Reise in den Osten mit der „Reise in den Westen“

Der chinesische Großroman aus der Ming-Dynastie entfaltet den Kosmos östlicher Philosophie

Von Rolf SchönlauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Schönlau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon die Bauchbinde verkündet Superlative über das mehr als 1.300 Seiten dicke Buch: „Der populärste Roman Chinas. Erstmals in deutscher Übersetzung.“ Das Epos gehört neben Die drei Reiche (um 1390), Die Räuber vom Liang-Schan-Moor (um 1573) und Der Traum der roten Kammer (um 1759) zu den vier klassischen Romanen der chinesischen Literatur. Die Sinologin Eva Lüdi Kong hat nun die erste vollständige Übersetzung der Reise in den Westen vorgelegt. Das gut lesbare, zeitgenössische Deutsch mutet dem Leser weder sprachliche Anachronismen noch fremdartig erscheinende Wendungen zu. Holzschnitt-Illustrationen aus einer Ausgabe der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bereichern den Text.

Ein Autor wird auf der Titelseite nicht genannt. Im Nachwort der Übersetzerin erfährt man, dass der Roman auf der historischen Indienreise des chinesischen Mönches Xuanzang (596–664) beruht. Über zahlreiche schriftliche und mündliche Überlieferungsstufen erhielt der Text gegen Ende der Ming-Dynastie (1368–1644) die heute bekannte Form. Obwohl schon die früheste erhaltene Fassung von 1592 auf die unbekannte Autorschaft verwies, wurde in den 1920er-Jahren Wu Cheng’en (um 1500 – um 1582) als Autor vorgeschlagen. Eine Zuschreibung, die seit den 1970er-Jahren von der Forschung angezweifelt wird, zumal Romane im 16. Jahrhundert in China als minderwertige Literaturgattung galten und in der Regel anonym veröffentlicht wurden.

Über die Jahrhunderte bildeten sich zwei konträre Lesarten des Romans heraus. Die spirituelle Auslegung betrachtet Die Reise in den Westen als Wegweiser zur geistigen Vervollkommnung, gemäß der Synthese daoistischer, konfuzianischer und buddhistischer Weltanschauungen, die in der Ming-Zeit entstand. So wird der Leser in einem Kommentar von 1808 angehalten, sich vor der Lektüre die Hände zu waschen und Räucherwerk zu entzünden. Die profane Lesart begeistert sich hingegen für die heldenhaften, abenteuerlichen und komischen Elemente des Romans, die vor allem bei der Figur des Affenkönigs zu finden sind, der sich gegen den Himmelskaiser auflehnt. Dass Mao Tse-tung zu seinen Bewunderern zählte, erstaunt nicht. Auch die älteren, oft stark gekürzten Übersetzungen in westliche Sprachen zeigen schon im Titel, welche Elemente besonders hervorgehoben wurden: Monkey (London 1942), Monkeys Pilgerfahrt (Zürich 1946), Der rebellische Affe (Hamburg 1961).

Die in den ewigen Kreislauf von Yin und Yang eingebundene Geschichte des Affen Sun Wukong wird als in sich geschlossener Prolog in den ersten sieben von insgesamt 100 Romankapiteln erzählt: seine Geburt aus einem himmlischen Stein, seine Neugier, die ihn zum Affenkönig macht, sein Streben nach Erkenntnis, das ihn Mensch werden lässt und zu einem daoistischen Meister führt, der ihn in das Geheimnis der Unsterblichkeit einweiht.

Mit der ihm eigenen Unverfrorenheit ergaunert sich der Affenkönig, der nicht einmal vor dem Hohen Himmelskaiser einen Kotau macht, ein Arsenal an Zaubermitteln, alle mit sprechenden Namen versehen, wie sie auch bei Harry Potter und in Computerspielen vorkommen könnten: Geisterköpfschwert, Körpervermehrung, Wunscherfüllender Goldreifstab, Göttliches Edelerz zur Erdung der Milchstraße oder Wolkenüberschlag, ein blitzschnelles Fortbewegungsmittel.

Derart ausgestattet, ernennt sich Sun Wukong zum Himmelsebenbürtigen Großen Heiligen und rebelliert gegen den Himmelskaiser. Weder Dämonenkönige noch Donnergötter können den unsterblichen Affenkönig zur Räson bringen. Als sogar Laozi, der Begründer des Daoismus, an der Aufgabe scheitert, ruft der Himmelskaiser Buddha zu Hilfe, dem es schließlich gelingt, den Aufrührer unschädlich zu machen. Er begräbt ihn für 500 Jahre unter dem Berg der Fünf Wandlungsphasen, bestehend aus Metall, Holz, Wasser, Feuer und Erde.

„Und da wir nicht wissen, wie es weitergeht, lasst uns das nächste Kapitel anhören.“ Nicht nur die immer wiederkehrende formelhafte Wendung verweist auf die mündliche Erzähltradition, in der der Roman steht. Auch die im chinesischen Original ungefähr 750 eingestreuten Gedichte, die nur zum Teil in die vorliegende Übersetzung aufgenommen wurden, rufen den Geschichtenerzähler vor Augen, der den Erzählfaden unterbricht, um mit einem Gedicht das Geschehen zu kommentieren, Personen zu charakterisieren, Landschaften zu beschreiben oder den Verlauf der Zeit anzudeuten.

Dass allein Buddha den rebellischen Affen überwältigen kann, macht deutlich, was China fehlt – eine Portion Buddhismus. Also schickt Buddha einen Bodhisattva nach China, um die Fährte auszulegen (Kapitel 8 bis 12), entlang der ein chinesischer Mönch auf seiner Pilgerfahrt nach Indien reisen wird, um die Heiligen Schriften zu holen (Kapitel 13 bis 100). Der auserwählte Mönch trägt den Namen der historischen Figur Xuanzang und bekommt vom Kaiser den Ehrennamen Tripitaka, was so viel wie „Korb der drei Schätze“ bedeutet, eine Anspielung auf die drei Hauptschriften des Mahayana-Buddhismus.

Wie zu erwarten, ist Tripitaka auf seiner Pilgerfahrt nach Westen großen Gefahren ausgesetzt und muss zahlreichen Versuchungen widerstehen. Gegen die Dämonen, Drachen, Tiger und Räuber, auf die er immer wieder trifft, wäre er allein machtlos. Deshalb hat der Bodhisattva dafür gesorgt, dass sich ihm die passenden Gefährten als Schüler anschließen – zuerst der Affenkönig Sun Wukong, den Tripitaka nach 500 Jahren lebendigen Begrabenseins befreit, dann der tölpelhafte Eber Zhu Bajie sowie der Sandmönch Sha Wujing.

Für alle Beteiligten stellt die Pilgerfahrt eine Buße dar. Der Affenkönig, der mit seinen unbändigen Kräften Himmel und Erde ins Chaos stürzte, hat dem Bodhisattva geschworen, den Lehren des Buddhismus zu folgen und Tripitakas Schüler zu werden. Eber und Sandmönch sind himmlische Unsterbliche, die auf die Erde verbannt wurden – der eine, weil er betrunken mit einem Mondgeist flirtete, der andere, weil er bei einem Himmelsbankett ein Glas zerbrach. Selbst das Pferd, ein kleiner verwandelter Drachen, hat abzubüßen, dass es das Haus seines Drachenvaters in Brand setzte. Und auch für Tripitaka selbst ist die Pilgerfahrt eine Büßertour, denn er war Buddhas eigener Schüler, der 81 Prüfungen bestehen muss, weil er bei einer Belehrung einschlief.

Die Reise in den Westen ist reich an daoistischer und buddhistischer Symbolik, voller mythologischer Anspielungen und konfuzianischer Weisheiten. In knapp gehaltenen Fußnoten und einem lesenswerten Nachwort samt Verzeichnis aller im Roman vorkommenden Gottheiten vermittelt die Übersetzerin und Sinologin Einblick in die fernöstliche Gedankenwelt, so etwa in die Zahlensymbolik, die Hexagramme des I Ging oder die Gesellschaftsverfassung der Ming-Zeit.

Auf symbolischer Ebene steht der Affe für den Geist, wie es an mehreren Stellen im Roman heißt. Entsprechend symbolisiert der Eber den Körper und Tripitaka den Menschen, dem es an der nötigen Intelligenz fehlt. Der Mönch ist zwar rein und gütig, aber träge und kleinlich. Es fehlt ihm an Urteilsvermögen, weil er sich nur um seine 81 Prüfungen schert. Auf sich alleine gestellt, ohne den intelligenten Affendiener, wäre Tripitaka nicht überlebensfähig. Der ungestüme Affe, der die daoistischen Kräfte beherrscht, muss wiederum den Sanftmut und das Mitleid des Buddhismus erlernen.

Affe, Eber und Sandmönch können fliegen und auf Wolken schweben, nur Tripitaka ist ein Sterblicher, der zu Fuß gehen muss. Doch gerade die Beschwernisse der Reise sind die Voraussetzung dafür, dass er die Schriften aus dem Tempel des Donnergrollens im Westhimmel von Buddha ausgehändigt bekommt. Der Affenkönig weiß auch warum, denn es gilt der Satz: „Was leicht zu kriegen ist, wird man nicht zu schätzen wissen.“

Nach 14 Jahren kehren die Pilger nach China zurück und übergeben dem Kaiser 5048 Rollen mit Schriften des Mahayana-Buddhismus. Sie selbst werden mit einem wohlriechenden Windstoß in den Westhimmel zurückbefördert und von Buddha erhoben – Tripitaka zum Tugendreichen Buddha Candana, der Affenkönig zum Buddha des Kampfes, der Eber Baji zum Apostel der Altarsäuberung, der Sandmönch zum vollkommen Erleuchteten und das Pferd zum Himmelsdrachen.

Zur enormen Popularität, die der Roman in China und den Nachbarländern genießt, trugen Adaptionen in andere Medien bei. Neben zahlreichen Kinderbüchern, Comics und Manga behandelt auch ein abendfüllender chinesischer Zeichentrickfilm von 1964 den Stoff. Die erste chinesische Fernsehserie von 1986, besetzt mit den größten Filmstars des Landes, war überaus erfolgreich und erfreut sich bis heute in vielen asiatischen Ländern großer Beliebtheit. Der in Hongkong produzierte Action- und Fantasyfilm The Monkey King von 2014 war ein großer Kassenerfolg. Laut Wikipedia gibt es weit über 100 Filme, TV-Serien, Videospiele, Comics und Theaterstücke nach Motiven aus der Reise in den Westen.

Titelbild

Die Reise in den Westen. Ein klassischer chinesischer Roman.
Übersetzt aus dem Chinesischen und kommentiert von Eva Lüdi Kong.
Reclam Verlag, Stuttgart 2016.
1319 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-13: 9783150108796

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