Zwischen B. Traven und Boris Vian

Die Schriften des Literaten, Provokateurs und Abenteurers Arthur Cravan

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit König der verkrachten Existenzen legt der Verlag Edition Nautilus eine Sammlung der Schriften Arthur Cravans vor, dem „Boxer-Poeten“, wie ihn sein Freund und Dadaist Francis Picabia nannte. Cravan war eine der ungewöhnlichsten Künstlerpersönlichkeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Geboren als Fabian Avenarius Lloyd 1887 in Lausanne, bereiste Arthur Cravan als junger Mann die Welt und verdingte sich in allen möglichen Berufen, bis er sich 1909 in Paris niederließ und als avantgardistischer Künstler und Enfant terrible das öffentliche Leben seiner Zeit gehörig aufmischte. 1915 verließ Cravan Paris, um einer Einberufung zum Militärdienst zu entgehen, boxte 1916 in Barcelona gegen den damaligen Weltmeister Jack Johnson, reiste weiter in die USA und schließlich nach Mexiko. Außerdem war Cravan ein Neffe Oscar Wildes, daneben nach eigenem Bekunden auch noch „Hochstapler, Seemann im Pazifik, Mauleseltreiber, Orangenpflücker in Californien, Schlangenbeschwörer, Hoteldieb, Holzfäller in den riesigen Wäldern, Ex-Boxchampion für Frankreich, Enkel des Kanzlers der Königin, Autochauffeur in Berlin, Einbrecher, usw.“ 1918 bestieg er an der Küste Mexikos ein Boot, segelte aufs Meer hinaus und ward nie wieder gesehen. Offensichtlich lenkte Avenarius Lloyd ganz bewusst das Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihm machen sollte und erschuf sein „Image“ Arthur Cravan, um den sich zahlreiche Mythen ranken und für den Kunst nicht an den Rändern eines Mediums aufhörte, sondern ins (inszenierte) Leben hineinragte.

Kernstück der Schriften Cravans sind die fünf Ausgaben der Literaturzeitschrift Maintenant, die er zwischen 1912 und 1915 herausgegeben hat. Tatsächlich war er nicht nur Herausgeber, sondern, wie Bastiaan van der Velden in seinem kenntnisreichen Nachwort darlegt, auch der einzige Mitarbeiter, die vermeintlichen anderen Autoren durchweg Pseudonyme. In der Zeitschrift lässt sich, wie auch später in seinen Briefen, eine sprachliche und inhaltliche Entwicklung nachvollziehen, ausgehend von einer zwar modernen, doch trotzdem eher konventionellen Kunstauffassung der ersten Ausgaben hin zu einer immer radikaleren Abkehr von Traditionen. Cravan hätte vermutlich nichts gegen Platons Feststellung, alle Dichter seien Lügner, einzuwenden gehabt, im Gegenteil: Wahrheit und Lüge, Fiktion, Authentizität und Inszenierung waren für ihn gleichrangige Mittel um die (Kunst-)Figur Cravan zu erschaffen, die es verstand, die Öffentlichkeit so sehr für sich zu interessieren, dass Zeitungen wie die „New York Times“ und die „Chicago Tribune“ in den weit entfernten Vereinigten Staaten von Amerika über seine Eskapaden in Paris berichteten. Um öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen, war ihm jeder Skandal recht.

Für Cravan bilden Künstler und Werk eine Einheit, und mehr noch vertrat er die Ansicht, dass das Entscheidende am künstlerischen Werk nicht die Empfindungen und schon gar nicht der Intellekt sei. Das Vitale, Lebensbejahende, auch in der Kunst, ist die Physis, der Körper, und er muss Teil der künstlerischen Inszenierung sein. Arthur Cravan kombinierte literarische Vorträge mit Boxschaukämpfen, vereinte also vermeintlich hohe Kunst mit dem Budenzauber des Jahrmarkts. Dass er gerne als Vorläufer des Dadaismus bezeichnet wird, nimmt also nicht Wunder, scheint doch sein Verständnis auf eine performative Kunst ausgelegt zu sein, wie sie ab 1916 auch von den Dadaisten propagiert wurde. Cravan, mit seiner imposanten, fast zwei Meter großen Sportlerstatur, die er nicht nur im Boxring, sondern auch in der Manege des Kunstbetriebs effektiv einzusetzen wusste, verwandelt die vierte Ausgabe seiner Literaturzeitschrift „Maintenant“ in eine Schmähschrift, in der er die zeitgenössischen Pariser Maler verunglimpft und heftig beschimpft. Bereits davor, in der dritten Ausgabe, beging er ganz im Gestus avantgardistischer Aufbruchsbewegungen den notwendigen literarischen Vatermord an Oscar Wilde, ein Gestus, der den radikalen Bruch mit literarischen Traditionen inszeniert, selbst denjenigen, die seinem eigenen Schaffen nahestehen. Hatte er in den ersten beiden Ausgaben ein fast schon ehrfurchtsvolles Bild Wildes gezeichnet, seine eigenen künstlerischen Ambitionen mit der Verwandtschaft zu diesem geradezu aufgewertet, gibt er ihn nun der Lächerlichkeit preis, beleidigt und denunziert ihn, etwa wenn er von ihm sagt: „Ich betete ihn an, weil er einem großen Tier ähnelte; ich stellte mir vor, wie er simpel wie ein Nilpferd schiss“.

Auch die derbe und vulgäre Sprache ist wohlkalkulierter Affront gegen die gesellschaftliche Etikette im etablierten Kunstbetrieb, und den Gestus des Wilden und Unzivilisierten legt Cravan nicht nur bei seinen öffentlichen Auftritten an den Tag, sondern greift ihn auch thematisch vor allem in seinen Prosagedichten immer wieder auf. Häufig kommt er auf exotische Motive des Abenteuers und der Reise zu sprechen, auf Elefanten, den Mississippi, Eisenbahnen oder eben das Boxen.

Dabei erinnert Cravans Stil vor allem in der letzten Ausgabe seiner Zeitschrift streckenweise an das automatische Schreiben späterer Surrealisten, und in Sätzen wie „Im Handumdrehen faltete ich meine seidenen Socken zu 12 Francs das Paar […] und meine Hemden, in denen noch Reste der Morgendämmerung verblieben waren“ scheint Cravan beinahe den Stil des späteren Autors und Tausendsassas Boris Vian vorwegzunehmen, mit dem er im Übrigen auch einige biografische Parallelitäten teilt. Beide waren Kriegsdienstverweigerer, beide verstanden es, so zu provozieren, dass sich die Gerichte mit ihnen befassten, und beide hielten sich mit den verschiedensten Tätigkeiten über Wasser. Und noch an eine weitere geheimnisumwitterte Autoren-Figur des 20.Jahrhunderts lässt einen Cravans Abenteuerlust und seine Flucht vor den Behörden nach Mexiko denken: Der ominöse B. Traven legte zwar nicht dessen sprachliche Experimentierfreude an den Tag und ganz im Gegensatz zu jenem viel Wert auf die moralische Aussage in seinen Romanen, doch finden sich bei ihm ebenfalls eine Abenteuerlust und Exotik, wenn auch weitaus ausgeprägter als bei Cravan. B. Traven entzog sich so sehr der Öffentlichkeit und legte so viele falsche Fährten, dass seine Identität jahrzehntelang ungeklärt blieb. Und obwohl Cravan im Gegensatz dazu die Öffentlichkeit suchte, sich inszenierte und laufend neu erfand, so ist das Ergebnis paradoxerweise dasselbe: beide lassen sich nur schwer oder vielleicht auch gar nicht widerspruchslos fassen.

Den zweiten Teil der in König der verkrachten Existenzen versammelten Schriften machen die Briefe Cravans aus, an denen sich auch aufgrund der editorischen Auswahl gut nachvollziehen lässt, wie sich im Laufe der Zeit Arthur Cravans exzentrischer Stil zwischen salopper Umgangssprach und dadaistischen Sprachspielen herausgebildet hat; die Briefe verdeutlichen außerdem, wie sehr Authentizität und Rolle in Cravans Biografie verschwimmen.

Erst im Nachwort van der Veldens wird Cravans eigentliche Bedeutung ersichtlich, erst nachdem klar ist, welchen Skandal er mit seinen Künstlerbeschimpfungen erregte oder dass das 1913 weltweit in Zeitungen kursierende Gerücht, Oskar Wilde sei noch am Leben, von einem seiner Artikel ausging, versteht man die öffentliche Breitenwirkung seiner Literaturzeitschrift, die man davor vielleicht einfach nur als versponnene künstlerische Versuche eines unbedeutenden Exzentrikers wahrgenommen hatte. Tatsächlich scheinen die Herausgeber eifrig am Mythos Arthur Cravan weiterzustricken, denn allein durch die Auswahl der Briefe wird nicht so sehr eine nüchtern-faktische als vielmehr eine auf eine Klimax ausgelegte Auseinandersetzung mit Cravan inszeniert, besonders deutlich an dessen Briefen an Mina Loy, die in einer dramatischen Zuspitzung mit einem Paukenschlag enden. An den Schriften Cravans, sowohl an den Zeitschriftenartikeln als auch den Briefen lässt sich eine Entwicklung ablesen, die möglicherweise vor allem aufgrund der Textauswahl so deutlich auszumachen ist. Vielleicht ja gerade deswegen gelingt es König der verkrachten Existenzen, die Neugierde an dieser außergewöhnlichen Person so sehr zu wecken, dass man gerne noch mehr über sie erfahren hätte. Leider scheinen allerdings in dem schmalen Bändchen bereits ein Großteil seiner Schriften versammelt zu sein. So ganz entschlüsseln lassen wird sich das Rätsel Arthur Cravan also wohl nie – und mit Sicherheit macht dieser Umstand viel von seiner Faszination aus.

Titelbild

Arthur Cravan: König der verkrachten Existenzen.
Mit einem Vorwort von Andre Breton und einem Nachwort von Bastiaan van der Velden.
Übersetzt aus dem Französischen von Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt.
Edition Nautilus, Hamburg 2015.
192 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783894018146

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