Die Seele spannt ihre Flügel aus

Philipp Poisels neues Album „Mein Amerika“ ist gesungene romantische Poesie

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Die unstillbare Sehnsucht, der schmerzhafte Verlust und die Trauer des Alleingelassenen in tiefer Nacht, die Hoffnung auf die Rückkehr einer Geliebten und die Erkenntnis der Endlichkeit jeder Verbindung sind die zentralen Themen der Texte von Philipp Poisel. Dessen neues Album Mein Amerika ist gesungene Poesie der Empfindsamkeit.

Poisel singt über die Sehnsucht des Verlassenen, der das Leben und die Liebe nicht versteht und fleht, aus der Dunkelheit geholt zu werden. Geh nicht und Wir verbrennen unsere Träume nicht heißen zwei Songs, welche die Motive der Mondnacht von Joseph von Eichendorff aufnehmen. Das Ich fliegt hoch und frei an den Ort, „wo alles blüht“ und „wo unsere Seele wohnt“. „Komm nach Haus“, ruft es und öffnet seine Arme für die verlorene Geliebte: „Und komm in meine Arme, komm zurück, wenn du es willst“. Gemeinsam möchte er auf „offenen Feldern“ laufen. In einer sternklaren Nacht verspricht das Ich, die Hand zu halten, es verspricht Treue. Doch die Liebe bleibt unerwidert. Die Geliebte geht und lässt es in Trauer zurück. „Was bleibt bestehen?“ und „Wo ist der Himmel?“, hadert Poisel – zugleich eine Verbindung zu seiner ersten Single aus dem gleichnamigen Album Wo fängt dein Himmel an? (2008). Es hat den Anschein, als befände sich der Sänger auf einer jahrelangen Suche; der romantischen Suche nach dem Sinn des Lebens, der sich in wahrer Liebe offenbaren muss.

Er erreicht die Liebe nicht: „Erkläre mir das Leben/ Ich weiß nicht, wie es geht“. Verzweifelt ruft Poisel in „Erkläre mir die Liebe“ aus, dass er die Liebe wohl „nie gesehen“ habe. Sie ist in Poisels Versen eine Verbindung aus Endlichem und Unendlichem, dem Göttlichen. Das Göttliche ist als eine nicht zu greifende unendliche Macht durchaus im christlichen Sinne zu verstehen. Der Höhepunkt des Albums ist das Lied „Bis ans Ende der Hölle“. In ihm sagt Poisel sich von der „schweren Zeit“ los und will sich im Einklang mit der Natur den Sternen und dem Himmel – Gott? – zuwenden. Jedoch reicht seine Kraft nicht, er sinkt in Dunkelheit und Isolation zurück: „Damit diese Sehnsucht verbrennt“ und nichts von dem bleibt, „was mich mit dir verbindet“.

Daraufhin folgt „Das kalte Herz“, ein Song, der für die Neuverfilmung von Wilhelm Hauffs Märchen Das kalte Herz im Herbst 2016 geschrieben wurde und dem die Handlung desselben aufnimmt. Der Holländermichel, ein gefährlicher Waldgeist, nimmt dem Köhler-Jungen Peter Munk sein Herz und ersetzt es durch ein Herz aus Stein. „Sein kaltes Herz, das sehnt sich nach dem Feuer/ Nach schwarzem Rauch“. Glut, Tod, Teufel, Gold, Hochmut: Poisel bedient sich in seinem Lied der Bilder aus der Sage vom „Glasmännlein“, auf die Hauff sein Märchen gründete. Bilder aus einer alten Volkssage in die heutige Zeit zu übertragen, sie mit eigenen Erfahrungen zu verbinden, anzureichern und somit lebendig zu halten, ist eine hohe Kunst. Jacob Grimm betonte, dass diese Form der Poesie „nichts anders ist und sagen kann, als lebendige Erfassung und Durchgreifung des Lebens“.

Dabei verwendet Poisel jedes Wort mit Bedacht. Nie nutzt er eines zu viel oder eines zu wenig, um Bilder zu erzeugen. Besonders intensiv kann diese Form der Pointierung im Song „Zum ersten Mal Nintendo“ erfahren werden. Einzelne Begriffe und Kurzsätze reichen aus, um allgemeingültige Kindheitserinnerungen der aktuellen Generation der Mittdreißiger zu wecken: „Grüner Apfel-Wassereis“, „Das erste Mal getanzt vor Glück“, „Skaten mit Nils Treib“ und „Spürst du noch den Teer, den heißen/ Unter deinen Füßen“. In der Welt der Erinnerungen flammt das Glück auf, um sogleich zu erkennen „Hier bin ich geboren/ Und hier sterb ich irgendwann“. Immer schon wollte er aus dieser kleinen Welt ausbrechen, in die Ferne ziehen, stellte sich ans Bahngleis und fragte sich resignierend: „Doch was soll ich nur machen?“.

Mit der Aufnahme des neuen Albums im traditionsreichen Blackbird Studio in Nashville wurde das Fernweh Philipp Poisels befriedigt. „Der Traum, in diesem Studio eine Platte aufzunehmen, hat mich überhaupt erst motiviert, diese große Reise anzutreten“, sagte Poisel in einem Interview. Er sinke oft in eine Traurigkeit: „Ich erlebe Phasen, bei denen ich nicht so richtig weiß, was ich mit dem Tag anfangen soll. Es kostet viel Kraft, sich da wieder rauszuziehen. Inzwischen liegt die Phase hinter mir. Ich brauche aber nach wie vor diese Zurückgezogenheit, um überhaupt nachdenken zu können. In einer großen Stadt würde ich mich schnell verlieren, und dann hätte ich noch weniger Halt.“ Die Lieder über die Bars von San Francisco, den Sonnenaufgang in Atlanta, die tiefen Wälder, die leeren und breiten Straßen sowie die großen Städte Amerikas, denen das Album seinen Titel verdankt, bilden einen Start „in eine neue Welt“. Poisel muss sich diesen neugierigen und aufrichtigen Blick auf die Welt bewahren. Die Authentizität seiner Texte und seines einzigartigen Gesangs machen tiefe Gefühle erfahrbar. Seine Musik hat sich weiterentwickelt, die Arrangements sind komplexer und basieren nicht mehr allein auf dem Sänger und seiner Gitarre oder einem Klavier. Mein Amerika ist abwechslungsreich – mal der bekannte leise Ton der letzten Veröffentlichungen, mal im Session-Charakter der 1970er-Jahre und mal hymnisch mit Chor und Band. Was aber wirklich zählt, sind die lyrischen Texte. Intensiver kann die Offenlegung der inneren Welt eines Künstlers kaum sein. Dass Philipp Poisels neues Album sofort nach der Veröffentlichung an die Spitze der deutschen Charts schoss, beweist, wie groß die Sehnsucht nach echten Gefühlen in unserer schnelllebigen Zeit ist und wie wichtig Ruhe, Erinnerung und Zeit für Träume sind.

Mit dem letzten Song des Albums, „Ein Pferd im Ozean“, appelliert Poisel an seine Hörer, das Wünschen und Träumen niemals aufzugeben, „Denn es ist alles, was wir haben“. Der Song „Roman“ besteht ebenso aus froher Hoffnung und dem Wunsch, ein wichtiger Teil des Lebens eines anderen zu sein: „Ich will ein Roman sein/ auf den Seiten deines Lebens […] Ein Manifest, für das du aufstehst in der Nacht“. Im Anschluss äußert er seinen Wunsch, der wie eine letzte Botschaft an seine verlorene Liebe klingt: „Du musst nur ganz fest an mich glauben/ Dann können wir ans Ende gehen“.

Philipp Poisel: Mein Amerika
Audio-CD
Produzent: Frank Pilsl
Text und Musik: Philipp Poisel
Groenland Records 2017