Bewohnte Philosophie

Sarah Bakewell lädt in „Das Café der Existenzialisten“ ein

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass er eine Berühmtheit geworden war, erkannte Jean-Paul Sartre spätestens am 28. Oktober 1945, als der damals 40-Jährige einen Vortrag im Pariser Club Maintenant hielt. Der Ticketschalter war im Nu gestürmt, der Saal hoffnungslos überfüllt, Stühle gingen zu Bruch. Sogar im „Time Magazine“ erschien zu dem Ereignis ein Foto, untertitelt mit: „Der Philosoph Sartre. Frauen sanken in Ohnmacht.“

Würde heute noch jemand wegen eines Philosophen ohnmächtig werden? Wohl kaum – selbst wenn er keine „wulstigen Zackenbarsch-Lippen“, abstehende Ohren und in verschiedene Richtungen schauende Augen hätte wie der nur 1,53 Meter große, an einer Sehstörung leidende Franzose, sondern so gut aussähe wie, sagen wir, Richard David Precht. Im Nachkriegseuropa – von kollektivistischen Ideologien verwüstet und orientierungslos zurückgelassen – wurde der Existenzialismus in einem Maße populär und zum Lebensgefühl einer Generation, wie es heute nur noch schwer vorstellbar ist.

Bis jetzt jedenfalls. Denn eine von Sarah Bakewell vorgelegte fulminante Gesamtschau lässt nun diese philosophische Bewegung, die die Freiheit und Verantwortung des Einzelnen entdeckte, wiederauferstehen. Und lässt dabei nichts aus: nicht Sartres Horror vor allem Klebrigen, nicht Albert Camusʼ Trost unter der Mittelmeersonne, nicht die angesagtesten Kleidungsstile in den Pariser Cafés und Clubs. Wer hätte gedacht, dass vor dem notorischen schwarzen Rolli unter Existenzialisten ausgerechnet karierte Holzfällerhemden hip waren?

Bakewells Gabe, selbst die anspruchsvollsten Philosopheme verständlich wiederzugeben, macht die Lektüre zu einem intellektuellen Vergnügen ersten Ranges. Gleichermaßen kenntnisreich wie leichtfüßig erzählt die englische Autorin, die im deutschsprachigen Raum 2012 mit ihrer Montaigne-Biografie Wie soll ich leben? bekannt wurde, von den Ideen, Vertretern und Werken des Existenzialismus, dessen Ursprünge sie überzeugend in der Phänomenologie Edmund Husserls verortet. Weil dessen Beschreibungsmethode, 1933 von Sartre von Berlin nach Paris importiert, allein auf die konkreten Dinge blickt, befreie sie „uns von politischen und ideologischen Scheuklappen“ und besitze „ein überraschend revolutionäres Potenzial“, erinnert Bakewell.

Sartre ist in Bakewells Darstellung, mit seiner Lebens- und Denkgefährtin Simone de Beauvoir im Schlepptau, die eine Hauptfigur. Die andere ist Martin Heidegger, der meist in einen Schwarzwälder Bauernrock gekleidete, in einem selbsterfundenen Kauderwelsch raunende „Zauberer von Meßkirch“, dessen Popularität zu Lebzeiten heute sogar noch erstaunlicher anmutet als die Sartres. Neben diesen Protagonisten hat Bakewell aber noch zahlreiche Nebenfiguren in ihr „Café der Existenzialisten“ eingeladen, darunter Karl Jaspers, Gabriel Marcel, Simone Weil und Edith Stein.

Bakewells titelgebendes Bild vom Café als Leitmetapher ihres Buches liegt zwar auf der Hand, ist aber auch heikel, weil die Autorin damit die Illusion einer Gesprächskultur erweckt, an der ihr Personal in der Realität immer wieder scheiterte: Regelmäßig zerbrachen Freundschaften wie die zwischen Sartre und Maurice Merleau-Ponty. Bakewell schildert sogar, wie sich Camus und Arthur Koestler auf offener Straße beleidigten und prügelten. Und als sich Sartre und Heidegger, der das Hauptwerk des Franzosen für „Dreck“ hielt, tatsächlich einmal begegneten, 1953 in Freiburg, hatten sie sich schlichtweg nichts zu sagen, muss Bakewell vermerken.

Und erfindet deshalb unverdrossen eine Szene, wie ihre beiden Helden, beide passionierte Skifahrer, bei einem gemeinsamen Ausflug „mit geröteten Wangen die Skihänge hinunterfliegen, während der Wind ihnen die Worte abschneidet“. Die Wirklichkeit mit ihren unrealisierten Potenzialen konfrontieren, das macht Bakewell auch an einer anderen, ungleich wichtigeren Stelle: bei der Frage um Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus.

So hätte „der brillanteste und meistgehasste Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts“ (Bakewell) mit seinen warnenden Reflexionen über die Herrschaft des unpersönlichen „Man“ in Sein und Zeit eigentlich vor Hitler gefeit sein müssen. Stattdessen erklärte Heidegger, der sich von den Nazis zum Rektor der Universität Heidelberg ernennen ließ, seinem entsetzten Freund Jaspers auf die Frage, wie ein so ungebildeter Mensch wie Hitler Deutschland regieren könne: „Bildung ist ganz gleichgültig. Sehen Sie sich seine wunderbaren Hände an!“

Man merkt bei der Lektüre, wie erklärungsbedürftig, auch vor sich selbst, der Autorin ihre lebenslange ambivalente Faszination für Heidegger ist, die während des Studiums mit einer unvollendet gebliebenen Doktorarbeit begann. Bakewells Vita, angefangen mit der ersten Lektüre von Sartres Der Ekel als 16-Jährige („Von da an vernachlässigte ich die Schule, um zu existieren.“), spielt in ihrem Buch eine überraschend große, aber auch einleuchtende und nie aufdringlich werdende Rolle: Existenzialismus blende das Leben gerade nicht aus, sondern sei ein Beispiel für eine „inhabited philosophy“, eine „bewohnte“ Philosophie, zitiert Bakewell die englische Romanautorin Iris Murdoch.

Und heute? Wissen wir nicht längst von den fröhlichen Denkern der Postmoderne, wie lächerlich und pathetisch Vorstellungen wie „Authentizität“, „Freiheit“ und „Verantwortung“ sind? Oder sind diese Fragen im Zeitalter von Facebook, NSA und Flüchtlingskrise nicht aktueller denn je? Wenig überraschend, hat Sarah Bakewell dazu eine klare Meinung: „Wenn man liest, was Sartre über Freiheit, Beauvoir über die subtilen Mechanismen der Unterdrückung, Kierkegaard über Angst, Albert Camus über die Revolte, Heidegger über Technik und Merleau-Ponty über Kognitionswissenschaften zu sagen haben, beschleicht einen oft das Gefühl, die neuesten Nachrichten zu lesen.“ So ist es.

Titelbild

Sarah Bakewell: Das Café der Existenzialisten. Freiheit, Sein und Aprikosencocktails.
Übersetzt aus dem Englischen von Rita Seuß.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
448 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406697647

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch