Das bipolare Wesen

Peter Richter schreibt eine kleine Mentalitätsgeschichte Dresdens

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dresden machte in den letzten Monaten nicht gerade durch positive Meldungen auf sich aufmerksam. Ins Rampenlicht war die sächsische Hautstadt vor allem durch die Pegida-Aufmärsche geraten, 2016 wurden am Tag der Deutschen Einheit zahlreiche Politiker mit hasserfüllten Parolen empfangen. Ihr Weg zu den Veranstaltungsorten glich einem Spießrutenlauf. Zuletzt geriet Dresden wegen des Protests gegen eine Kunstinstallation vor der Frauenkirche in die Schlagzeilen. Der Deutsch-Syrer Manaf Halbouni erinnerte mit drei hochkant aufgestellten Buswracks an ein Foto aus der zerstörten Stadt Aleppo von 2015. Aufgebrachte Gegner ließen ihn bei der Eröffnungsrede kaum zu Wort kommen.

Während Dresden in der Außenwahrnehmung derzeit vor allem als „Stadt der notorisch rechten Deppen und verbiesterten Alten, der Loser aus der DDR“ wahrgenommen wird, wie Peter Richter formuliert, zeigt sich ein völlig anderes Bild jenseits aller Klischeevorstellungen, wenn man einen Blick auf die zahlreichen Willkommensbündnisse, Vereine und Initiativen wirft, die sich für Migranten und Flüchtlinge einsetzen. Und auch die eher links-alternativ geprägte Dresdner Neustadt mit dem jährlich stattfindenden Fest Bunte Republik Neustadt passt so gar nicht in das Bild, das sich viele von Dresden machen.

Peter Richter, Autor und Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York, widmet sich in seinem Essay Dresden Revisited seiner Heimatstadt und sucht nach Gründen für die Zerrissenheit der Dresdner Bevölkerung. Und so geht es nicht nur in E.T.A. Hoffmanns Goldenem Topf, sondern auch in seinem eigenen Text „im Kern um nichts anderes als Dresden und sein bipolares Wesen.“ Richter zufolge ist die Zerrissenheit der Dresdner kein neues Phänomen, denn bereits in der Geschichte der sächsischen Landeshauptstadt habe sich immer wieder gezeigt, dass man als Fremder „dort entweder mit Herzlichkeit oder mit barscher Ablehnung geradezu überschüttet“ wurde. Der Autor mutmaßt weiter, dass bei der Bevölkerung bereits zur Regierungszeit August des Starken Ängste vor einer religiösen Überfremdung vorhanden waren. Hatte sich die Stadt früh zum Protestantismus lutherscher Prägung bekannt, wurde sie durch den heimlichen Übertritt des Herrschers zum Katholizismus mit einem Mal von einigen tausend Katholiken bevölkert. Folge waren nicht nur Ausschreitungen, Reibereien und ein Priestermord, sondern es entstand auch bedeutende Baukunst in dieser Zeit: „Erst baute die Stadt sich demonstrativ eine englische Version des Petersdoms, die Frauenkirche. Kurz darauf kam die Antwort in Form einer katholischen Hofkirche in original römischem Barock von original italienischen Bauarbeitern“. Fakt ist, und das stellt auch Richter in seinem Essay deutlich heraus, dass Dresden ohne ‚die Fremden‘ „nicht besonders viel Herausragendes zu bieten hätte“.

Ob Richters Konstruktion des „bipolaren Wesens“ Dresdens besonders tragfähig ist und dadurch die gegenwärtige Rechtsdrift mit Pegida und Co. angemessen erklärt werden kann, sei einmal dahingestellt. Auch wenn man ihm nicht in allen seinen Ausführungen folgen möchte und sein Rückgriff in die Geschichte manches Gegenwärtige relativiert, so gibt er wichtige Denkanstöße mit seinem Essay. Dass Richter sich dabei mit allzu gewagten Wertungen zurückhält und nicht vorschnell (ver)urteilt, ist ihm hoch anzurechnen. Neben allen kritischen Anmerkungen ist zu spüren, dass ihn noch immer viel mit seiner Geburtsstadt verbindet. Hatte Erich Kästner seinen Entschluss, nach der Verbrennung seiner Bücher nicht aus dem nationalsozialistischen Deutschland wegzugehen, damit begründet, dass er „ein Deutscher aus Dresden in Sachsen“ sei und ihn die Heimat nicht fortlasse, so klingt das bei Richter ganz ähnlich: „Vor allem ist es nun einmal die Stadt, aus der ich komme, und diese Herkunft lässt mich einfach nicht fort.“ Dass der Autor seit einigen Jahren in New York lebt, tut dem keinen Abbruch, vielmehr habe die „eigentliche Dresdner-Werdung“ erst mit seinem Weggang begonnen: Erst „im Rückspiegel“ hat sich ein schärferes „Bild der Heimat“ geformt. Die Erfahrung einer anderen Lebenswirklichkeit half dabei, manches in den Blick zu nehmen, was vorher durch die unmittelbare Nähe so nicht möglich gewesen ist. Als Autor, der Dresden den Rücken gekehrt hat, steht Richter in einer illustren Reihe mit anderen: So verließ Erich Kästner mit 20 Jahren die Stadt, um in Leipzig zu studieren, Volker Braun, der als Kind Zeuge der Zerstörung Dresdens wurde, ging erst nach Leipzig, später nach Berlin, und Uwe Tellkamp, der mittlerweile wieder im „Elbflorenz“ lebt, hat sein DDR-Epos Der Turm in München geschrieben.

Dass Dresden für Richter noch immer eine große Rolle spielt, beweist neben dem Essay ebenso sein letzter Roman 89/90 von 2015, der die Wendereignisse aus der Sicht eines Jugendlichen in der sächsischen Hauptstadt schildert. Man könnte sogar behaupten, dass dort nicht der Ich-Erzähler, sondern vielmehr Dresden der heimliche Protagonist ist. Wie im Essay wird die Bevölkerung als hochgradig zerrissene dargestellt: Rechte und Linke bekämpfen sich und jagen sich durch die Gassen – es entbrennt ein regelrechter Kampf um die leerstehenden Häuser – und die Ausreisewilligen und Freiheitsstrebenden stehen der Volkspolizei gegenüber, die erfolglos versucht, die staatliche Ordnung wiederherzustellen. Und so verwundert es kaum, wenn Richter in seinem Essay schreibt, dass ihn die heutigen Ereignisse in Dresden in mancher Hinsicht an die unmittelbare Nachwendezeit erinnern, „nur ohne den Spaß, die Leichtigkeit, den fröhlichen Anarchismus dieser Zeit.“

Interessant ist sein Vergleich der Situation von Migranten in den USA (vor der Wahl Trumps) und Deutschland. Während hier jeder angehalten werde, „sich von Neuankömmlingen bereichert zu fühlen“, lebe man in den USA eher aneinander vorbei. In Richters Wahlheimat gebe es für Migranten „keine Welcome-Partys mit Ringeltänzen, dafür fliegen hier aber auch deutlich weniger Molotowcocktails durch die Fenster.“ Dass das eine sehr eingeschränkte und extrem verkürzte Sichtweise ist, muss hier nicht eigens betont werden. Richter übersieht, dass es auch in den USA massive Konflikte – vor allem zwischen Schwarzen und Weißen – gibt, man denke nur an die Ausschreitungen in Charlotte, North Carolina, im letzten Jahr. Und mit Trumps Machtantritt hat sich die Situation weiter verschärft.

Versöhnlich lässt Richter seinen Essay mit einer kleinen Wünsch-dir-was-Liste ausklingen: Natürlich hofft er, dass sich die Außenwahrnehmung seiner Heimatstadt ins Positive verkehrt und der Ruf nachhaltig bessert. Und weiter: „Wenn ich mir was wünschen dürfte, würden die frustrierten jungen Männer aus Nordafrika künftig gemeinsam mit den frustrierten älteren Männern aus Ostsachsen montags eine Runde spazieren gehen, das ist ja vor allem auch ein gemeinschaftsbildendes Erlebnis, heißt es immer.“ Das ist wenig realistisch und man muss sich wohl eher auf Gewalt, Radikalisierung und weitere Anschläge gefasst machen, das weiß auch Richter. „Aber hier geht es ja ums Wünschen.“

Titelbild

Peter Richter: Dresden revisited. Von einer Heimat, die einen nicht fortlässt.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875255

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