Ein Tag im London der Zukunft

William Morris‘ Utopie „Kunde von Nirgendwo“ neu aufgelegt in der alten, angestaubten Übersetzung

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wenn ich nur einen Tag der neuen Zeit erleben könnte“, sagte der Mann sich: „Nur einen einzigen Tag!“ Hitzig und lang hatte er mit anderen Männern seines Klubs über einen Zukunftsstaat diskutiert, über den Zustand der Welt nach der Revolution, heftig war es gewesen. Unzufrieden ging er nach Hause und schlief. Und als er am nächsten Morgen aufwachte, wunderte er sich: Als er ins Bett ging, war es Winter, „jetzt bekundeten die grünbelaubten Bäume am Ufer, dass es Sommer war, und zwar allem Anschein nach ein herrlicher, heller Frühjunimorgen“. Und die Themse hatte sich auch verändert, war so rein und klar, dass er gleich hineinsprang, um zu schwimmen. Und sah plötzlich weiter flussaufwärts Netze für den Lachsfang. Erstaunt fragte er den Fährmann neben ihm: „Ist denn das die Themse?“

Ja, die Welt hatte sich verändert, der Erzähler, von dem alle wegen seiner Kleidung glauben, er wäre lange im Ausland gewesen, entdeckt sie mit großer Verwunderung: die Themse sauber, London in eine ländliche Idylle umgebaut, die Luft rein und klar. Staunend läuft er durch ein utopisches England, ein England der Zukunft, in dem es kein Geld mehr gibt und kein Eigentum, in dem jeder das und so viel arbeitet, wie er will: Denn Arbeit macht Spaß, jeder macht mit Begeisterung das, was er kann und worauf er Lust hat, und wenn sie keinen Spaß mehr macht, macht er etwas anderes. Jeder hat genug zum Leben, kann sich nehmen, was er braucht, und niemand kommt auf den Gedanken, an sich zu raffen, zu behalten, nicht zu teilen. Ein neuer Freund merkt, dass er meint „dass alle Arbeit Plage sei. Wir sind von diesem Gedanken so weit entfernt, dass bei uns, die wir, wie Sie bemerkt haben werden, recht wohlhabend sind, schon die Besorgnis aufgestiegen ist, eines Tages könnten wir zu wenig Arbeit haben. Die Arbeit ist ein Vergnügen, welches wir zu verlieren fürchten, keine Plage.“

Eine schöne Utopie stellt der Roman Kunde von Nirgendwo von William Morris vor, das gleichzeitig eine heftige Kritik an den damaligen Zuständen ist. Es spielt um 1890 (in diesem Jahr erschien das Buch) und etwa 100 Jahre später, die Revolution hat nach einem blutigen Bürgerkrieg gesiegt, und sie hat nicht nur eine anarchistische Gesellschaftsform hervorgebracht mit zufriedenen Menschen und begeisterten Kindern, sondern auch einen ökologischen, nachhaltigen Umgang mit der Welt. Es gibt keine Fabriken mehr, die ihre Abfälle in die Luft und in die Flüsse ableiten. Parlamente, Gefängnisse, Gerichtshöfe, öffentliche Meinungen und Schulen sind abgeschafft, man braucht sie nicht mehr. Die Menschen tragen phantasievolle Kleidung, Möbel und Häuser sind verspielt, das Miteinander der fröhlichen Menschen ist entspannt, freundlich und wertschätzend. Was dem Erzähler alles völlig fremd ist.

In der Reihe „Utopien für Hand und Kopf“ ist das Buch jetzt in der alten, verstaubten und oft umständlichen Übersetzung aus dem Jahr 1900 von Natalie Liebknecht und Clara Steinitz, durchgesehen von Wilhelm Liebknecht, erschienen, die aus dem einfachen Satz „The dustman bowed as gracefully as a troubadour“ den Satz drechselten: „Der Kehrichtkärrner verneigte sich mit der stolzen Anmut eines Troubadours“ machen und aus „glorious hall“ ein „wundervolles Schloss“. Und das ist sehr schade. Eine frischere Neuübersetzung hätte ihm schon stilistisch ein wenig aufhelfen können, auch wenn Morris‘ Originaltext schon nicht sehr kunstvoll war: Gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Das Vorwort ist passenderweise stilistisch auch verquer und trägt nicht viel zum Verständnis von Morris‘ Ideen bei, es ist von einem Menschen, der „im Bereich ‚Film‘ tätig“ ist, meint, dass sich Morris „kunsthandwerkliche Tätigkeiten aneignete“ (nicht Kenntnisse oder Fertigkeiten), und einmal bekundet: „Was die Zielvorstellungen der beiden Utopien betrifft, stehe ich ganz klar auf Seiten William Morris‘“. Interessiert uns das von jemanden, den wir nicht kennen? Kaum.

Morris ist allerdings auch weniger als Literat bekannt und mehr als Kunsthandwerker. 1834 geboren (er starb 1896), studierte er in Oxford, befreundete sich mit Edward Burne-Jones und Dante Gabriel Rossetti, mit denen er bald anfing, Möbel zu designen und zu bauen, Tische, Stühle, Schränke und eine Sitzbank – die armen Studenten hatten kein Geld, sich welche zu kaufen. Zusammen gründeten sie dann 1861 die Firma Morris & Co., in der Nachfolge der Präraffaeliten: Handwerk und Kunst gehörten für sie zusammen. Später kamen Wandteppiche und Glasgemälde dazu. Morris gründete 1877 eine Gesellschaft zum Erhalt historischer Bauwerke, aus der der National Trust entstand.

Gemeinsam mit seiner Tochter May, Eleanor Marx, Edward Aveling und Friedrich Engels legte Morris die Grundlagen zur sozialistischen Bewegung in England, 1884 organisierte er die Socialist League. Engels allerdings nannte Morris einen „Gemütssozialisten“, Ernst Bloch sprach von einer „kunstgewerblichen Utopie“.

Titelbild

William Morris: Kunde von Nirgendwo. Roman.
Mit einem Vorwort von Marcel Seehuber.
Übersetzt aus dem Englischen von Natalie Liebknecht und Clara Steinitz.
Edition Nautilus, Hamburg 2016.
283 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783960540205

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