Things Fall Apart in Lagos

Nnedi Okorafors Roman „Lagune“ bereichert die Science-Fiction um ein herausragendes Werk

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Landen Aliens auf der Erde, geht es meist sehr kriegerisch zu wie etwa im Roman The War of the Worlds von H.G. Wells und Roland Emmerichs Independence Day-Filmen – oder aber ganz friedlich, wenn etwa sein Kollege Steven Spielberg eine Begegnung der dritten Art mit E.T. hat. Nur selten einmal wird die Begegnung zwischen ‚ihnen‘ und ‚uns‘ so interessant und originell erdacht, wie Kurd Laßwitz dies bereits am Ende des vorletzten Jahrhunderts gelang. Nun aber hat eine kongeniale Autorin seinem Meisterwerk einen der Romane zur Seite gestellt, deren Ideenreichtum und Erzählkunst durchaus mit denjenigen von Laßwitz’ opulentem Erzählwerk Auf zwei Planeten konkurrieren können.

Die Rede ist von Nnedi Okorafor und ihrem in der nigerianischen Hauptstadt Lagos angesiedelten Roman Lagune. Ebendort, genauer gesagt vor der Küste der Hafenstadt, geht am Abend des 8. Januar 2010 ein Raumschiff im Meer nieder, dem alsbald Wesen von einer Fremdartigkeit entsteigen, die sich Wells, Spielberg oder gar Emmerich schwerlich hätten träumen lassen. Auch die Phantasie eines Autors vom Format eines Kurd Laßwitz dürfte er übersteigen. Aber der erdachte seine MartianerInnen ja auch schon, als die SF noch in ihren Kinderschuhen steckte. Und überhaupt lagen seine Stärken nicht in der Gestaltung fremder Lebensformen, sondern auf anderen Gebieten der SF.

Okorafors Aliens sehen zwar aus wie Menschen, manchmal zumindest, sie bestehen aber nicht aus Zellen, sondern aus unzähligen kleinen kugelförmigen Einheiten. „All diese winzigen Universen in uns haben ein Bewusstsein“, erklärt Ayodele, die Botschafterin der Fremden, die neben manch anderen phantastischen Fähigkeiten auch diejenige besitzen, jede nur denkbare Gestalt annehmen zu können. Verändern sie ihr Aussehen, wirken sie vorübergehend „wie der Nebel, den man am unteren Ende großer Wasserfälle“ sieht. Nicht nur, dass die Aliens unbekannter, jedenfalls aber namenloser Spezies ihre Gestalt verändern, ihr Wesen selbst ist „Veränderung“.

Ayodele erweist sich schnell als offenes und wohlwollendes Wesen, wird nach einigen üblen Erfahrungen mit diversen Menschen jedoch verschlossener und vielleicht sogar etwas verbittert. Wie sie erklärt, sind sie und die Ihren als Gäste gekommen, „die Bürger werden wollen“, um den Planeten „zu pflegen“. Dazu möchten sie sich in Lagos und dem Meerbusen vor der Stadt ansiedeln.

Um den Menschen von Lagos ihr Anliegen zu vermitteln, hat die Botschafterin drei Personen zusammengeführt, die, wie sich herausstellt, jeweils eine besondere Fähigkeit besitzen: die mutige Adaora, den starken Agu und den aktiven Anthony. Das ihre Namen ebenso wie derjenige der Botschafterin mit dem Buchstaben A beginnt fällt sogar Adaora, der ersten und eigentlichen Identifikationsfigur des Romans, auf, bleibt aber ohne weitere Bedeutung.

Adaora ist studierte Meeresbiologin und als „Dozentin am nigerianischen Institut für Ozeanographie und Meeresforschung“ tätig. Früher hat sie zwar in Kalifornien an der renommierten UCSB gelehrt, da sie aber lieber dort sein will, „wo sie gebraucht wird“, kehrte sie nach Nigeria zurück. Die Mutter zweier Kinder ist mit Chris verheiratet, der seinen fundamentalistischen Glauben etwas einfallslos bereits im Namen trägt. Einst liebten sie einander, doch nach der Geburt der Kinder und seiner Bekehrung zum – allerdings hexengläubigen – „wiedergeborenen Christen“ hat Chris sich in einen eifersüchtigen Tyrannen verwandelte, der glaubt, in seiner Frau eine Hexe zu erkennen. Agu, der zweite im Dreierbund ist ein Idealist und zugleich die zweite Identifikationsfigur. Er ging vor Jahren zum Militär, „um die Unschuldigen zu beschützen“. Nun aber ist er abtrünnig, da er unmittelbar vor Handlungsbeginn einen Vorgesetzten angegriffen hat, weil dieser eine Frau vergewaltigen wollte. Anthony, der das Kleeblatt vervollständigt, ist ein in ganz Afrika berühmter Rapper, der privat nur wenig mit seiner Bühnenfigur gemeinsam hat.

Unter der Vielzahl der Nebenfiguren und AntagonistInnen sticht neben Chris vor allem „Vater Oke“ heraus, ein eitler und bigotter Bischof, der einen „makellos weißen Priesterkragen“ trägt, gerne dem Wein zuspricht und dicke Autos fährt. Wider besseres Wissen bestärkt er einfache Gläubige in ihrem Hexenglauben. Adaora aber erkennt sofort, „dass hinter seiner glatten Fassade ein eiskaltes Raubtier lauerte“.

Zu nennen ist auch Philomena, die Hausangestellte Adaoras. Sie nimmt mit ihrem Handy eine Verwandlung Ayodeles auf und zeigt sie ihrem Freund, einem Kleinkriminellen, der die Außerirdische daraufhin mit seinen Kumpels entführen will.

Nachdem die Ankunft der Außerirdischen bekannt geworden ist und man weiß, dass Ayodele bei Adaora untergekommen ist, macht sich nicht nur die Clique kleiner Krimineller auf den Weg dorthin, sondern einige weitere Gruppen wie sie unterschiedlichster nicht sein könnten, unter ihnen die christlichen Fundamentalisten um Vater Oke, eine geheime „LBTG-Studentenorganisation“ namens Die schwarze Verbindung und selbstverständlich das Militär mit dem vergewaltigenden Vorgesetzten Agus. Hinzu kommen noch ungezählte Fans von Anthony. Natürlich haben sie alle ihre ganz eigene Agenda, die jeweils mit keiner der anderen vereinbar ist. Den Lesenden allerdings dürften ihre Vorhaben samt und sonders gleichermaßen naiv erscheinen.

Der Roman ist in drei „Akte“ mit insgesamt nicht weniger als 56 Kapitel unterteilt. Ist der erste Akt Willkommen vor allem amüsant, so ändert sich das im zweiten Akt Erwachen gründlich, tobt in ihm doch ein Tohuwabohu von Raub, Mord und Totschlag. Im dritten Akt Symbiose finden sich die ersten beiden wie im dialektischen Dreischritt von These, Antithese  und Synthese aufgehoben.

Die hohe Zahl der Kapitel ist nicht zuletzt der multiperspektivischen Erzählweise zu verdanken. Doch selbst innerhalb der kurzen Kapitel wechselt die Erzählinstanz öfter einmal ganz unvermittelt die Perspektive. Dabei nimmt sie nicht nur die Sicht der drei ProtagonistInnen und ihrer AntagonistInnen ein, sondern auch diejenigen einer ganzen Reihe von Nebenfiguren, ja selbst die eines Schwertfisches. Nach gut 250 Seiten etwa taucht plötzlich eine bis dato unbekannte Nebenfigur als Ich-Erzähler auf und verschwindet sogleich wieder, ohne je wieder gesehen zu werden. In den nächsten beiden Kapiteln folgen zwei weitere solcher Charaktere. Es sind drei Stimmen der zahlreichen ‚einfachen Leute‘ und Angehörigen diverser Subkulturen, die Lagos und den Roman bevölkern und von deren Nöten und Alltagssorgen er nicht weniger handelt als von den merkwürdigen Aliens aus dem All.

Doch nicht nur Prostituierte, Kleinkriminelle, Rap-Fans, Transvestiten, stumme Kinder, Soldaten, Lastwagenfahrer und alle möglichen anderen Menschen aus den unteren und gelegentlich etwas höheren Gesellschaftsschichten bevölkern das Buch, auch Umaru Yar’Adua, der verstorbene und im Roman namenlos bleibende Präsident Nigerias, hat einen Auftritt. Im Roman wird er mit offensichtlicher Sympathie als Marxist voller guter Absichten beschrieben, der aber zu schwach ist, um sich gegen die alles überwuchernde Korruption durchzusetzen. In der Fiktion wie auch in der realen Welt hielt sich der Präsident Anfang 2010 zu einer Herzoperation in Saudi-Arabien auf. In letzterer kehrte er erst am 24. Februar nach Nigeria zurück. Die Handlungszeit des Romans aber umfasst nur die Nacht vom 8. auf den 9. Januar 2010 sowie den nächsten Vormittag. Es sind „die Nacht und der Tag, an dem alles zerfiel“, wie es unter Anspielung auf Things Fall Apart, den wohl berühmtesten afrikanischen Roman des 2013 verstorbenen Autors Chinua Achebe heißt. So wird die Rückkehr des Präsidenten im Roman denn auch in den Handlungszeitraum vorverlegt. Vor allem aber weicht das weitere Schicksal der präsidialen Figur schnell und eklatant von dem seines realen Vorbilds ab. Kommt es während der „seltsamsten Nacht in der Geschichte der Stadt“ auf dem Flughafen doch zur Begegnung zwischen ihm und den ProtagonistInnen des Romans. Das rettet dem tatsächlich im Mai desselben Jahres gestorbenen Mann das Leben, denn der Todkranke wird von den Außerirdischen geheilt.

Bei all dem bietet das Buch nicht zuletzt eine realitätsgetreue Schilderungen der Handlungsorte in der nigerianischen Hauptstadt, mag es sich um die vor der Metropole gelegene Lagune handeln, die Victoria Island durchquerende Adetokunbo-Ademola-Street, den Murtala Muhammad International Airport  oder das Eko-Hotel am Kuramo Waters. Wichtiger aber noch sind die Einblicke, die der Roman in die Kultur ihrer EinwohnerInnen und ihren vielfältigen, nebeneinander und gegeneinander existierenden Subkulturen bietet. Die Liebe der Autorin zu Lagos ist unverkennbar, beschönigt wird allerdings nichts, weder die Korruption, noch das Chaos, das Elend oder die schier allgegenwärtige Kriminalität. So wird auch die Selbstherrlichkeit staatlicher Institutionen am Beispiel der nigerianische Elektrizitätsgesellschaft National Electric Power Authority (NEPA) vorgeführt, die das Licht zu geben und zu nehmen beliebt „wie Gott Menschenleben“.

Dabei schildert die allwissende Erzählerin das Geschehen ebenso lakonisch und kommentarlos wie sie aus dem Innenleben der Figuren berichtet: von ihren Hoffnungen und Befürchtungen, ihren Motivationen und ihren Gefühlen. Gemeinsamkeiten gibt es da oft nur wenige. Eine so vielschichtige Fabulierkunst zu entwickeln, fällt ihr nicht schwer, denn schließlich handelt es sich um keine geringere als Udide Okwanka, die unterirdische arachnoide „Geschichtenweberin“ aus der Mythenwelt des westafrikanischen Volkes der Igbo, dem auch die Autorin angehört. Dabei lässt Okorafor die Lesenden lange darüber im Unklaren, wer da zu ihnen spricht, doch wird das vielleicht bis dahin als solches sogar unbemerkt gebliebene Geheimnis schließlich doch noch gelüftet. Denn fast schon gegen Ende ihrer Erzählung entschließt sich Udide ganz unvermutet, ihr Publikum zu begrüßen und sich vorzustellen.

Sicher handelt es sich bei dem vorliegenden Roman um ein SF-Werk. Will man ihn der Gattung zurechnen, darf man allerdings kein puritanisch enges Genre-Verständnis zugrunde legen. Genauer gesagt handelt es sich allerdings um ein dem Afrofuturismus zuzurechnendes Werk. Diesen als bloßes Subgenre der Science-Fiction misszuverstehen, würde ihm ebenso Unrecht tun, als in ihm nicht mehr als eine afrikanische Abart des magischen Realismus zu sehen, wie man ihn aus Lateinamerika kennt.

Ob man den Roman nun als Science-Fiction lesen mag oder als Werk des Afrofuturismus, in jedem Fall ist seine Handlung nicht nur originell, außergewöhnlich und ideenreich, sondern – und das ist mindestens ebenso wichtig – unterhaltsam, spannend und insbesondere in den ersten Teilen nicht zuletzt sehr, sehr amüsant erzählt. Das dürfte auch den hartgesottensten SF-Fans gefallen. Zuletzt bleiben einige Fragen zu den weiteren Schicksalen der AkteurInnen offen. Das lässt sich bedauern, zumal, wenn man sich mit ihnen angefreundet hat. Aber Udide hat nun einmal ihren eigenen Kopf. Sie möchte sich nun lieber anderen Geschichten zuwenden und deren Fäden spinnen. Bei allem Bedauern über das Ende des vorliegenden Romans macht er doch Appetit auf diese.

Angemerkt sei, dass seit 1981 alljährlich ein deutschsprachiger SF-Roman mit dem Kurd Laßwitz-Preis ausgezeichnet wird. Wer weiß, vielleicht werden in ein paar Jahrzehnten Werke der afrikanischen Science-Fiction oder des Afrofuturismus mit einem Nnedi Okorafor-Preis gekrönt. Um sich dies vorstellen zu können, bedarf es allerdings keinerlei Phantasie, sondern vielleicht nur ein wenig vorausschauenden Realitätssinn.

Titelbild

Nnedi Okorafor: Lagune.
Cross Cult Verlag, Asperg 2016.
370 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783864258732

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