Eine ungewöhnliche Liebe

Kent Haruf erzählt in „Unsere Seelen bei Nacht“ von der ewigen Sehnsucht nach Liebe, die gesellschaftlichen Ressentiments zum Opfer fällt

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„The heart never grows old“ stellte die amerikanische Literaturnobelpreisträgern Pearl S. Buck einmal fest. Und Jahrhunderte zuvor wusste bereits die kundige Hildegard von Bingen: „Die Seele altert nicht“. Warum denken dennoch viele Menschen, dass sich eine Person beziehungsweise das Leben, das diese lebt, mit zunehmendem Alter ändern muss? So wird Liebe im Alter immer noch häufig mit einem Schmunzeln oder Stirnrunzeln bedacht, als ob diese etwas Lächerliches oder gar Unanständiges wäre. Doch wieso eigentlich sollte man gerade angesichts des immer näher rückenden unausweichlichen eigenen Endes und der immer häufiger werdenden Verluste im Familien- und Freundeskreis darauf verzichten, zu lieben und geliebt zu werden?

Das fragt sich wohl auch insgeheim Addie, eine 70-jährige Witwe in der amerikanischen Kleinstadt Holt im Bundesstaat Colorado. Sie ist es satt, die Nächte in ihrem Haus allein und ohne Schlaf zu verbringen, und so hat sie den Plan gefasst, dem ein Ende zu setzen. Dies alles teilt sie ihrem Nachbarn Louis mit, als sie plötzlich auf dessen Veranda steht. Er ist nämlich Teil ihres Plans, das zu ändern. Dementsprechend fragt sie ihn ohne große Umschweife, ob er denn nicht ab und zu bei ihr übernachten wolle. An Sex denkt Addie dabei nicht, vielmehr ist es die menschliche Nähe, die ihr fehlt, und die Einsamkeit der Nacht, die sie damit vertreiben möchte. Einfach beieinander liegen und sich etwas erzählen, das ist ihre Idee, wie man dem Alleinsein entkommen kann. Louis, selbst verwitwet, ist zwar sehr verwundert über das ungewöhnliche Angebot, doch was hat er schon zu verlieren? Und da er Addie immer schon aus der Ferne sehr sympathisch fand, geht er auf ihren Vorschlag ein. Mit einer Papiertüte bewaffnet, die Pyjama und Zahnbürste enthält, schleicht er sich in der ersten Nacht zu ihrer Hintertür. Aber Addie sieht nicht ein, dass sie beide so tun sollten, als wäre etwas Verbotenes im Gange. So macht die anfängliche Schüchternheit selbstbewussten allabendlichen Besuchen über die Vordertür Platz. Auch in Addies Haus dient das Glas Wein oder Bier vor dem Zubettgehen schon bald nicht mehr dazu, die Fremdheit und Scheu zu überwinden. Sie beide gewöhnen sich schnell aneinander und erfreuen sich der nächtlichen Zweisamkeit bei Geplauder bis zum Einschlafen. Mehr und mehr erfahren sie so über das Leben des anderen und die Schicksalsschläge, die sie beide erlitten haben.

Doch in Holt bleibt ihr Tun nicht unbemerkt. Vielmehr betrachten einige Mitglieder der kleinen Gemeinde das Ganze mit Argwohn und Missgunst. Neider und Klatschtanten können von den beiden jedoch schnell zur Räson gebracht werden und so geht alles seinen Gang, bis Probleme in der Ehe von Addies Sohn Gene unvermutet zu einem längeren Aufenthalt ihres Enkels bei Addie führen. Der kleine Jamie gewöhnt sich in kurzer Zeit an Louis als Freund seiner Oma, umso mehr, als der ihm einen Hund aus dem Tierheim holt. So vergeht der Sommer mit schönen Ausflügen, Picknicken und Gartenarbeit und Alt und Jung, Mensch und Tier werden zu einer glücklichen kleinen Gemeinschaft. Das währt jedoch nur so lange bis Gene, dem die Beziehung zwischen Addie und Louis ein Dorn im Auge ist, Ernst macht: Nachdem er Jamie zurück nach Hause geholt hat, stellt er Addie vor ein schlimmes Ultimatum.

So leise, so zart und so poetisch lässt Kent Hanif seine Leser an der ungewöhnlichen Freundschaft, aus der sich eine späte Liebe entwickelt, teilhaben, dass diese gar nicht anders können, als sich mit den Protagonisten und ihrem Glück zu freuen. Man zieht mit ihnen bei der Lektüre über Felder, lauscht ihren Stimmen im nächtlichen Schlafzimmer, trotzt mit ihnen den Blicken der anderen im Diner – und sitzt beim Sonnenuntergang mit ihnen und Jamie auf der Veranda bei Sandwiches. Beseelt gibt Hanif einem das wunderbare Gefühl, dass das Leben doch so einfach sein kann – und dass auch das Alter durchaus noch Überraschendes und Schönes für diejenigen bereithält, die sich darauf einlässt.

Doch Haruf ist bei aller Fabulierkunst kein Märchenerzähler, sondern Realist. Man ahnt bei dem Glück, dass man beim Lesen empfindet, dass das Ganze nicht von Dauer sein wird und versinkt am bitteren Ende mit den beiden Protagonisten in große Trauer – und enorme Wut, dass Menschen es nicht fertigbringen, abseits von gesellschaftlichen Normen und Zwängen zu denken. Oder, wenn sie das schon selbst nicht schaffen, wenigstens diejenigen in Ruhe lassen, die das tun.

Ein großartiger Roman, der es nicht nur vermag, die Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens ganz leise und unaufdringlich darzustellen, sondern auch zeigt, dass in jedem scheinbar gewöhnlichen Leben etwas ganz und gar Einzigartiges steckt, sobald man genauer hinschaut. Es verwundert nicht, dass bereits die Vorbereitungen einer Verfilmung mit Jane Fonda und Robert Redford laufen. Den beiden großen Schauspielern ist auch zuzutrauen, dass der Film ebenso großartig, unsentimental und kitschfrei wird wie das Buch.

Titelbild

Kent Haruf: Unsere Seelen bei Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von pociao.
Diogenes Verlag, Zürich 2017.
197 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783257069860

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch