Vom Morgen danach zum Leben danach

In „Nüchtern am Weltnichtrauchertag“ nimmt Benjamin von Stuckrad-Barre seinen Leser mit auf einen Trip durch Rausch, Sucht und Abstinenz

Von Caroline LissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Liss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn es feierlich, ausgelassen oder schichtweg gesellig werden soll, gehört Alkohol bei bestimmten Anlässen gezwungenermaßen dazu. Ob beim ‚Après-Ski‘, der Geburtstags- oder Firmenfeier, dem Treffen mit den Kollegen oder einem Jubiläum – es fällt jene Person unangenehm auf, welche auf den Alkoholgenuss verzichtet; denn sie gilt als ‚Spaßbremse‘ oder ‚Spießer‘ und macht sich mit ihrem Verzicht meist unbeliebt. Dass Alkoholgenuss und Alkoholismus nah beieinanderliegen und es zwischen Genuss und Abhängigkeit keine klar erkennbare Grenze gibt, wollen viele nicht wahrhaben. Und so wird eben diese Gefahr verkannt, die mit dem genussvollen, maßvollen Trinken als vermeintliche Kulturtradition einhergeht.

Doch wie fühlt es sich an, in einer rauschgewohnten Gesellschaft als beinahe einziger ein Wasser nach dem anderen zu bestellen, während sich alle anderen ausgelassen zuprosten? Welchen Verlauf nimmt ein solcher Abend für denjenigen, der keinen Alkohol mehr trinken darf und welche Reaktionen hat der Nüchterne zu erwarten?

Benjamin von Stuckrad-Barres autobiografischem Buch Panikherz, in dem er von seinem eigenen Niedergang; Rausch, Drogenabhängigkeit, Entzug und Rückfall schreibt, folgt mit Nüchtern am Weltnichtrauchertag ein Gegenentwurf zum Delirium. Im ersten Teil der weniger als hundert Seiten langen Erzählung berichtet Stuckrad-Barre, wie so ein Abend verläuft, an dem er selbst nur mit Wasser anstößt, während alle um ihn herum immer alkoholisierter werden und die Gespräche dementsprechend ihren Reiz für den Nüchternen, dessen Abend daher meist schon um 21.30 Uhr beendet sei, verlieren. Der Vorteil, den er daraus zieht, sei der, dass er am nächsten Tag frisch und ausgeruht in den Tag starten und etwas für seine Gesundheit tun könne, indem er Joggen gehe.

Nüchtern veranschaulicht Stuckrad-Barre den Rausch aus der Sicht eines Süchtigen. Er erzählt ehrlich, warum das „grund- und anlasslose Trinken, am besten schon nachmittags“ das schönste war, schildert das Gefühl beim Trinken seines letzten Biers von vor zehn Jahren, den letzten Exzess vor dem Entzug und seine Erinnerung an diesen als sei es etwas Unvergessliches und Außerordentliches. Außerdem erklärt Stuckrad-Barre eindringlich, in welchen Situationen Alkohol für ihn immer hilfreich war und wie er mit der in sein Unterbewusstsein eingedrungenen Selbstverständlichkeit des Nichttrinkens zurechtkommt, insbesondere in einer Gesellschaft, die ihn „als nüchterne Antithese“ gerne zum Mittrinken zu animieren versucht.

Der zweite Teil des Buches stellt einen Gegenversuch dar, wenn Stuckrad-Barre als Raucher seinen Tagesablauf am Weltnichtrauchertag protokolliert, jeden Moment zeitlich festhält, jede Zigarette erwähnt sowie vom Verzicht des Rauchens in öffentlichen Räumen erzählt. Stuckrad-Barre raucht eigentlich zu jeder sich ihm bietenden Gelegenheit: während sein Computer hochfährt; wenn er seinen Text überarbeitet; während er telefoniert, wenn er Hunger hat et cetera. Das Protokoll seines Konsums zeigt schwarz auf weiß seine Nikotinabhängigkeit, er beschreibt darin aber auch die Veränderung des Umgangs der Öffentlichkeit und heutigen Gesellschaft mit dem Rauchen.

Während einst überall, insbesondere in Cafés, also im öffentlichen Raum geraucht wurde, Helmut Schmidts Rauchen „als wagemutiger Widerstand gegen die Gesundheitsdiktatur“ stand, das man „ihm als Charakterstärke ausgelegt“ hat, ist dies heutzutage verpönt beziehungsweise an vielerlei Orten, wie etwa an Flughäfen, grundsätzlich verboten. Insgesamt kommt Stuckrad-Barre auf 21 Zigaretten am Weltnichtrauchertag. Dennoch ist er sich sicher, eines Tages auch mit dem Rauchen aufzuhören, weil man in seinen Augen mit allem irgendwann aufhören müsse, ob nun mit dem permanenten Erteilen von Ratschlägen oder dem Rauchen – alles habe seine Zeit.

Scherzhaft und doch einfühlsam, poetisch, klug und flink erzählt Benjamin von Stuckrad-Barre von Rausch und Wahrnehmung, von der Tristesse und Einsamkeit des Wassertrinkens sowie von den Obsessionen der westlichen Kultur und wie es sich anfühlt, in einer solchen als Süchtiger nüchtern zu bleiben. So kritisch sein Resümee zum gesellschaftlich genormten Alkoholkonsum ausfällt, so unkritisch behandelt Stuckrad-Barre das Rauchen. Im Gegensatz zum Alkoholgenuss ästhetisiert er letzteres und beleuchtet lediglich die gesetzliche Lage des Rauchens im öffentlichen Raum, ohne dessen Kehrseite aufzugreifen.

Während ihm mit dem ersten Teil der Erzählung, „Nüchtern“, eine berührende, tiefsinnige und zugleich sehr wahre Darstellung von Sucht sowie des Lebens nach dem Entzug gelingt, flacht der zweite Teil, „Weltnichtrauchertag“, aufgrund der fehlenden Reflexion – trotz Konsum-Protokolls und seines Fazits zu Rauschmitteln und Süchten im Allgemeinen – bedauerlicherweise ab. Dies mindert jedoch nicht das Lesevergnügen, sondern ermuntert den Leser vielmehr, sich ein eigenes Urteil zum Stellenwert legaler Drogen beziehungsweise Rauschmittel in der heutigen Gesellschaft zu bilden.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Benjamin von Stuckrad-Barre: Nüchtern am Weltnichtrauchertag.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
78 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783462049602

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