Diese krankhafte Emotionsbrutstätte zertrümmern

Chris Kraus entwirft in ihrem Debütroman „I love Dick“ den Versuch einer radikalen Subjektivität

Von Matthias FriedrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Friedrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1848 veröffentlichte Søren Kierkegaard einen Feuilletonartikel namens Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin. Während die Kunstkritik vor allem an hübschen Aktricen interessiert ist, möchte Kierkegaard nicht den 18-jährigen, sondern den 31-jährigen Schauspielerinnen seine Aufmerksamkeit widmen. Zunächst mag dieses Vorhaben seltsam erscheinen, aber es hat einen Grund: Kierkegaard will die „Metamorphose“ beschreiben, die mit der Schauspielerin im Lauf dieser 14 Jahre geschieht. In ihrer frühen Jugend muss sie leider die in wortreichen Besprechungen versteckten Liebesgeständnisse heuchlerischer Rezensenten ertragen. Derartige „Kritiken“ werden niemals irgendetwas Relevantes über ihr Spiel aussagen können. Zwar teilt auch Kierkegaard die Auffassung, dass die Schauspielerin eine lebendige Unruhe aus ihrer Jugend gewinnen kann, aber das Entscheidende ist für ihn nicht ihre äußere Schönheit, sondern die Kunst der Darbietung. Im Idealfall schafft die Schauspielerin nämlich einen dialektischen Balanceakt zwischen „Ausgelassenheit“ und „Beruhigung“. Wenn die Zuschauer sehen, welche Mühe hinter ihrer Darbietung liegt, ist die Inszenierung schlecht; wenn der Aufwand nicht sichtbar ist, dann ist sie gelungen. „Man wird leicht mit Hilfe von – Schwere“, schreibt Kierkegaard dazu. Worin besteht nun die Verwandlung der Schauspielerin? Die Zeit, die laut Kierkegaard selbst eine dialektische Größe ist, setzt die dialektische Spannung zwischen „Ausgelassenheit“ und „Beruhigung“ frei. Mit zunehmender Erfahrung weiß sie, wann sie ihren Text con und via il sordino vortragen muss; die Zuschauer können sich erst dann in die von ihr repräsentierte Figur hineinversetzen, wenn sie zwischen dem Unbeschwerten und dem Gedämpften zu changieren weiß.

Es mag nebensächlich sein, wenn die amerikanische Autorin Chris Kraus Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin in ihrem schon 1997 erschienenen Debüt I love Dick zitiert. Ihr Roman verfolgt die von Kierkegaard beschriebene Metamorphose bis ins Kleinste nach, auch wenn dies an keiner Stelle offen ausgesprochen wird. Chris Kraus, eine 39-jährige, recht erfolglose Filmproduzentin und mit dem Literaturwissenschaftler Sylvère Lotringer verheiratet, macht eine Erfahrung, die ihr Schreiben initiiert. Bei einem Dinner mit ihrem Mann lernt sie dessen Kollegen Dick kennen, in den sie sich mit einem Schlag verliebt. Chris, die sich mit einem Filmprojekt übernommen hat, befindet sich an einem Wendepunkt und ist bereit, sich auf etwas Neues einzulassen. Die Beschäftigung mit Dick wird zu einer Obsession – sie möchte Sex mit ihm haben. Sie hat die Ahnung, er habe „eine Art Spiel“ zwischen ihr und Sylvère vorgeschlagen, und bittet ihren Mann darum, Dick anzurufen. Der möchte zwar auch über den fraglichen Abend sprechen, schlägt seiner Frau aber ein anderes Medium vor: den Brief. Sowohl Chris als auch er haben den „Wunsch, das Leben ein wenig zu fiktionalisieren“. Sie beginnen zu schreiben, und schon bald entsteht der Wunsch, die entstandenen Texte zu veröffentlichen. Sylvère, beeinflusst von der französischen Literatur, mag zumindest ein vorgeschobenes wissenschaftliches Interesse daran haben, während Chris – in ihren und durch ihre eigenen Worte – „ein Stück Realität“ schaffen möchte, „das diese kranke Emotionsbrutstätte zertrümmert“. Was sich im Folgenden entwickelt, ist eine Beziehung, wie ausschließlich die Literatur sie ermöglichen kann. Das Dinner mit Dick ist der Anstoß für einen Roman, der Briefe, Essays und Kunstkritik zusammenbringt, ein gattungsüberschreitender Akt, dessen Ziel radikale Subjektivität ist. Denn es geht um niemand anderen als Chris, die versucht, sich aus einer Krise zu befreien, indem sie das Bestehende zerschlägt und zu einem neuen Bild zusammenfügt, das jedoch nicht einheitlich ist, sondern Risse zeigen darf und muss. I love Dick ist fiktionaler Text und Autobiografie zugleich.

Eine schnelle Recherche offenbart, dass viele der im Buch beschriebenen Personen tatsächlich existieren. Zum einen die Hauptfigur und (größtenteils) Ich-Erzählerin Chris Kraus, die auch in ihrem Leben außerhalb der Literatur als Künstlerin und Filmschaffende aufgetreten ist; dann Sylvère Lotringer, der entscheidend dazu beigetragen hat, den französischen Poststrukturalismus im angloamerikanischen Sprachraum bekannt zu machen; und schließlich Dick. Der wird zwar nur mit dem Vornamen erwähnt, lässt sich aber anhand der Werke identifizieren, die Chris zitiert. Jedoch sind alle drei Hauptpersonen in erster Linie Romanfiguren.

In den letzten Jahren ist vor allem im skandinavischen Raum eine Vielzahl von autobiografischen Romanen erschienen. In Norwegen spricht man in diesem Zusammenhang von virkelighetslitteratur, „Wirklichkeitsliteratur“. Darunter versteht man Texte, in denen ein Autor oder eine Autorin über sich selbst schreibt, oft in der ersten Person, und Personen aus seinem Umfeld in die Handlung miteinbezieht, vor allem aus der Familie. Wer jedoch meint, dass die Realität und deren Darstellung im Roman übereinstimmen, liegt falsch, denn auch ein scheinbar kompromissloser Romanzyklus wie Karl Ove Knausgårds Min kamp setzt auf Fiktionalisierung. Der dänische Literaturwissenschaftler Poul Behrendt spricht vom sogenannten dobbeltkontrakt, einem Vertrag mit zweifacher Bedingung. Ein Beispiel hierfür sind die Erlebnisse, die Karl Ove Knausgård in seinen Büchern schildert. Wenn der Ich-Erzähler Karl Ove und sein Bruder Yngve in einer Friedhofskapelle in Kristiansand den Sargdeckel anheben, um nachzuschauen, ob der verhasste, gewalttätige Vater auch wirklich tot ist, dann mag das zunächst als eindringliche Beschreibung zu überzeugen, zumal die Leser des Zyklus die fragliche Kapelle auch heute noch besuchen können. Aber bei Min kamp handelt es sich um ein Romanprojekt. Das bedeutet, dass sich der Autor jederzeit mit dem Argument, dies alles sei doch bloß eine an der eigenen Biografie geschulte Fiktion, aus der Verantwortung ziehen kann, in etwa folgendermaßen: Das habe ich so nicht gemeint, ich habe es bloß weitergedichtet, um es zu dramatisieren. In der Konsequenz heißt das, jeglichen Versuch einer radikalen Subjektivität im Vorhinein zu sabotieren.

Chris Kraus hingegen stellt immer wieder klar, dass der Vertrag mit dem Leser ein doppelter ist. Sie versteckt sich nicht hinter der Etikettierung „Roman“, sondern nutzt sie für ihr Schreibprojekt. „Und dann kam alles tatsächlich fast ganz genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte“, schreibt sie an einer Stelle; es liegt nahe, dass hiermit der die ganze Zeit herbeifantasierte Sex mit Dick gemeint ist. Das „fast“ lässt jedoch einen kleinen Zweifel aufkommen, den Chris prompt bestätigt: „Doch das war nur eine Story. Die Wirklichkeit liegt in den Details, und sogar wenn sich die Geschehnisse erahnen lassen, so kann man sich doch nicht wirklich vorstellen, wie man sich fühlen wird.“ Wenige Seiten später schreibt sie: „Ich habe fast ein Jahr gebraucht, um diesen Brief zu schreiben, und deshalb ist er zu einer Geschichte geraten.“ So wird die Literatur zu einem Medium, in dem sie sich nicht nur Dick annähern kann, sondern auch sich selbst. Ihr Grundkonflikt ist nämlich, dass sie lediglich Sylvères „Partybegleitung“ oder die „Akademische Ehefrau“ ist, die einiges von den universitären Diskursen mitbekommt, ohne jemals selbst daran teilhaben zu dürfen. Chris ist getrieben vom Drang, zu verstehen, wie sie in ihrer Situation landen konnte. „Lesen hält, was Sex zwar verspricht, doch kaum je einlösen kann – größer zu werden, weil man die Sprache einer anderen Person betritt, ihre Kadenz, ihr Herz und ihr Denken“, schreibt sie.

Dabei erkennt sie nicht nur sich selbst, sondern auch die Welt, in der sie lebt. Schon Kierkegaard kritisierte die (männlichen) Theaterkritiker seiner Zeit für die kaum verhüllten Liebesgeständnisse, die sie jungen Schauspielerinnen entgegenbrachten. Chris Kraus führt den ernüchternden Beweis dafür an, dass sich noch heute nichts daran geändert hat. Ihr Schreiben ist also nicht nur ein Versuch, sich Dick anzunähern, sondern die Machtstrukturen im Kunstbetrieb offenzulegen und „die Umstände der eigenen Objektivierung bloßzustellen“. Damit geht sie ganz bewusst die Gefahr ein, sich dem Urteil und dem Gespött ihrer Kollegen auszusetzen. Sie gestattet sich „die Freiheit, von innen hinauszusehen“. Ihre Selbstschau eröffnet ihr Momente des Glücks, sie wird „nicht länger von den Stimmen anderer getrieben“. Und: Es gibt nur noch die Welt, wie sie sie wahrnimmt. Sie erkennt die Strukturen, die sie bislang an einer Selbstermächtigung gehindert haben. Das ist eine Welt, in der sie ständig Rollen einzunehmen hat, zum Beispiel als Sylvères Ehefrau. Aber sie wehrt sich gegen Erwartungen, die die Zeit, in der sie lebt, an sie heranträgt. Chris zitiert aus einem Gespräch, das sie mit der Dichterin Alice Notley geführt hat: „Weil wir eine bestimmte Form theoretischer Sprache ablehnten, nahmen die Leute ganz einfach an, dass wir dämlich seien.“ Die Frage, die Chris umtreibt, lautet folgendermaßen: „Warum ist die weibliche Verletzlichkeit nach wie vor allein dann akzeptabel, wenn sie neurotisiert und persönlich ist, wenn sie auf sich selbst zurückweist?“ Chris versucht, darauf eine Antwort zu finden, indem sie ihre eigenen Befindlichkeiten nicht persönlich, sondern gesellschaftlich begreift: Das flexible Medium des Romans erlaubt ihr, Briefe, Erzählungen und Kunstkritik zusammenzubringen, um so ein Bild ihrer eigenen Welt zu entwerfen, die der Leser wiederum betreten und verstehen kann. In ihren gedanklichen Sprüngen gibt sie sich ausgelassen, wohingegen die Form des Romans beruhigend wirkt: Literatur kann Erfahrungen bündeln, die auf den ersten Blick widersprüchlich oder paradox erscheinen.

Das Lesen dieses Romans macht nervös, weil sich die Briefe an Dick, die Essays und die kunstkritischen Passagen so schnell abwechseln. Chrisʼ Rastlosigkeit ist in jeder Hinsicht ansteckend. Ihre Einordnungsversuche machen die Mühen, die ihr literarisches Vorhaben unterwegs begleitet haben müssen, unsichtbar. Die schiere Geschwindigkeit der Handlung und das Hin- und Herspringen zwischen unterschiedlichen Reflexionsebenen lassen den Roman zu einer kurzweiligen Lektüre werden. „Man wird leicht mit Hilfe von – Schwere“, schreibt Kierkegaard. Chrisʼ Rolle besteht darin, erst einmal eine  Rolle zu finden, die abseits der Erwartungen liegt. Im Schreiben erschafft sie sich eine Form des eigenen Sprechens, die die „krankhafte Emotionsbrutstätte“ ihres bisherigen Lebens zerstört und ihr eine neue Existenz ermöglicht: als Schriftstellerin.

Titelbild

Chris Kraus: I love Dick.
Übersetzt aus dem Englischen von Kevin Vennemann.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
294 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957573643

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