Zwischen den Fronten des Kalten Krieges

Zur Tito-Biografie Jože Pirjevecs

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

24. Mai 1944. Im Unartal steht die Natur in voller Blüte, ein sonniger Frühjahrstag geht zur Neige. In einer Höhle nahe dem bosnischen Städtchen Drvar versammeln sich Partisanenführer um den Kroaten Josip Broz, genannt Tito, zur täglichen Lagebesprechung. Routine. Tito begibt sich zur Nachtruhe. Kurze starke Gewitter unterbrechen seinen Schlaf. In den frühen Morgenstunden glaubt er zunächst, wiederum Donnergrollen zu hören. Langsam wird ihm bewusst, dass es sich um Motorengeräusche herannahender Flugzeuge handelt. Bomben fallen. SS-Fallschirmjäger springen nahe Drvar ab. Das XV. Gebirgskorps der Wehrmacht eröffnet das Unternehmen „Rösselsprung“. Titos Partisanen werden eingekesselt. Vlado, ein enger Vertrauter des Partisanenführers, begibt sich zum Höhleneingang, um sich ein Bild von der Lage zu verschaffen. In die Schläfe getroffen, bricht er schwerverwundet zusammen. Blut und Hirn spritzt an die steinerne Wand. Tito befiehlt einem Genossen, Vlado „den Gnadenschuss zu geben“. Nach kurzem Zögern wird dieser Anweisung nachgekommen. Unterdessen schließt sich der Ring um Titos Hauptquartier weiter. Gegen 10.30 Uhr begibt sich ein Melder auf Schleichpfaden zu Tito, findet diesen jedoch nicht in der Höhle, sondern außerhalb in einer Baracke. In Marschalluniform steht er da, offenbar im Begriff, sich den Deutschen zu ergeben. Der Bote Žujovic ergreift seinen Revolver, richtet ihn auf Tito und schreit: „Was bedeutet das? Du hast die Paradeuniform angelegt, aber du musst wissen, dass du ihnen nicht lebend in die Hände fallen wirst. Geh raus, alter Feigling.“ Žujovic zwingt Tito mit Waffengewalt, den Barackenboden aufzuschlagen und sich in ein Flussbett abzuseilen. Ihm gelingt die Flucht. Völlig entkräftet gelangt er zu seinen Genossen.

Das Leben des 1892 im kroatischen Kumrovec geborenen jugoslawischen Kommunistenführers hält eine Vielzahl abenteuerlicher Begebenheiten bereit. Die Biografie jenes Mannes nachzuzeichnen, der seine ersten militärischen Erfahrungen dem österreich-ungarischen Heer verdankt, ist Ziel einer bereits 2012 in Slowenien erschienenen Arbeit Jože Pirjevecs. Dass sie nun auch in deutscher Sprache vorliegt, ist das Verdienst des Antje Kunstmann Verlags und der gelungenen Übersetzung durch Klaus Detlef Olof. Pirjevec schildert nicht nur das Unternehmen „Rösselsprung“, sondern auch den Einsatz Titos im spanischen Bürgerkrieg, die Machtkämpfe innerhalb der Internationale beziehungsweise Kominform sowie das Ringen um einen eigenen sozialistischen Weg Jugoslawiens derart anschaulich, dass der Leser das Buch nach begonnener Lektüre nur ungern wieder aus der Hand legen wird. Hierbei wahrt Pirjevec ein gesundes Maß zwischen anekdotenreicher Lebensschilderung und wissenschaftlich akribisch recherchierter Unterfütterung seiner Arbeit.

Er verschweigt nicht Legenden, die sich um Tito ranken. Josip Broz geriet 1915 in russische Gefangenschaft. 1917 floh er aus dem Gefangenenlager, begab sich nach St. Petersburg, wo er sich den Bolschewiki anschloss und arbeitete als Mechaniker für die Rote Garde. Die hier entwickelte starke Bindung an die Sowjetunion begleitete ihn bis in die 1950er-Jahre. Trotz massiver Spannungen mit Stalin wies er einen General zurecht, der sich abfällig über den ersten sozialistischen Staat äußerte. Jeder Wolf habe sein Rudel. Auch er werde das seine nie vergessen. Titos Sprache gab Zeit seines Lebens Anlass zu Gerüchten, dass der 1915 in russische Gefangenschaft geratene Josip Broz in Gefangenschaft verstorben sei und dessen Identität ein Ukrainer angenommen habe. Tito sprach sowohl slowenisch, serbokroatisch, russisch als auch deutsch mit Akzent, sodass nie ersichtlich wurde, welche nun eigentlich seine Muttersprache war. Pirjevec geht in seinem Buch darauf ein, ohne jene Legende entkräften zu können.

Tito erlebte die Phase stalinistischen Terrors der 1930er-Jahre hautnah in Moskau. Er schilderte später seinen Kampfgefährten die Schreie der Familien auf den Gängen des Hotels, wenn diese abgeholt wurden. Dies aber hinderte ihn vermutlich nicht, selbst nachrichtendienstlich tätig zu werden. Tito unterstützte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine von Frankreich aus operierende NKWD-Abteilung, dessen Auftrag darin bestand, trotzkistische Abweichler in den Reihen der Internationalen Brigaden in Spanien aufzuspüren und physisch „auszuschalten“.

Nach der Besetzung Jugoslawiens durch deutsche Truppen und der Schaffung des kroatischen Satellitenstaates durch die Besatzungsmacht entstanden verschiedene Widerstandsgruppen. Von Bedeutung waren die serbischen Tschetniks unter Draža Mihailović und die kommunistischen Partisanen unter Tito. Als weitere Akteure agierten neben den faschistischen Ustaschaverbänden und deutschen Truppen der britische und der sowjetische Geheimdienst. Die Briten betrachteten Jugoslawien als strategisch bedeutendes Einfallstor in den deutschen Hegemonialbereich. Sie stießen mit dem Anwachsen der Tito-Bewegung zunehmend auf den sowjetischen Versuch verstärkter Einflussnahme, die sich auch durch die Anwesenheit sowjetischer Militärberater vor Ort zeigte. Tito entschied sich erst relativ spät eindeutig für die Sowjetunion. 1944 verschlechterten sich dementsprechend die Beziehungen zu den Westalliierten spürbar. Der politische Konflikt eskalierte im Juni 1945. Churchill, der Jugoslawien 1944 aufgegeben hatte, setzte in der Folgezeit alles daran, die kommunistische Bewegung in Italien zu schwächen. Als Tito 1945 den Anschluss Triests an Jugoslawien forderte und Truppen zusammenzog, drohte eine ernsthafte militärische Auseinandersetzung mit den Westalliierten nur einen Monat nach Kriegsende in Europa. Da im Falle eines neuerlichen Krieges ein Eingreifen sowjetischer Truppen aus der Sicht Moskaus unvermeidbar schien, zwang Stalin Tito, von seinen Planungen Abstand zu nehmen. Die Art, wie er dies tat, ließ das Verhältnis zwischen dem jugoslawischen und dem sowjetischen Kommunistenführer erkalten. Auch die zahlreichen Vergewaltigungen durch sowjetische Truppen in der jugoslawischen Zivilbevölkerung trugen hierzu bei. Als eine Frau eines engen Mitarbeiters betroffen war, hatte Tito Mühe, antisowjetischen Aversionen entgegenzutreten.

Stalin unterschätzte die jugoslawische Seite. Pirjevec verdeutlicht den Unterschied der KPJ (ab 1952 Bund der Kommunisten Jugoslawiens BdKJ) zu allen anderen osteuropäischen Bruderparteien. Während diese nicht ohne sowjetische Unterstützung zur Macht gelangt wären, hatte sich Tito in Jugoslawien aus eigener Kraft eine enorm schlagkräftige Widerstandsbewegung geformt, die von weiten Teilen der Bevölkerung getragen wurde. Nach Kriegsende vermochte Tito, sein ohnehin bedeutendes innenpolitisches Gewicht weiter zu stärken. Hierzu trug bei, dass er das sowjetische Muster nicht eins zu eins auf Jugoslawien zu übertragen gedachte. So erklärte er eine Kollektivierung der Landwirtschaft und die Bildung von Kolchosen für unvereinbar mit der auf Kleinstflächen wirtschaftenden heimischen Agrarwirtschaft. Der Machtausbau wurde auch durch eine brutale Bekämpfung politischer Gegner in den ersten Jahren nach dem Kriege forciert.

Außenpolitisch erfolgte der Versuch eines engen Bündnisses mit Bulgarien, das auf eine gemeinsame Föderation hinauslief. Titos Gedanke eines großen Balkanbundes unter Einschluss Bulgariens, Ungarns und Rumäniens stieß in Moskau auf tiefes Misstrauen. Als Jugoslawien schließlich begann, Albanien in diese Pläne einzubinden, und unter dem Vorwand, die griechischen Kommunisten unterstützen zu wollen, Truppen in dieses Land zu verlegen, kam es zum endgültigen Bruch mit Stalin.

Stalin ließ den missliebigen Opponenten Tito 1948 aus dem Kominform ausschließen und äußerte die vermessene Auffassung, sei Tito erst geächtet, werde er in kürzester Zeit gestürzt werden. Er hielt die jugoslawischen Kommunisten überwiegend für moskautreu und verkannte hierbei erneut die von Osteuropa gänzlich verschiedene Gemengelage.

1949 eskalierte der Streit. Wie im Falle einer Kriegserklärung, übergab der sowjetische Botschafter am 20. August 1949 eine äußerst scharfe diplomatische Note. Mit ihr protestierte Moskau gegen die Inhaftierung der sogenannten „weißen Russen“. Hierbei handelte es sich um russische Emigranten, die im Zuge der Oktoberrevolution aus Russland geflohen waren. Während des Krieges hatten viele mit den Deutschen kooperiert. Jenen, die man deshalb nicht erschoss, wurde von den sowjetischen Behörden die Staatsbürgerschaft zugewiesen, ohne die Jugoslawen zu fragen. Dieser Akt des Beschützens war keineswegs selbstlos, sondern spekulierte auf die Schaffung einer „fünften Kolonne“ innerhalb Jugoslawiens. Nach dem Bruch mit der Sowjetunion ließ Tito die „Weißen Russen“ inhaftieren.

Da der erhoffte Sturz nicht eintrat, erwog Stalin ernsthaft den Einmarsch sowjetischer Truppen und ließ Pläne zur militärischen Besetzung Jugoslawiens ausarbeiten, übrigens unter Einbindung ostdeutscher Truppen. Der Rezensent erlaubt sich die Anmerkung, dass die Sowjetische Besatzungszone zu diesem Zeitpunkt über keine einsatzfähigen Verbände verfügte. Die Grenzpolizei der SBZ wäre sicher nicht zu umfassenden Operationen fähig gewesen. Stalin ließ Operationsplanungen ausarbeiten und legte diese, nach Aussage des sowjetischen Verteidigungsministers Nikolai Alexandrowitsch Bulganin, nur auf dringendes Anraten der eigenen Generalität wieder ad acta. Als 1950 der Koreakrieg begann, vertiefte sich die Kluft. Jugoslawien enthielt sich im Sicherheitsrat der Stimme, als über den UN-Einsatz gegen die KDVR abgestimmt wurde. Dies stieß nicht nur die Sowjets, sondern auch die Amerikaner vor den Kopf, hatte Tito sich doch zuvor scharf gegen die aggressive Politik der Sowjetunion ausgesprochen und agierte nun dennoch nicht im Sinne der Amerikaner.

1951 ließ Stalin die Angriffsplanungen gegen Jugoslawien erneut aufnehmen. Als China in den Koreakrieg eingriff, zweifelte Tito nicht daran, dass seinem Land ähnliches blühen könnte wie Südkorea. Seinerseits ließ er intensive Vorbereitungen treffen, die auf einen Blitzkrieg gegen Albanien und Bulgarien hinausliefen. Da im Falle einer militärischen Auseinandersetzung mit einer zahlenmäßigen Unterlegenheit von eins zu drei gerechnet wurde, implizierten diese Planungen die Sprengung eines Staudammes, die Verteidigung strategisch bedeutsamer Geländeabschnitte sowie sogar den vollständigen Rückzug jugoslawischer Truppen auf NATO-Gebiet. Die USA betrieb ihrerseits den Versuch, Jugoslawien an den eigenen Machtbereich zu binden und es militärisch sowie wirtschaftlich zu unterstützen. So wurden Militärberater und moderne Kampfflugzeuge der Amerikaner importiert. Tito bemühte sich dennoch, die Autonomie eigener Politik zu wahren. Einer Einbindung in die NATO widersprachen die Italiener. Hier eskalierte der Streit um die Triest-Frage 1954. Beide Seiten, Italien und Jugoslawien, zogen militärische Verbände zusammen und ein Zusammenstoß schien nahezu unvermeidbar. In dieser Situation entschieden sich die Westmächte, die von ihnen besetzte Zone A des freien Triester Gebietes Italien zuzusprechen, die von Titos Einheiten besetzte Zone B den Jugoslawen. Ein nach zähen Verhandlungen unterzeichnetes Abkommen wurde im Oktober 1954 ratifiziert.

Dennoch setzte Tito auf einen Kurs beständiger offizieller Neutralität. Im Schulterschluss mit Indien entwickelte sich Jugoslawien zur treibenden Kraft einer Bewegung der blockfreien Staaten. Ende der 1950er-Jahre gelang es der Föderativen Republik, das Verhältnis zur Sowjetunion zu entspannen. Hierzu trug die Anerkennung der DDR bei. Die USA fuhr in der Folgezeit ihre Militärhilfe zurück – eine Tatsache, die in Moskau wohlwollenden Anklang fand. Getrübt wurde das Verhältnis durch die scharfe Position des albanischen Präsidenten Enver Hoxha, der sich beständig gegen den „Titoismus“ wandte.

Der zeitweisen außenpolitischen Annäherung an den Westen zum Trotz behielt die Kommunistische Partei Jugoslawiens das Ziel eines sozialistischen Staatsaufbaus bei. Anfang der 1950er-Jahre setzte eine Liberalisierungspolitik ein: Auslandsreisen wurden vereinfacht, Kritik an politischen Verhältnissen in begrenztem Umfang gestattet. Literaten und Künstler konnten relativ frei arbeiten. In den 40er-Jahren verstaatlichte Handwerksbetriebe wurden wieder privatisiert. Ökonomisch unterschied sich der jugoslawische Sozialismus enorm von dem der Sowjetunion. Titos enger Vertrauter Milovan Ðilas entwickelte das Modell der Selbstverwaltung. Den Ideen Karl Marxʼ und den französischen Utopisten folgend, wurde die Verwaltung der Betriebe in die Hand von Arbeiterkollektiven gelegt, die autonom wirtschafteten. Pirjevecs verdeutlicht die Vorteile dieses Systems, arbeitet jedoch auch den scharfen Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit heraus. Selbstverwaltung setzt einen Typus von Arbeiter voraus, der fähig ist, kapitalistisch zu denken, um seinen Betrieb zum Erfolg zu führen. Nur relativ wenige Arbeiter waren dazu in der Lage oder besaßen das entsprechende Interesse.

Am 13. Juli 1953 erhielt Jugoslawien eine neue, im Wesentlichen von Edvard Kardelj ausgearbeitete Verfassung, die die stalinistische von 1946 ersetzte. Sie diente aus Sicht ihres Schöpfers einer weiteren Demokratisierung der Verhältnisse.

Ein ökonomischer Aufschwung gepaart mit demokratischen Errungenschaften festigten die Machtbasis der Kommunisten und ermöglichten eine deutliche Besserung der Lebensbedingungen breiter Volkssichten. Dennoch blieb Jugoslawien, abgesehen von Albanien, das ökonomische Schlusslicht unter allen europäischen Staaten. Anfang der 1970er-Jahre brachen zudem wieder nationalistische Konflikte auf. Vor allem Kroatien forderte ein Maß an Autonomie, das letztlich auf vollständige Souveränität abzielte. So erhob die Teilrepublik die Forderung, selbständig außenpolitische Verträge abzuschließen und ein eigenes Heer aufzubauen.

Als Tito im Mai 1980 verstarb, hinterließ er ein zutiefst gespaltenes Land. Die politischen und ökonomischen Gegensätze ließen die gewaltsame Eruption der 1990er-Jahre vorausahnen.

Pirjevecs Studie trägt wesentlich zum Verständnis dieses Konfliktes bei, ohne ihn überhaupt zu erwähnen. Obgleich eine einzelne Persönlichkeit im Zentrum seiner Arbeit steht, zeichnet er die Geschichte Jugoslawiens nach. Er weitet den Blick desjenigen Lesers, der die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf duale Gegensätze im internationalen Mächtekonzert zu reduzieren trachtet. Tito verkörperte einen dritten Weg. Zwischen den Lagern stehend, sich mit Geschick und Gewalt behauptend, erstrebte er die Einheit der südslawischen Völker und einen Sozialismus jenseits des Moskauer Weges.

Einige kleinere Schwächen des Buches sind zu vernachlässigen, etwa wenn Pirjevec erklärt, das größte Kontingent der kommunistischen Spanienkämpfer sei aus Jugoslawien gekommen. Bedauerlicher erscheint da schon, dass die Motivation Titos, sich 1917 für die Bolschewiki zu entscheiden, nicht herausgearbeitet wird. Dies ist sicher der schwachen Quellenlage geschuldet, und schmälert in keiner Weise den Lektüregenuss.

Titelbild

Jože Pirjevec: Tito. Die Biografie.
Übersetzt aus dem Slowenischen von Klaus Detlev Olof.
Verlag Antje Kunstmann, München 2016.
719 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783956140976

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