Vom Kreislauf des Lebens in kolonialen Zeiten
Maria Dermoûts „Die zehntausend Dinge“ verknüpft Historie und indigene Narration
Von Sebastian Engelmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Abgeschiedenheit des Gartens auf einer der vielen Inseln des Archipels – wie sie auf den ersten Seiten von Maria Dermoûts Die zehntausend Dinge beschrieben wird – wirkt verwunschen, fast schon nicht real. Viel weniger verwunschen als die Sprache ist die Biografie der Autorin – diese ist untrennbar mit der Kolonialgeschichte Europas verbunden. Helena Anthonia Maria Elisabeth Dermoût-Ingerman lebte von 1888 bis 1962. Sie stammt von einer javanischen Zuckerplantage, die auch in ihrem Buch von 1955 immer wieder erwähnt wird. Die Autorin selbst ist dort, wo sie ihre Geschichte ansiedelt, verwurzelt. Niederländisch-Indien, die Bezeichnung der Kolonialherren für einen Teil des heutigen Indonesiens, ist ebendiese Region, in der die sich netzartig entspinnende Romanhandlung spielt. So wird aus dem abgeschiedenen Garten ein greifbarer, historisch verortbarer Raum.
Dermoût begründete quasi das Subgenre der niederländisch-indischen Literatur. Die Relevanz ihres Romans war schon mit seinem Erscheinen1955 evident und 1958 wurde das Werk vom Time Magazine zu einem der besten Bücher der Welt gekürt. Die Neuübersetzung wagt sich nun an eine möglichst genaue Abbildung der oralen Erzähltradition, der sich Dermoût verpflichtet fühlte, wie die Übersetzerin Bettina Bach in ihrer editorischen Notiz hervorhebt. Allein dieser Vorspann mit seinen Hinweisen auf den kolonialen Hintergrund, die Betonung oft wenig beachteter Stimmen der indigenen Bevölkerung und der besondere Ausdruck aufgrund der Bewahrung der Erzählstruktur machen Lust auf mehr.
Zugegebenermaßen ist dieser Erzählstil zunächst gewöhnungsbedürftig – wirkt er doch eher singend als sprechend, einerseits faszinierend und andererseits doch sehr fremd. Die intensive Beschreibung des „verzauberten“ abgelegenen Gartens in der ersten Episode erscheint aber mit den Seiten immer adäquater beschrieben. Die Geschichten der indigenen Bevölkerung, gelesen durch die Brille der interessierten Niederländerin sind ergreifend und die Erzählform, dem repetitiven Moment einer Trommel gleichend, zunehmend packend. Zum anderen erzeugt die Form des Erzählens aber auch eine besondere, ungewöhnliche zeitliche Struktur. Die Naturbeschreibungen und die Beschreibung des rhythmischen Lebens der Menschen machen es möglich, den gesamten Roman als Kommentar zum menschlichen Dasein zu lesen.
Es gelingt der Autorin, eine Geschichte vom Leben selbst zu erzählen. Sie verweist auf die Vergänglichkeit aber eben auch auf die Schönheit. Menschen – wie die Großmutter der ersten beiden Geschichten – wirken teilweise zeitlos. Aber auch sie sterben irgendwann. Junge Frauen verlassen ihr Zuhause als Kinder und kehren selbst mit Kindern an den Ort ihrer Herkunft zurück. Beladen sind sie mit den Erinnerungen. Die Kinder wiederum sammeln ihre eigenen Erfahrungen. Und auch sie gehen fort und kehren zurück.
Manchmal kehren sie aber nicht zurück. Der Tod gehört – und dass macht die Autorin deutlich – zum Leben dazu. Die Botschaft innerhalb der Texte ist, dass man sich vor diesem nicht zu fürchten braucht. Nur wenn der Mensch den Anspruch hat mehr zu sein als das, was er in den Grenzen seines Mensch-Seins sein kann, dann wird der Tod zur nahenden Gefahr und zu einem Grund der Sorge.
Dieses Grundmotiv wird in den einzelnen Romankapiteln Die Insel, Der Kleine Garten, Der Regierungskommissar, Constance und der Matrose, Der Professor und Allerseelen konsequent wieder aufgegriffen. Neben dem Motiv des ewigen Zirkels von Leben und Tod tritt der geografische Rahmen der Handlung immer wieder in den Mittelpunkt. Ausgehend von der Verortung in Niederländisch-Indien – und hier meine ich tatsächlich diesen kolonialen und damit auch immer konstruierten Raum – wird deutlich gemacht, dass unter den kolonialisierten Verhältnissen eine mehr als eigenständige Kultur schwelt, die sich auch abseits des Zugriffs durch die Kolonialherren der damaligen Zeit entwickelte. Und an dieser Stelle verorte ich die eigentliche aktuelle Relevanz des Romans Die zehntausend Dinge.
Es gelingt Maria Dermoût, den Blick auf die Mythen, Geschichten und Weltzugänge der indigenen Bevölkerung zu lenken, ohne ihnen das Recht abzusprechen und ohne sie als weniger wertvoll zu stigmatisieren. Stattdessen erscheint das Verhalten der Europäer in ihrem Roman teilweise verwunderlich. Der Professor im vorletzten Kapitel wirkt in der Welt der Inseln mehr als deplatziert. Trotzdem wird er nicht abgelehnt, sondern von den Menschen freundlich aufgenommen. Sie finden ihn durchaus seltsam. Aber sie verurteilen ihn nicht für seine Andersheit. Zwar ereilt ihn ein gewaltsamer Tod, dieser hat aber nichts mit den „wilden Ureinwohnern“ zu tun, sondern schlicht mit der allgemein menschlichen Gier nach mehr und mehr Gütern und Geld.
Damit ist das zweite zentrale Thema benannt:Niederländisch-Indien wurde als Handelsraum erschlossen. Die Kolonien sollten Waren liefern, Profit generieren. Dafür wurden Mensch und Natur ausgebeutet. Sklavenhandel war an der Tagesordnung. Handel, so wird deutlich, ist nichts, was unbedingt wertgeschätzt wird. Die damit oftmals verbundene Gier ist etwas, gegen das es sich zu wehren gilt. Denn zumeist führt das Verlangen nach Mehr zu Trauer und zu späterem Verlust. Dies zeitigt sich auch in der Atmosphäre des Wegbrechens der Kolonialherrschaft, die nur noch ein Schatten ihres einstigen „Glanzes“ ist. Maria Dermoût nutzt hierfür die Beschreibung von ausgestorbenen Häusern und auch den Verweis auf die zurecht durch die indigene Bevölkerung kritisierten Autoritätsverhältnisse. Ihr Blick hierbei ist kritisch und die Beschreibung der Verfallsgeschichte der Kolonien zutreffend und eindrücklich.
Maria Dermoût korrigiert so die Geschichtsschreibung der Kolonisatoren und macht darauf aufmerksam, dass immer eine eigenständige Kultur in Niederländisch-Indien existierte, die sich in teilweise noch heute in Indonesien findet. Besonders beeindruckt das Buch an den Stellen, wo es einfühlend kulturelle Praktiken beschreibt: Musik, Tanz, Tauziehen. Das Buch von Maria Dermoût ist nicht etwa nur ein Blick von außen auf ein nicht zu verstehendes Anderes, sondern ein tiefes Eintauchen in die Inselwelt der Molukken. Die sprachlichen Besonderheiten unterstreichen das facettenreiche Leseerlebnis und eröffnen Räume für das eigene Träumen und Denken, ganz über kulturelle Grenzen hinweg.
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