getan hat – zumindest was derartig heikle Themen betrifft.

Auch Schmidts Soldatenfotos, die in der „Bildbiographie“ abgebildet sind, bleiben in ihrer Ambivalenz auffällig. Was für eine seltsame Art von Humor verbirgt sich hinter diesen bizarren Napoleon-Posen eines Mannes, der sich nach 1945 stets als radikaler Antimilitarist positionierte? Gut möglich, dass Schmidt tatsächlich „immer Nazigegner war“, wie Alice Schmidt 1963 an ihre Mutter schrieb. Mit dieser Behauptung wollte die Ehefrau die seltsame Entscheidung ihres Gatten verteidigen, einen langen Funk-Essay über den Nazi-Dichter Gustav Frenssen zu schreiben, dessen Werk Schmidt trotz allem teilweise schätzte. Doch ähnlich wie der umstrittene Frenssen-Funkessay nach wie vor Fragen aufwirft, vermögen auch die Dokumente aus Schmidts Lebensabschnitt zur Zeit des „Dritten Reiches“ nicht eindeutig zu klären, wie der Autor damals im Einzelnen genau zur NS-Ideologie stand. Bei Lichte besehen ist die Aktenlage dürftig. Die farbigen Faksimile-Präsentationen in Fanny Esterházys „Bildbiographie“ stoßen die Leser nun erneut auf die altbekannten Ungereimtheiten. Es bleibt zu hoffen, dass diese lückenhaften Materialien dazu anregen, derartigen Rätseln in Zukunft genauer auf den Grund zu gehen.

Die Familie Schmidt und die Geschichte deutscher Kolonialherrschaft

Esterházy gibt u.a. auch erstmals Einblick in das chinesische Fotoalbum von Schmidts Vater Friedrich Otto Schmidt, der sich 1907 freiwillig zum Kolonialdienst im Ostasiatischen Detachement der Hafenstadt Tsingtau meldete. Die abgebildete Doppelseite, die in der oben erwähnten Suhrkamp-Dokumentation kurz in Nahaufnahme zu sehen ist, sieht auf den ersten Blick aus wie die eines Urlaubsalbums, mit Bildern von der verfallenen chinesischen Mauer und exotistisch fokussierten chinesischen Gebräuchen und Posen. So harmlos, wie diese Fotografien des Großvaters dem Betrachter zunächst erscheinen mögen, war der Einsatz deutscher Kolonialtruppen in China allerdings nicht.

Eine Aussage Lucy Kieslers, die der Abbildung beigefügt ist, belegt, wie wichtig Arno Schmidt dieses Fotoalbum seines Vaters war. Dieser Teil der Schmidt’schen Familiengeschichte muss dringend präziser in den Kontext der lange Zeit verdrängten deutschen Kolonialgeschichte eingeordnet werden. Könnten doch derartige historische Hintergründe neues Licht auf die Chinoiserien werfen, die beispielsweise Schmidts postkolonialen Zukunfstroman „Die Schule der Atheisten“ (1972) prägen. 

Wie man dem Ausstellungskatalog „Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ entnehmen kann, war das Deutsche Reich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert „eine der großen europäischen Kolonialmächte“. Was das genau bedeutete, ist erst kürzlich wieder in die Schlagzeilen geraten: 1904 bis 1907 begingen die deutschen Kolonisatoren in „Deutsch-Südwest“, dem heutigen Namibia, einen Völkermord an den Herero und Nama. Rebekka Habermas’ Studie „Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft“ erinnert zudem daran, dass auch diese sogenannte Musterkolonie in Westafrika durch willkürliche Gewaltakte geprägt war und infrastrukturell auf der Zwangsarbeit der unterjochten Bevölkerung beruhte. Habermas’ Buch handelt von einem gewissen Geo Schmidt, der 1900 in der togolesischen Stadt Atakpame seinen Dienst als kolonialer Stationsvorsteher antrat und bald darauf aufgrund der Vergewaltigung einer minderjährigen Frau aus der Region in die Kritik geriet. Laut Habermas war dieses Verbrechen allerdings kein ungewöhnlicher Vorfall. Waren doch „mehr oder minder von Gewalt geprägte sexuelle Beziehungen zwischen Europäern und Afrikanerinnen gang und gäbe“.

Die Besetzung Tsingtaus bzw. Qingdaos und der chinesischen Bucht von Jiaozhou, an deren militärischer Erhaltung Arno Schmidts Vater beteiligt war, war 1897 von langer Hand geplant gewesen und sollte Deutschland einen „Platz an der Sonne“ weltweiter Kolonialmacht verschaffen. So rechtfertigte der seinerzeitige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Bernhard von Bülow, die gewaltsame Aktion. Wie Togo sollte auch Tsingtau als „Musterkolonie“ die „Leistungsfähigkeit des Kaiserreiches repräsentieren und so die deutsche Vorherrschaft legitimieren“, wie es im zitierten Ausstellungskatalog des Deutschen Historischen Museums heißt. Die zeitgenössische chinesische Presse schrieb über diese Annexion, die Besetzung sei ein „räuberischer und barbarischer Akt“. Die Deutschen führten in Qingdao eine zonale Rassensegregation ein, und die dennoch unweigerlich entstehenden sexuellen Beziehungen zwischen deutschen Männern und einheimischen Frauen kommentierte man gegenüber der europäischen Heimat gerne mit Scherzpostkarten, die der Spruch „In der Noth frisst der Teufel Fliegen“ zierte.

Die strikte Trennung deutscher und chinesischer Wohnviertel in Tsingtau begründete man mit rassistischen Zuschreibungen und daraus resultierenden hygienischen Notwendigkeiten: Die chinesische Bevölkerung stufte man als Krankheitsursache ein, vor der die deutschen und europäischen Bewohner zu schützen seien. Welche Spuren dieser Kolonialgeschichte, die bereits auf ähnliche Aspekte der späteren nationalsozialistischen Kolonial- und Vernichtungspolitik in Osteuropa vorausdeutet, im China-Album von Arno Schmidts Vater zu finden sein mögen, kann man als Leser der „Bildbiographie“ mangels genauerer Dokumentation oder Kommentierung der Quelle jedoch nicht einschätzen. Denkbar ist allerdings, dass Friedrich Otto Schmidt durch Geschichten wie die Geo Schmidts in Togo, die in der deutschen Presse zu seiner Zeit als veritables Medienereignis präsent waren, nicht nur aus exotistischen, sondern auch geheimen erotischen Vorstellungen heraus nach China aufbrach. Männlichkeit wurde zu seiner Zeit u.a. über rechtmäßige Akte einer kolonialen Eroberung definiert, die keinesfalls nur territorial gedacht wurden, auch wenn die ‚Vermischung‘ mit einheimischen Frauen als ‚Schande‘ galt.

Die augenzwinkernde Verteidigung sexueller ‚Kolonisation‘ kann man ja bereits an dem oben zitierten Postkarten-Spruch gut ablesen, der Verachtung und Gier auf abscheuliche Weise kombiniert. Laut Habermas verbarg sich hinter der deutschen Berichterstattung über Vorfälle wie die in Togo eine auffällige Ambivalenz: Hier ging es um Phantasien, die sich dem Publikum um 1900 „seit einigen Jahren aufgrund der zeitgenössischen Kolonialskandale, aber auch mittels Kolonialromanen, Reiseberichten und Lichtbildvorträgen vielen Männern und Frauen in Deutschland eingeprägt hatten: koloniale Phantasien, die von den Exzessen einiger weniger sex- und machtlüsterner Beamter beflügelt wurden, die angeblich außer Kontrolle geraten waren und sich an den armen, hilflosen Afrikanern und Afrikanerinnen schadlos hielten“.

Selbstvergewisserung durch die Konstruktion von Fremdheit

Soviel ist klar: Schmidts Familie war eine derjenigen, die zu dieser Zeit sogar aktiv mit dem aggressiven Imperialismus des deutschen Kaiserreiches in Berührung gekommen waren und dadurch auf Jahrzehnte geprägt wurden. Was Schmidt daran positiv sah, etwa mit der Erinnerung, seinem Alter Ego A&O aus dem Spätwerk „Abend mit Goldrand“ sei in der Kindheit der Name „Kon=Fu=Tse“ früher geläufig gewesen als Christus – „(war auch gut so)“ –, kann im Sinne weitgehend noch ausstehender postkolonialer Deutungen von Schmidts Werk auch zum Ausgangspunkt skeptischerer Nachforschungen werden. Kolonialistischen und rassistischen Vorstellungen begegnet man in Schmidts Texten bis ins Spätwerk hinein jedenfalls mehrfach. Damit sind Irritationen verbunden, welche die Forschung immer wieder beschäftigt haben, vom Großteil der Leser aber meist als bloße Rollenprosa eingestuft werden.

In diesem Kontext stößt einen die „Bildbiographie“ zudem erneut auf die zur NS-Zeit entstandene Schmidt’sche Privatmythologie der sogenannten Sarotti-Mohren. Der Autor führte diese papierenen Maskottchen sogar als Wehrmachtssoldat mit sich und platzierte sie auf einem Foto bedeutungsvoll neben sich, während er in Uniform auf einem Baumstamm im Wald saß. Giesbert Damaschke ist der regressiven Obsession des Ehepaars mit diesen „Sarotti-Mohren“, die bis in die frühen 1950er Jahre anhielt, schon einmal in einem Beitrag nachgegangen. Das Motiv gehörte demnach „zum festen Typenbestand der frühen Texte Schmidts“, der sogenannten „Juvenilia“, die zur Zeit des „Dritten Reiches“ entstanden. Wann immer dort seltsame oder exotische Figuren auftreten, „gehören zu ihrem Gefolge Mohren und wo immer Mohren auftreten, sind sie ein Zeichen für die Anwesenheit einer poetischen Gegen- und Fluchtwelt, deren Möglichkeit in den frühen Texten noch problemlos zu gelingen scheint“, wie Damaschke beobachtet hat.

Offenbar sollte die erwähnte fotografische Inszenierung des Soldaten Schmidt mit den „Sarotti-Mohren“ der betrachtenden Adressatin Alice den Fortbestand dieses phantastischen Fluchtpunkts in der Welt der Literatur selbst zu Kriegszeiten versichern. Die Beschwörung des Fetischs der „Mohren“ galt Schmidt womöglich als imaginäre Schutzfunktion gegen die Bedrohung eines möglichen Fronteinsatzes oder die generellen Belästigungen der soldatischen Kasernierung. Man kennt solche Szenen aus unzähligen Kriegsfilmen: So wie der Protagonist Desmond T. Doss (Andrew Garfield) in Mel Gibsons neuestem Werk „Hacksaw Ridge“ (2016) stets das Foto seiner Braut betrachtet, um in Momenten der Verzweiflung Trost und den Glauben an eine friedliche Zukunft zu finden, so ließ sich Schmidt als Wehrmachtssoldat mit seinen „Sarotti-Mohren“ fotografieren, um der Ehefrau daheim zu bedeuten, dass ihm und ihr der gemeinsame Ausweg in ihr privatmythologisch entworfenes Dichter-Elysium der „Juvenilia“ nach wie vor offenstehe. Wie auch mit seinem nicht zur Veröffentlichung gedachten handschriftlichen Frühwerk kannte Schmidt zu diesem Zeitpunkt für seine fotografische Selbstinszenierung nur ein Publikum: seine Frau Alice.

Nun allerdings liegen diese Bilder in Cinemascope vor uns, in einem Layout, das sich „nicht selbst thematisiert“ und die Fotos aus dem Nachlass wie in einer wohldurchdachten filmischen Fokussierung präsentiert. Dabei fallen plötzlich Dinge auf, die bis dato kaum beachtet wurden. Nicht thematisiert hat Damaschke in seinem Beitrag zum Beispiel die Diskursgeschichte der kolonialistischen Konstruktion von niederen und höheren „Rassen“, in die das beliebte Bild des „Sarotti-Mohrs“ eben auch gehörte, und zwar auf besonders massenwirksame Weise. Die Konstruktion rassischer kolonialer Überlegenheit funktionierte nicht nur über die zitierten Projektionen der Bedrohung, des Ekels und der Ansteckungsgefahr, sondern auch über orientalistisch konnotierte Inszenierungen des liebenswert erscheinenden infantilen „Mohrs“.

Kurz: In Kombination mit Schmidts Wehrmachtsuniform auf dem beschriebenen Foto im Wald und eingedenk der China-Erfahrung seines Vaters verdeutlicht die schrullige Sarotti-Privatmythologie die Tradition kolonialer Rassenvorstellungen sogar in Schmidts intimsten Selbstentwürfen. Es handelt sich um eine imaginäre Form der Selbstvergewisserung, die der damals von einer Mehrheit der Deutschen für ‚wahr‘ gehaltenen nationalsozialistischen Weltordnung keineswegs vollkommen entgegensteht. Vielmehr beruht ihre stabilisierende Funktion auf einer positiv gewendeten Fremdheitskonstruktion, die zudem mit der deutsch-nationalen Kolonialideologie des Vaters Friedrich Otto Schmidt vereinbar blieb. Mehr noch: Wie sehr derartige Konstruktionen von Fremdheit letztlich sogar bis heute wirksam sind, verdeutlicht ein Zitat des Postkolonialismus-Theoretikers Achille Mmbebe, das Rebekka Habermas in ihrer Studie zitiert: „Afrika still constitutes one of the metaphors through which the West represents the origin of its own norms, develops a self-image, and integrates this image into the set of signifiers asserting what it supposes to be its identity.“

Doch nicht nur die Fotos künden in der „Bildbiographie“ von der Aushandlung privater Utopien und Selbstentwürfe Schmidts, sondern auch die von Esterházy darin versammelten Zitate. Schmidts Rückzug ins ländliche Nirgendwo der norddeutschen Tiefebene war offenbar nicht immer Ziel aller Sehnsüchte, schon gar nicht für Alice Schmidt. Zeitweise scheinen die Eheleute in der frühen Nachkriegszeit von regelrechtem Fernweh gepackt worden zu sein. In ihrer Zeit in Cordingen in der südwestlichen Lüneburger Heide, also kurz nach dem Krieg, notiert Alice Schmidt, dass die Auswanderung einer benachbarten Flüchtlingsfamilie nach Kanada sie und ihren Mann neidisch gemacht habe. „Mich packt gewaltige Reiselust.“ Sie schreibt weiter: „Südhalbkugel, das wäre das Rechte. Wäre es nur erst soweit!“

Bekanntlich kam es nie dazu. Schmidt reiste bald nur noch mittels längerer Gedankenspiele, die zu literarischen Texten wurden – doch der Zusammenhang dieser Phantasien mit kolonialen Vorstellungen, wie sie seinen Vater beeinflussten, und mit (post-)kolonialen literarischen Texten, die Schmidt gelesen haben mag, um sie als Anregungen für seine Romane zu nutzen, bleibt ein Desiderat. Erste einschlägige Studien wie Monika Albrechts Aufsatz über Schmidts „Gelehrtenrepublik“, Stefan Höppners Dissertation über Schmidts Amerikabild oder auch Klaus Theweleits Monographie „You Give Me Fever“ liegen zwar bereits vor, doch dürfte damit noch lange nicht alles zu dem Thema gesagt sein. Daran erinnert die „Bildbiographie“ auf eindringliche Weise: Sie weckt nicht nur nostalgische Gefühle, sondern für den kritischen Betrachter ist sie voller Fotos, die frappieren und verstören. Der Band sollte also nicht nur als wohlig durchblätterbares Museum Schmidt’scher Skurrilitäten rezipiert werden, sondern als Ausgangspunkt kritischer fotohistorischer und literaturwissenschaftlicher Nachforschungen dienen.

Literatur

Monika Albrecht: „Mir war nie wohl in meiner rosa Haut.“ Arno Schmidt’s ‚Kurzroman‘ „Die Gelehrtenrepublik“ aus postkolonialer Sicht. In: Timm Menke und Robert Weninger (Hrsg.): Der Prosapionier als Letzter Dichter. Acht Vorträge zu Arno Schmidt (­Hefte zur Forschung 6). Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld 2001, S. 5372.

Jörg Döring / Felix Römer / Rolf Seubert: Alfred Andersch desertiert. Literatur und Fahnenflucht (1944-1952). Berlin: Verbrecher 2015.

Jörg Döring / Markus Joch (Hrsg.): Alfred Andersch revisited. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte. Berlin/Boston: de Gruyter 2011.

Stefan Höppner: Zwischen Utopia und Neuer Welt: Die USA als Imaginationsraum in Arno Schmidts Erzählwerk. Würzburg: Ergon-Verlag, 2005.

Bernd Rauschenbach: Schwager Levy. In: Robert Weninger (Hrsg.): Wiederholte Spiegelungen. Elf Aufsätze zum Werk Arno Schmidts (Bargfelder Bote, Sonderlieferung). München: edition text & kritik 2003, S. 8–19.

Klaus Theweleit: „You give me fever“. Arno Schmidt. Seelandschaften mit Pocahontas. Die Sexualität schreiben nach WW II. Frankfurt am Main: Stroemfeld 1999.

Titelbild

Fanny Esterházy (Hg.): Arno Schmidt. Eine Bildbiographie.
Mit einführenden Texten von Bernd Rauschenbach.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
456 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783518804001

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Titelbild

Deutsches Historisches Museum Berlin (Hg.): Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart.
Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2016.
334 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783806233698

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Titelbild

Rebekka Habermas: Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
391 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972290

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