Das Anthropozän ist schon vorbei

Verstörend und schön: Pola Oloixaracs Hacker-Roman „Kryptozän“

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Debatten, ob das Anthropozän überhaupt existiert, sind noch nicht beendet, da ist dieses Zeitalter des Menschen schon wieder vorbei. Das zumindest legt Pola Oloixarac nahe. Sie postuliert das „Kryptozän“, ein Zeitalter ebenso abstrakter wie omnipotenter Programmierung. Der gleichnamige Roman der Argentinierin mag größtenteils in der nahen Zukunft angesiedelt sein – ihre Themen aber sind verwurzelt im Heute. Die Botschaft ist klar: Das Kryptozän dämmert herauf.

Hauptfigur des schmalen Romans ist Cassio Liberman Brandão da Silva. Schon als Junge tat er sich als außergewöhnlicher Hacker hervor. Während der Rest der Welt erste, noch tapsige Schritte im Internet machte, beherrschte das Genie Cassio bereits meisterhaft die Codes. Im Laufe des Buches wird aus dem Jungen, der sich besser auf Computer-Viren denn auf Mädchen versteht, ein Mitarbeiter beim wohl wichtigsten Projekt Argentiniens, vielleicht sogar der Welt: Stromatolithon, das massenhaft die genetischen Daten der Bevölkerung aus- und verwertet. Die analoge Welt beginnt sich aufzulösen, die virtuelle, verschlüsselte, geheime übernimmt. Und sie ermöglicht dank der berechneten Lebenslinien präzise Voraussagen über das Verhalten jedes einzelnen Menschen.

„Durch die chrono-geografischen Lebenslinien entstand ein informationeller Doppelgänger jedes Bürgers, der sich befragen ließ, ohne dass der menschliche Vektor der Linie – der ein Bewusstsein hatte – irgendwie darin verwickelt war. Dieser immer verfügbare Doppelgänger mischte sich nicht in das nackte Leben ein, aber er spiegelte es in seinen quantifizierbaren Aspekten wider.“ Wer die sprachliche Abstraktion aufbricht, entdeckt das Grauen. Stromatolithon ist der Leviathan in der Welt der Informationstechnologie, „das absolute Gehirn-Auge“. Datenschutz ade. Realer Anknüpfungspunkt dieser Fiktion ist die Nationale Gendatenbank Argentiniens, die 1987 zur Aufarbeitung des Kindsraubs während der Militärdiktatur gegründet wurde. Es ist kein großer Schritt von dieser zu einer vollständigen Erfassung der DNA aller Bürger. Was Oloixarac daran anschließend ausmalt, ist lediglich die umfassende technische Auswertung dieser Daten. Was machbar ist, das wird bekanntlich auch getan. Ihr Roman sei als „Spiegel“ angelegt, erklärte die Autorin in einem Interview. Ein Spiegel, „dessen Bild der Gegenwart vielleicht fünf Minuten voraus ist“.

Neben diesem 1983 beginnenden Hauptstrang um Cassio gibt es noch zwei weitere: Da wäre zum einen Piera. Die Biologin arbeitet, wir befinden uns im Jahr 2024, mit dem erwachsenen Cassio bei Stromatolithon. Sie ist das Gegenelement zu diesem: Sie vermisst die Natur, er manipuliert sie mit der Technik. Und da wäre zum anderen Niklas Bruun, die Hauptfigur des wohl eigentümlichsten Erzählstrangs. Der Naturforscher nämlich reist im 19. Jahrhundert auf der Suche nach allerlei merkwürdigen Lebewesen durch Südamerika. Diese kulminiert schließlich in der Bekanntschaft der Riesenratte Hoichi, die in einem Laboratorium im Dschungel Frauen als Bioreaktoren gefangen hält. Fantasy verwoben mit Science-Fiction, Pornographie sowie Bildungs-, Abenteuer- und Gesellschaftsroman. Insbesondere in diesem Teil entfaltet sich nach und nach die ganze Wucht von Oloixaracs Prosa. Pulsierend, regelrecht berauschend ist ihre Sprache. Nüchterner gehalten, technischer ist dagegen die Wortwahl in den anderen beiden Teilen – wenn auch nicht weniger intensiv.

Ebenso schillernd wie die Sprache ist die Themenwahl, denn Oloixarac lässt kaum etwas aus in ihrem zweiten Roman. Kryptozän ist nicht nur eine an Datenschutz und Hypertechnisierung aufgezogene Dystopie, sondern auch Wirtschafts- und Politsatire. Ob das nationalsozialistisch getränkte Erbe Argentiniens oder die Mechanismen moderner Großunternehmen, die 39-Jährige weist in kleineren Szenen immer wieder auf weitergehende Themenkomplexe hin. Schon ihr erster, noch nicht auf Deutsch erschienener Roman Las teorías salvajes ist gespickt mit gezielt provokanten Themen.

Wild und orgiastisch, verrückt und ernst ist Kryptozän. Da wird Monica Lewinsky zur „Visionärin kommender Zeiten“ erhoben, weil sie das Kleid mit den Spermaspuren Bill Clintons aufbewahrt, „also manuell DNA-Proben gesammelt“ hatte. Und da „erkundeten Cassios Hände auf der Bürotoilette die Orografie von Melinas Brüsten wie zwei Raumsonden – Mariner I und Mariner II starteten gleichzeitig, um Proben in der Venusatmosphäre zu sammeln“. Oloixaracs Roman ist ein Monstrum, das den Leser ebenso fasziniert wie irritiert zurücklässt. Und es gibt wahrlich Schlechteres, das sich über ein Buch sagen ließe.

Titelbild

Pola Oloixarac: Kryptozän. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Timo Berger.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016.
192 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783803132802

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