Melancholie, Musik und Selbstregierung

Gesa Frömmings Studie Pastorale liest Wielands Werke in einem komplexen Spannungsfeld

Von Jakob Christoph HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Christoph Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon der Untertitel ihres Werkes zeigt an, dass Gesa Frömmings Arbeit ein komplexes Zusammenspiel analysieren will: „Musik, Melancholie und die Kunst der Selbstregierung“ in Christoph Martin Wielands Werk sind Gegenstand der Auseinandersetzung. Die umfangreiche Studie, hervorgegangen aus einer Dissertation an der Vanderbilt University, nimmt schon in der Einleitung und entgegen dem Untertitel eine nachvollziehbare Einschränkung vor: Zentral für die Untersuchung sind Wielands Roman Der goldne Spiegel (in der Erstfassung von 1772), sein 1773 entstandenes Drama Die Wahl des Herkules und seine Aufsätze zum Musiktheater (von 1773 und 1775). Die Texte werden, flankiert von Verweisen auf eine Vielzahl anderer Werke des Autors, einer detaillierten Lektüre unterzogen. Frömmings Vorgehen ist dabei insgesamt als wissensgeschichtlich zu charakterisieren: Sie widmet sich Wielands Verhandlung des Ideals pastoraler Regierung im Kontext zeitgenössischer Abhandlungen und Positionen aus Anthropologie, Medizin, Ästhetik und Politik.

Der zentrale Begriff von Frömmings Studie, „Pastorale“, hat eine weit zurückreichende Geschichte, die sie in ihrer Einleitung nur knapp skizziert. Im englischen und romanischen Sprachraum – wie auch in der Anglistik und Romanistik – referiert Pastorale generell auf die (prätendierte) Hirten- und Schäferdichtung von Theokrit bis zur Gegenwart und umspannt damit, wie Klaus Garber schreibt, jene Gattungen, die in der Germanistik als (frühneuzeitliche) „Bukolik“ und, ab Salomon Geßner, „Idyllik“ bezeichnet werden. Vertrackter wird die Begriffsgeschichte durch die Theologie, die das Tätigkeitsfeld der Seelsorge als „Pastoral“ tituliert, und durch die mindestens bis Platon zurückzuverfolgende politische Tradition, die das Verhältnis von Herrscher und Beherrschtem analog zu jenem von Hirte und Herde konzipiert. Letztere analysierte bekanntermaßen Michel Foucault in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität. Das christlich verstandene Pastorat stelle, so Foucault, ein „Vorspiel [zur] Gouvernementalität“ (Sicherheit, Territorium, Bevölkerung) dar: Es ist ein Ensemble von Machttechniken und -verhältnissen, das mit seiner Subjektivierungsleistung und seinen Kontrollfunktionen die – ich verkürze – Vorgeschichte zum biopolitischen Paradigma liefert.

Frömming positioniert sich mit ihrer Verwendung des Begriffs gewissermaßen zwischen den Stühlen: Von der literaturhistorischen Gattungstradition nimmt sie einzig das Motiv des Goldenen Zeitalters auf – pastorale Szenarien spielen sich inmitten von „Unschuld, Glückseligkeit und Natur“ ab – und schneidet somit etwa die selbstreflexive und politische Dimension bukolischer Dichtung ab. Die eher textwissenschaftliche Perspektive wird von Frömming überzeugend erweitert durch Einbeziehung der musikhistorischen Tradition der Pastorale: Szenisch-musikalische Formen, die in der Hirtenwelt situiert sind. Die theologische Dimension bleibt größtenteils außen vor, an der politischen Dimension interessiert Frömming vor allem die Vermittlung von Regierungskompetenz an den Herrscher. „Das pastorale Paradigma gesellschaftlicher Machtausübung“, schreibt sie in der Einleitung, „schreibt männlichen Autoritätsfiguren […] die Aufgabe zu, die Glückseligkeit der ihrer Macht Unterworfenen zu sichern bzw. zu restituieren.“ Als zentrale „Voraussetzung gelingender pastoraler Machtausübung gilt dabei vor allem die Fähigkeit pastoraler Autoritäten zu vernünftiger Selbstregierung“.

Den Zusammenhang dieses Herrschaftsphantasmas mit der Melancholie fokussiert Frömming auf zweierlei Art: Einerseits ist Melanochie der „dunkle Untergrund, vor dem die pastorale Spielart aufklärerischen Glückseligkeitsdenkens ihre Konturen gewinnt“, andererseits stellt sie jenes Leiden dar, das den Regenten befällt und so als somatische Selbstkritik der Regierungspraxis taugen kann – sinnfällig wird das insbesondere im Goldnen Spiegel. Vor diesem Hintergrund lassen sich, so Frömming, „Wielands Werke […] als Versuch lesen, die prekäre soziale und politische Dynamik, die innerhalb des pastoralen Paradigmas der Machtausübung entsteht, reflexiv zu brechen“.

Musik schließlich erhält ihre Rolle in Frömmings Analyse aufgrund ihres ambivalenten Status: Zum einen ist sie – bei Wieland – „symbolischer Inbegriff ‚unschuldiger‘ Glückseligkeit“, zum anderen aber kann sie als Sprache der Leidenschaften die erfolgreiche Selbstregierung gerade aushebeln; soziale Normen können durch das von Musik beseelte Individuum verletzt werden. Wie eine Wiederholung der bekannten Ambivalenz des pharmakon mutet es da an, dass Musik auch im 18. Jahrhundert zum Therapeutikum melancholischer Verstimmung auserkoren wurde: Sie kann der „Wiederherstellung“ des in der Melancholie „verloren gegangenen Gleichgewichts zwischen Körper und Seele“  dienen, indem sie – in Maßen genossen – ordnend und disziplinierend auf die Einbildungskraft wirke.

Das komplizierte Verhältnis von Musik, Melancholie und Selbstregierung – weniger Regierung der Anderen – bildet so das eigentliche Zentrum von Frömmings Arbeit. Sie wolle, so fasst sie die Zielsetzung zusammen, eine „Konstellation [rekonstruieren], innerhalb derer Musik und Melancholie als wechselseitig aufeinander bezogene Momente innerhalb eines prinzipiell unabschließbaren Reflexionsprozesses erscheinen, der in enger Beziehung zur Ausbildung des Autonomiegedankens und zur Ideengeschichte dessen steht, was die Aufklärer unter dem Begriff der ‚Mündigkeit‘ verhandeln“.

Diese Formulierung des Untersuchungsziels ist in meinen Augen problematisch. Denn der Autonomiegedanke referiert nicht notwendig auf das pastorale Ideal, übrigens ebenso wenig wie im Pastorat notwendig von Politik gesprochen werden kann, gerade wenn man diese Herrschaftsform an die Idee des Goldenen Zeitalters – die Abwesenheit von Politik qua Naturalisierung von Herrschaft – koppelt. Indem sie ‚Mündigkeit‘ als zentralen Gegenstand der Untersuchung benennt, stellt sie ihre Arbeit in den Kontext der Untersuchungen der Epoche der Empfindsamkeit und der Analysen der in ihr virulenten Theorien der Affektregulierung.

Dieser Schwerpunktwechsel, den Frömming selbst beiläufig im Verlauf ihrer Einleitung vornimmt, zeigt sich auch in der Anlage der gesamten Studie. Fast zwei Drittel widmen sich nahezu ausschließlich Wielands Der goldne Spiegel, auf die Analyse der Wahl des Herkules und der musikästhetischen Schriften entfallen etwas über einhundert Seiten. Die Auseinandersetzung mit der Wieland’schen Version eines Fürstenspiegels kann dabei vollauf überzeugen. Frömmings Lektüre analysiert die Analogisierung von individuellem und Staatskörper ebenso luzide wie die Naturkinderutopie und die Doppelbödigkeit der Therapie Schah-Gebals.

Einzig: Musik spielt in diesen Zusammenhängen eine allenfalls untergeordnete Rolle. Ihren prominentesten Auftritt hat sie mit dem Flötenspiel und Gesang der (weiblichen) ‚Naturkinder‘ des Psammis. Die detaillierte und lesenswerte Analyse des Werkes als Auseinandersetzung mit der pastoralen Idealbildung – und Kritik ebendieser – aber kann auf Musik verzichten. Dafür spielt diese die Hauptrolle in den letzten Kapiteln der Arbeit. Die Frage nach pastoraler Macht allerdings rückt in den Hintergrund und wird verdrängt durch eine Analyse von Wielands musikalischer Wirkungsästhetik. Frömming arbeitet schlüssig heraus, wie das Musiktheater von Wieland als Bühne für den gelingenden Wechsel von „Affektation und kritischer Reflexion“ konzipiert wird. Die Auseinandersetzung mit (pastoraler) Regierungspraxis ist zugunsten der Einübung von Subjektivität aus dem Blickfeld geraten. Hinzu kommt, dass dieser Wechsel von Affiziert-sein und Reflexion – samt seiner Fallstricke, Aporien und Grenzen bereits im Goldnen Spiegel thematisch wird. In ihrer Architektonik kann Frömmings Arbeit nicht vollends überzeugen – dafür aber umso mehr in den Einzelanalysen.

Titelbild

Gesa Frömming: Pastorale. Musik, Melancholie und die Kunst der Selbstregierung im Werk von Christoph Martin Wieland.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
416 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835315037

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch