Schlechte Erziehung

Florjan Lipuš’ Internatsroman „Der Zögling Tjaž“ ist das poetische Protokoll einer Zerstörung

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Zeiten einer oft aggressiv und mit großem Pathos vorgetragenen Rückbesinnung auf die vermeintlich eindeutige, kaum je aber weiter erläuterte und auch offenbar nicht hinterfragbare nationale Identität, wie sie heute in zahlreichen europäischen Ländern um sich greift, bietet die Neuausgabe des Erstlingsromans Der Zögling Tjaž von Florjan Lipuš samt einer 2013 entstandenen Nachschrift Anlass zum Nachdenken über regionale Identitäten und sprachliche wie kulturelle Diversität innerhalb eines politischen Staates.

Ausgrenzung und Abschottung gegenüber dem Anderen impliziert immer auch die Kenntnis darüber, was das Eigene sei. Darüber reflektiert wird aber jenseits der Großbegriffe Abendland und dumpf-emotionaler Aufwiegelung kaum. Als Schlagwort und Kampfbegriff im Rahmen des Buhlens um Wählergunst, wie das jüngst ist Österreich geschehen ist, mag eine solch simplifizierende Dichotomie von Fremdem und Eigenem funktionieren. Genauerem Hinsehen und auch historischer Differenzierung hält ein solches, auf emotionale Kurzzeitwirkung zielendes Modell nicht stand. Wann zum Beispiel ist oder war der historisch korrekte Zustand, der Auskunft geben kann über das ‚authentisch‘ Eigene? Soll an den Befindlichkeiten des gegenwärtigen Österreichs oder am Staatsvertrag von 1955 oder am Beispiel der Monarchie festgemacht werden, wer dazugehört, wer teilhaben darf an der nationalen Identität?

Am hierzulande wenig bekannten literarischen Werk von Florjan Lipuš lässt sich diese Problematik durchaus exemplarisch nachvollziehen. Dabei sind seine Texte mehr als nur Geschichtslektionen in Literaturform. Sie zeichnen sich vielmehr und vor allem durch einen eigenwilligen ästhetisch-poetischen Anspruch aus, was der zuletzt in der deutschen Übersetzung von Johann Strutz erschienene Roman Boštjans Flug (2005) eindrücklich unter Beweis gestellt hat. Sie weisen auch über die genuin österreichische historische Situation und die Frage nach dem Umgang mit ethnischen Minderheiten wie den Kärntner Slowenen hinaus, indem hinter den konkreten geschichtlichen Ereignissen und Entwicklungen das Allgemeingültige der literarisierten Geschichte deutlich wird: dass Diskriminierung, Ausgrenzung und Hass historisch gesehen keine Gewinner, sondern immer nur Verlierer kennen.

Der 1937 im kärntnerischen Lobnig geborene Lipuš ist einer der bedeutendsten literarischen Vertreter der Kärntner Slowenen und schreibt ausschließlich in slowenischer Sprache. Im Mittelpunkt seiner Romane, Erzählungen und Prosaskizzen stehen immer wieder die Darstellung und Anklage von Nazi-Greueltaten sowie die Rolle der Katholischen Kirche und ihrer Institutionen. Das Bewusstsein und die kulturelle Identität der Kärntner Slowenen, deren Anteil an der Kärntner Gesamtbevölkerung im frühen 20. Jahrhundert noch rund ein Viertel ausmachte, prägen Lipuš’ literarisches Werk. Die vorliegende Ausgabe des 1972 im jugoslawischen Slowenien im Original erschienenen Romans über den Internatsschüler Tjaž greift auf die bereits 1981 entstandene Übersetzung von Peter Handke und Helga Mračnikar zurück. Die Übersetzung der von Lipuš 2013 publizierten „Nachschrift“ zum Roman (Erkundungen nach dem Namen) stammt von Johann Strutz. In ihr wird deutlicher als im Roman Position bezogen gegen die oft nur latent vorhandene, im sogenannten Ortstafelstreit der 1970er Jahre um die zweisprachige Beschriftung kärntnerischer Ortsschilder offen zutage getretene historische Diskriminierung der slowenischen Minderheit in Österreich.

Wenn auch die Hauptfigur und seine Biografie Ähnlichkeiten mit dem Autor aufweist, so ist der Zögling Tjaž nicht mit Florjan Lipuš zu verwechseln. Über die relativ kurze Handlungszeit des Romans von Tjaž Ankunft im katholischen Internat bis zu seinem Verweis von der Schule und seinem Selbstmord berichtet bis auf Kapitel acht und neun ein Mitschüler, der offenbar von der Schulleitung den Auftrag dazu bekommen hat. Dabei ist die Erzählsituation und Erzählhaltung recht eigenwillig. Äußere Vorgänge und Handlungen treten gegenüber der Schilderung von inneren Befindlichkeiten und dem Blick auf die psychische Entwicklung des Protagonisten, dem eine „Entwicklungsrückständigkeit“ unterstellt wird, fast vollständig zurück. Das ist insofern verwunderlich, als Lipuš damit einen Ich-Erzähler einsetzt, der nicht der Protagonist ist – aufgrund seines Selbstmordes könnte er die Geschichte ja auch nicht mehr erzählen – aber der offenbar in seinem Nachsinnen über den Mitschüler dessen Gedanken und Sprache an- und einzunehmen imstande ist. Es ist daher nur sinnfällig und für den Leser kaum irritierend, dass das Erzählerwissen an vielen Stellen über das hinausgeht, was er eigentlich wissen kann. Damit ist gleichzeitig die ästhetische Grundhaltung des Textes benannt: Intensive Einzelsituationen werden in poetischer, abstrahierender und bisweilen rauschartiger Sprache evoziert und bleiben von der Schilderungsperspektive her dicht an der erzählten Figur, also am Zögling Tjaž. Die Handlungsarmut und die für den Leser oft übergangslos wechselnden Fokalisierungen machen die Lektüre nicht unbedingt einfacher und auch die exegetischen Selbstreflexionen des Ich-Erzählers bleiben oft unverständlich und funktionslos.

Natürlich sucht der Roman sowohl mit seiner – wohl auch in der slowenischen Sprache des Originals begründeten – archaischen und altmodisch wirkenden lexikalischen und syntaktischen Struktur den Anschluss an jene vor allem mit Robert Musil verbundene Tradition des Adoleszenz- und Internatsromans der Jahrhundertwende. Schon der Titel, der im slowenischen Original Zmote dijaka Tjaža lautet und wörtlich wohl eher mit „Die Irrtümer des Schülers Tjaž“ zu übersetzen wäre, sucht den intertextuellen Bezug zu Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß von 1906. Der bei Musil entfaltete, grundlegende Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Entgrenzung und Integration greift Lipuš zwar auf, wählt aber mit dem Selbstmord des Protagonisten eine radikalere Perspektive zur Lösung dieses Konflikts.

Titelbild

Florjan Lipuš: Der Zögling Tjaž. Roman und Nachschrift.
Mit einem Nachwort versehen von Fabjan Hafner.
Übersetzt aus dem Slowenischen von Peter Handke, Helga Mra?nikar und Johannes Strutz.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2016.
324 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783990270097

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