Geschlecht als Muster

James Tiptrees jr.s nichtfiktionale Texte sind ebenso lesenswert wie ihre Storys

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich stellt die Unendlichkeit Wissenschaft und Forschung vor ungezählte Fragen. Gut möglich, dass es sogar unendlich viele sind. Eine dieser nicht selten paradox anmutenden Fragen könnte etwa sein, ob und gegebenenfalls wie es möglich ist, dass zwar einige der sie betreffenden Fragen bereits beantwortet sind, aber dennoch unendlich viele offen bleiben.

Der Titel eines Sammelbandes mit größtenteils nichtfiktionalen Texten der unter dem Pseudonym  James Tiptree jr. publizierenden Science-Fiction-Autorin Alice B. Sheldon verspricht nun nicht weniger, als zu erklären, Wie man die Unendlichkeit in den Griff bekommt. Der Band ist in drei Teile untergliedert, dessen erster, Briefe aus Yucatán und anderen Orten der Seele, mehr als drei Viertel des gesamten Umfanges ausmacht. Unter dem Titel Nette Zettel folgen einige Gedichte – viel mehr hat die Autorin wohl auch nicht verfasst. Beschlossen wird der Band mit Auszügen aus dem Briefwechsel zwischen Tiptree und ihrer nicht weniger renommierten Science-Fiction-Kollegin Ursula K. Le Guin.

Wurde dieser letzte Teil von der Tiptree-Biografin Julie Philips herausgegeben und kommentiert, so die ersten beiden von Jefrey D. Smith, einem hierzulande recht unbekannten SF-Fanzine-Herausgeber und -Autor, der Tiptree vor bald einem halben Jahrhundert um ein schriftlich zu führendes Interview bat. Sie sagte zu und im Laufe der Jahre entwickelte sich eine, wie Smith zweifellos mit ebenso viel Recht wie Stolz sagt, „enge Freundschaft“ zwischen den beiden, die erst mit dem Tod der Autorin im Jahr 1987 endete. Tiptree selbst nannte ihn einmal den „unerschrockensten und ehrenhaftesten unter den Männern und Fans“. Mehr kann man sich als Fan wohl kaum wünschen.

Wie Smith darlegt, wurden in den ersten Teil alle von der Autorin publizierten oder zur Publikation vorgesehenen nichtfiktionalen Texte aufgenommen. Dies erklärt, warum ihre Dissertation außen vor blieb. Doch verzichtete Smith auch darauf, Sheldons frühe Kunst-Kolumnen abzudrucken, da sie ihm „zu weit von unserem Fokus abzuweichen“ schienen. Eine bedauerliche Entscheidung, die unter anderem dazu führte, dass die meisten der enthaltenen Texte ursprünglich in SF-Fanzines erschienen. Außerdem hat Smith einige Auszüge aus an ihn gerichteten Briefen der Autorin eingefügt.

Die ersten und frühesten Texte wirken sprachlich zwar noch so, als wolle sich eine bereits etwas ältere Dame dem von postpubertierenden Jungs geprägten SF-Fandom anbiedern, indem sie versucht, dessen hemdsärmeligen und vermeintlich lässigen Jargon zu imitieren. Doch dieser Eindruck verliert sich recht schnell. Und SF-Fans werden die Fanzine-Texte und Briefauszüge in jedem Fall mit Interesse und Freude lesen, lässt sich aus ihnen doch nicht zuletzt einiges über Tiptree, ihre Inspirationen und ihre Art zu schreiben erfahren.

Das Themenspektrum der Texte erweist sich darüber hinaus als recht weit gefächert und überschreitet auch schon einmal die Grenzen, innerhalb derer sich SF-Fanzines im Allgemeinen bewegen. Zunächst einmal wären da zahlreiche Reise-Kolumnen vornehmlich über Aufenthalte in Mexiko, genauer gesagt in Yukatan, von wo Sheldon etwa über ihre Begegnungen mit Maya berichtet. Andere Reisen führten sie beispielsweise in die „kanadischen Rockies“. Bei den Kolumnen handelt es sich nicht etwa um Urlaubsgeschichten, sondern fast schon um kleine Studien über Land und Leute – oder anlässlich eines Krankenhaltaufenthaltes in Mexiko über das dortige Gesundheitswesen und dem Leiden der Leute nicht nur an ihren Gebrechen, sondern auch an diesem. Es kann allerdings durchaus vorkommen, dass ihr während der Niederschrift einer dieser Reisekolumnen urplötzlich einfällt, dass sie „ja eigentlich über SF schreiben wollte“, und schon wechselt sie das Thema und legt los.

In einem der biografischen Texte erklärt sie, warum sie vor einigen Jahrzehnten zur „Army“ ging und sich zugleich „in den frühen Formen der amerikanischen Linken herumtrieb“. Sie hatte der „abscheuliche[n] Ausbreitung des Nationalsozialismus“ nicht tatenlos zusehen wollen, die nicht nur für sie ein „zentrale[s] Ereignis“ war, sondern für ihre „ganze Generation“. Nicht viel später, in den Jahren 1945 und 1946, hielt sie sich als Angehörige der US-Army in Deutschland auf, „um ein dauerhaftes Berufskommando in der amerikanischen Zone zu errichten“. Auch darüber berichtet sie in dem Buch. Wie ernst sie die Arbeit an den autobiografischen Texten nahm, zeigt wiederum die kaum 20 Seiten umfassende Biographische Skizze für Contemprory Authors, an der sie zwischen 1980 und 1982 immer wieder feilte, bevor sie sie schließlich zur Publikation freigab.

Andere eher essayistische Texte legen etwa die Wahrheit über das Altern offen oder sie handeln von einem Spezialthema ihres Genres, der Zukunft, die „vielleicht realer“ sei als „das Jetzt“. Denn die Gegenwart „vergeht dauernd“, die Zukunft aber ist „immer da“.

Selbstverständlich spielt das Genre der Science Fiction immer wieder eine Rolle in den Texten. So erläutert sie ihre Ansicht  darüber, was eine gute Geschichte ausmacht, bekennt andererseits aber auch, dass sie es „nervtötend“ findet, „wenn Autoren es versäumen, alles zu durchdenken, eine Szene ganz durchzuarbeiten, mit all ihren handlungsrelevanten ‚trivialen‘ Faktoren, die tatsächlich Mühe kosten. Und das große Ganze tragen und kaputt machen können.“ Hingegen bricht sie eine Lanze für Geschichten, die dazu animieren, den hermeneutischen Zirkel zu schlagen, wobei sie allerdings „triviale Verwirrspielchen“ hasst, das stilistische Mittel der Ellipse hingegen liebt.

Was ich wirklich mag, sind Geschichten, bei denen man mitten in eine sehr fremd anmutende Szenerie hineingeworfen wird. […] und das ganze seltsame Zeug darin kommt einfach ganz natürlich daher. […] und dann entschlüsselt sich der Sinn nach und nach beim Weiterlesen, bis am Ende plötzlich dieser ganz große Scheinwerfer auf die kryptischen Details vom Anfang fällt.

Das geht wohl allen SF-Fans ebenso.

Neben allgemeineren und grundsätzlichen Bemerkungen über das Genre äußert sich Tiptree auch zu ihrem eigenen Werk und plaudert ein wenig aus dem Nähkästchen der Schreibwerkstatt ihres story-tellings. Originell vergleicht sie ihre fertigen Storys mit Festzugswagen und sich selbst (oder andere AutorInnen) mit der Person, die „in verschwitzten Jeans“ das „alte LKW-Fahrgestell“ darunter steuert und „das Kassettendeck bedient“.

Im Grunde sei, „alles“, was sie schreibt“, eine „einzige Story“, bekennt sie einmal. Das erinnert ein wenig an Arthur Schopenhauer, der von seiner Philosophie ganz ähnlich sagte, sein ganzes System drehe sich um einen Gedanken. Das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen der SF-Autorin und dem Philosophen, wie sich zeigt, wenn Tiptree sich als „Pessimist[i]n mit schwarzem Gemüt“ charakterisiert.

Bei Tiptree personifiziert sich ‚der eine Gedanke‘ respektive ‚die eine Story‘ stets in einem gutgläubigen, „rückständigen, kleinen Kerl“, der sich irgendwann einmal übergeben muss und „schnurstracks den Berg hochrennt“. Es könne aber auch ein „Mädchen“ sein, das in eine Salzgrube hinunterläuft. „Erbrochenes“ komme aber in jedem Fall vor. Natürlich ist das metaphorisch gemeint. Schließlich geht es um Science-Fiction.

Wenn sich Tiptree über ihr Genre und seine – oder genauer gesagt: ihre – Themen äußert,  muss es natürlich auch um Sexualität und (das Verhältnis der) Geschlechter gehen. Beide Themen spricht sie gleich in einer ganzen Reihe von Texten an.

In der Ausgabe Women in Science Fiction eines Fanzines diskutierten SF-AutorInnen schriftlich über das titelstiftende Thema des Hefts. Unter ihnen einige der bekanntesten SF-AutorInnen wie Ursula K. Le Guin oder die Feministin Joanna Russ. Tiptree selbst war mit drei längeren Diskussionsbeiträgen vertreten. Sie wurden in den vorliegenden Band aufgenommen und gehören zum Interessantesten, was er zu bieten hat. Die (so darf man sagen) frühe Gendertheoretikerin argumentiert in ihnen gegen das „Yin und Yang-Denken“ einander komplementär ergänzender Geschlechter und bezieht nachdrücklich Stellung gegen die „üble Denkgewohnheit“ des gängigen Geschlechterdualismus‘, bei dem Aktivität mit männlich, Passivität mit weiblich assoziiert wird; Verstand als männlich, Gefühl als weiblich gilt usw. Zwar bejaht Tiptree die Frage, ob es zwei Geschlechter gibt, erklärt jedoch, dass es sich bei ihnen um „Muster“ handele, die, „einzeln oder zusammen, bei einem bestimmten Individuum vielleicht vorhanden sein können oder auch nicht.“ Es sind dies auch nicht etwa ein männliches und ein weibliches Muster, sondern ein männliches und ein mütterliches. Denn die Autorin „definiert Geschlecht unter dem Aspekt der „Reproduktion der Gattung“, während sie der Kopulation, „dem geheiligten Totem unserer Zeit“, für die Geschlechterbestimmung keine große Bedeutung beimisst. Bei ihren MitdiskutantInnen fanden ihre Ausführungen wenig Zustimmung, sodass sie nach dem dritten Beitrag aus der Diskussion ausstieg.

Angesichts der zu ihrer Zeit insbesondere in der feministischen Forschung umstrittenen Frage, „ob es einen weiblichen und einen männlichen Schreibstil gibt“, erklärt Tiptree in einem der Texte, sie „denke, es gibt eine allgemeine menschliche Art zu schreiben“. Allerdings gebe es tatsächlich einen bestimmten geschlechtsspezifischen Unterschied, nämlich „was das schlechte Schreiben betrifft“.

Wenn Frauen schlecht schreiben, dann wenden sie sich von den weitreichenden Sorgen der Menschheit ab und verfallen in private Belanglosigkeiten. Wenn Männer schlecht schreiben, geht es um irgendeine unterbelichtete Schnapsidee, wobei ihre realen Konsequenzen für die Menschheit außer Acht gelassen werden – etwa ihre Kriege.

Auch vom Geschlechterunterschied und der gesellschaftlichen Geschlechterhierarchie in der realen Welt hat sie eine klare Vorstellung und geißelt vehement „die den Himmel verdunkelnde Präsenz des Patriarchats, die von Männern bestimmte Gesellschaft, überall um mich herum und über mir“. Tiptree konstatiert zudem eine „überlegene männliche Gewalt“, die sich, wie sie ironisch formuliert, etwa darin manifestiere, „dass wenige Männer Angst haben, wenn sie in einer dunklen Straße an einer einzelnen Frau vorbeigehen“. Auch zeigt sie sich „entsetzt“ vom „Zwang“ der Männer zu „Konkurrenzkampf, Aggression und Dominanzverhalten“. Daher sei Krieg zu führen auch „Männersache“, erklärt sie und erläutert die auf den ersten Blick biologistisch und geradezu reaktionär anmutende Feststellung mit bitterem Sarkasmus:

Frauen bekommen nur die langweiligen Nebenaspekte des Krieges mit, wie in My Lai erschossen oder in Bergen-Belsen vergast zu werden. […] Oder weil sie gerade zufällig in Hiroshima sind, oder die Nebenwirkungen von Gas oder biologischen Waffen aushalten müssen, oder Sklavenarbeit leisten, Vergewaltigung mit Todesfolge, oder schlicht verhungern; oder auch der alte Klassiker, der jetzt ein wenig außer Mode gekommen ist, Aufspießen ihrer Säuglinge, in oder außerhalb der Gebärmutter. […] Frauen im Krieg sind kurz gesagt, langweilig. Kein Ruhm, kein Kampf voller Siegestrunkenheit. Das ist Männersache. […] Natürlich mögen auch Frauen erfüllt sein von verborgenem Hass und auch sie tun ihren Gefangenen schreckliche ‚Dinge an […]. Aber das Böse existiert bei Frauen typischerweise in einem kleineren Maßstab, heimlich oder indirekt.

Aus all diesen (und einigen anderen) Gründen bezeichnet sich Sheldon auch dezidiert als „sehr überzeugte Feministin“ und präzisiert, sie sei noch eine „von der alten Schule, als wir einen Großteil unserer Kämpfe allein ausgefochten haben“. Sie habe „aber durchaus auch eine Sympathie für die wilderen Manifestationen der Frauenbewegung“. Da die Männer aber nun einmal die Macht haben und aufgrund ihrer eigenen „körperlichen, politischen und wirtschaftlichen Schwäche“ sei die Frauenbewegung allerdings „auf die zivilisierte Akzeptanz der Männern angewiesen“.

In Zeiten von Donald Trump klingt eine dunkle Vorahnung Tiptrees über die Zukunft der Frauenrechte geradezu prophetisch:

Und die Dinge werden sich nicht verbessern. Wenn unser System mit Schwierigkeiten konfrontiert wird, und das wird es, fürchte ich, dann wird es die Befreiung der Frau sein, der man dafür die Schuld gibt. Unsere ‚Rechte‘ werden dahinschmelzen wie Schnee im Sommer, während die stärkeren, aggressiveren Tiere unter uns ihrer Frustration freien Lauf lassen werden.

Wie alle Fans wissen, schlagen sich Tiptrees (feministische) Ansichten auch in ihrer Literatur nieder. Man denke nur an die Kurzgeschichte „Frauen, die man übersieht“ aus dem Band Liebe ist der Plan. Die rhetorische Frage eines Textes des vorliegenden Buches, „wenn Männer schon immer alleine Kinder groß gezogen hätten, als wie monumental, wie privilegiert würden wir diese Aufgabe dann betrachten“, wiederum weist auf den erst Jahre später erschienenen Roman Die Mauern der Welt hoch (engl. Original Up the Walls of the World 1978) voraus.

Tiptree tritt ihren eigenen Storys gegenüber stets sehr selbstkritisch auf. So zögert sie nicht, auch den „schlimmsten Reinfall“, den sie „je ins Werk gesetzt“ hat, anzusprechen. Eine ihrer ersten Storys, Doktor Ains letzter Flug fand sie „schlichtweg zum Kotzen“, als sie sich diese nach etlichen Jahren wieder ansah. Was sie „als saubere Prosa im Gedächtnis hatte“, erschien ihr nun zäh „wie Kaugummi“. Eigentlich handele es sich bei der Geschichte gegen den Ökozid ja um eine „gute Story“, doch habe sie sie „vergewaltigt“.

Über andere, namentlich genannte AutorInnen spricht Tiptree hingegen fast ausschließlich positiv. Dass sie einmal Kritik äußert oder ihr eine Rezension gar zum gnadenlosen Verriss gerät wie im Falle ihrer Besprechung von James McConkeys SF-Roman Kayo, ist höchst selten. Hingegen kann sie ausgerechnet von Philip K. Dick gar nicht genug schwärmen und bekennt, sie bewundere ihn „bis zum Umfallen“. Diese überschwängliche Begeisterung verwundert nicht nur den Herausgeber Smith, den Dicks Texte „zu Tode“ langweilen, sondern befremdet auch den Rezensenten nicht eben wenig.

Hingegen wird Tiptrees Bewunderung für Dick von beider Science-Fiction-Kollegin Ursula K. Le Guin geteilt, wie sich bei der Lektüre des Briefwechsels zeigt. Die Korrespondenz der beiden Autorinnen begann am 7. April 1971 und endete erst 16 Jahre später mit Sheldons Suizid. Der vorliegende Band bietet bedauerlicherweise jedoch nur einige „kurze Auszüge“ aus den Schreiben der Jahre 1971 bis 1976. Vermutlich waren für die beschränkte Auswahl auch Gründe des Persönlichkeitsschutzes noch lebender ZeitgenossInnen ausschlaggebend.

Wie dem auch sei, der vorliegende Band bietet jedenfalls nicht nur für alle Tiptree-Fans eine höchst interessant Lektüre (das versteht sich von selbst), sondern auch für alle anderen, die sich überhaupt mit Science-Fiction-Literatur beschäftigen. Was aber nun „die Sache mit der Unendlichkeit“ betrifft, so sei hier nur verraten, dass es „harte Arbeit“ ist, sich mit ihr zu befassen.

Titelbild

James Tiptree Jr.: Wie man die Unendlichkeit in den Griff bekommt.
Septime Verlag, Wien 2016.
453 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783902711427

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