Eine Distelblüte in der Hand

Im Roman „Der Traum des Richters“ von Carlos Gamerro verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum und die argentinische Geschichtsschreibung wird in Frage gestellt

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Borges war das Vergessen nicht das Gegenteil der Erinnerung, sondern ein integraler Bestandteil ebendieser; dem argentinischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Carlos Gamerro zufolge ist das Vergessen sogar eine kreative Komponente der Erinnerung, da sie uns erlaubt, in eine Zeit zurückzureisen, in der nichts gewiss ist und die wir erst wieder neu mit Bedeutung füllen müssen, damit sie nicht als Leerstelle in uns eingeschrieben bleibt. Blickt man zurück in die Vergangenheit Argentiniens, so taucht an jener Stelle, an der sich die Identität des im 19. Jahrhundert von Spanien unabhängig gewordenen Landes konstituierte, unmittelbar die literarische Fiktion auf: Sarmientos Facundo. Civilización y barbarie, Echeverrías El matadero und Martín Fierro von José Hernández und andere.

In seiner Aufsatzsammlung Facundo o Martín Fierro. Los libros que inventaron la Argentina geht Gamerro der Frage nach, inwiefern diese und andere literarische Texte identitätsstiftend auf Argentinien einwirkten und ob das Selbstbild Argentiniens ein anderes sein würde, wenn dieses durch eine andere Literatur geprägt worden wäre. Nun handelt Gamerro diese Frage in dem 2015 auf Deutsch erschienenen Roman Der Traum des Richters (Originaltitel: El sueño del señor juez) auch auf fiktionale Weise aus. Dabei holt er nicht nur den von Hernández dargestellten Gaucho wieder auf die literarische Bildfläche, der desillusioniert sein Schattendasein inmitten der argentinischen Gesellschaft führt und sich danach sehnt, frei wie ein Vogel zu leben, sondern zieht auch mit den Augen eines Lesers der Sueños von Francisco de Quevedo den Diskurs über die argentinische Identität ins Relative. Inwiefern lassen sich Schein und Sein, Wirklichkeit und Traum, Wahrheit und Lüge voneinander abgrenzen und kann eine Grenze zwischen Fiktion und Geschichte im Falle Argentiniens überhaupt gezogen werden?

Gamerro begibt sich mit Der Traum des Richters zurück in das endende 19. Jahrhundert eines Argentiniens, das die von Sarmiento so scharf kritisierte Herrschaft unter Rosas und die Politik des „blanqueamiento“ von Sarmiento hinter sich hat, und sich nun in einer Phase der politischen Neuorganisation und Expansion befindet. Die argentinische Pampa, deren Wesen sich gerade durch ihre Unbegrenzt- und Wildheit bestimmt, ist in verschiedene Segmente unterteilt, die nicht mehr den eigentlichen Herren der Pampa, den Gauchos, gehören, sondern einer Art Lehnsherren, die mittels Friedensrichter versuchen, Gesetze und Strukturen dem ungezähmten Leben in der Pampa aufzuerlegen. Die Gauchos, die nach ihrem Militärdienst an der Grenze unter General Roca sich auf das feste Versprechen einer Landreform verlassen hatten, finden sich desillusioniert auf sogenannten Estanzias wieder und sehen sich gezwungen, Gesetze und Fremdherrschaft als Teil ihrer Realität anzusehen:

Land, immer nur Land! Seit wann besitzt ein schmieriger Gaucho eigenes Land? Wer hat dir diese Schnapsidee überhaupt in den Kopf gesetzt? Wozu willst du eine Besitzurkunde, wenn du sie noch nicht mal lesen kannst? Meinst du, ich setz meine Haut aufs Spiel und jage den Indios ihr Land ab, um es danach so einem Lumpenkerl wie dir zu schenken? Das Land gehört dem, der was draus macht. Nicht solchen Faulsäcken wie euch!

In Der Traum des Richters ist es der Richter Urbano, der versucht, in der argentinischen Weite eine Stadt zu gründen, die seinen Namen tragen soll. Dabei ist er aber keineswegs frei in seinen Entscheidungen, sondern auf die Arbeit der Gauchos und auf die Absegnung seines Unternehmens durch einen Feldvermesser angewiesen. Sein Vorhaben scheint jedoch unmöglich, da nicht nur die Gauchos von Malihuel sich zunehmend gegen ihn auflehnen, weil er sie für verschiedene Verbrechen bestraft, die diese in seinen Träumen begangen haben sollen, sondern sich außerdem der von Urbano herbeigesehnte Feldvermesser nicht blicken lässt.

Wie meilenweit seine Idee von der Errichtung einer europäischen Metropole inmitten der Verlorenheit der Pampa von der Wirklichkeit entfernt ist, zeigt sich besonders deutlich an einem Traum Urbanos: Der Richter wähnt sich in Paris – dem Inbegriff jener europäischen Werte, die er sich für seine zukünftige Stadt wünscht –, aber auf der Bühne des besten Cabaret der Stadt tanzen durch seinen Traum anstatt bildhübscher Mädchen dicke Indiofrauen mit Goldzähnen, die hin und wieder ihre verschlissenen Rockschichten lüften, um zu demonstrieren, dass sie nichts darunter tragen, und sogar hin und wieder in die Hocke gehen, um auf den Boden zu pinkeln. Durch diesen Traum werden die großen Ängste und Abneigungen des Richters deutlich, die dieser im Hinblick auf die indigenen Wurzeln des eigenen Landes verspürt; er sehnt sich nach einer von ihm idealisierten Europäisierung und Modernisierung und verkennt dabei die Wirklichkeit und den Charakter der Pampa.

Dass nicht nur die indigene Bevölkerung, sondern auch der Gaucho in Argentinien einer willkürlichen Macht- und Denunziationsspirale ausgeliefert waren, macht Gamerro an jener Stelle im Roman besonders deutlich, als sich Rosendo daran erinnert, wie er festgebunden zwischen Pfählen eine Nacht verbringen musste, weil er an einem Aufstand der Siedler beteiligt war, die sich gegen den Lehnsherren, einen gewissen Patrick Mulligan, aufgelehnt hatten: „Rosendo spürte den ganzen Winter über die Schmerzen seiner Streckfolter, doch im Frühling, als er endlich wieder reiten konnte, hatte sein Entschluss, für immer fortzugehen, schon wieder nachgelassen.“ Hierbei handelt es sich um einen unverkennbaren intertextuellen Bezug auf den Martín Fierro von Hernández, wo der Protagonist dieselbe Prozedur erleiden muss, bevor er sich auf den Weg in die Weite der Pampa macht, um nicht mehr der Fremdbestimmung und dem sinnentleerten Arbeiten auf den Estanzias ausgesetzt zu sein.

In Der Traum des Richters entschließt sich der Gaucho Rosendo erst einige Jahre später dazu, sich aufgrund der misslichen Umstände, denen er sich in Malihuel unter dem ehemaligen Oberst und jetzigen Richter Urbano ausgesetzt sieht, seine beginnende Sesshaftigkeit aufzugeben und in die Pampa zu ziehen. Doch die Macht des Richters, die sich sogar bis in die Träume der Bewohner von Malihuel erstreckt, vermag auch in der Weite der Pampa noch ihre Wirkung zu entfalten: „Wenn er so weit gekommen war, dann nicht aus eigenem Verdienst, sondern weil ihn die Träume des Richters an der langen Leine hielten, nichts weiter. Während der ganzen Reise bewegte er sich in dem unendlich langen Schatten des Richters, dem niemand entkommen konnte.“

Durch die zeitliche Distanz zu jener Phase der argentinischen Geschichte, in der Gamerro seinen Roman situiert, wird es dem Autor möglich, mit einer guten Portion Ironie und Sarkasmus auf die ausweglose Situation des argentinischen Gauchos in diesem historischen Moment zu schauen. Indem Gamerro in Der Traum des Richters nicht nur die Gaucho-Literatur, sondern auch den spanischen Barock in seinen Text mit einschreibt und die Grenze zwischen Traum und Realität zunehmend verwischt, gelingt es ihm, die Geschichte als Narrativ zu entlarven, das ebenso wie die Literatur aus fiktionalen Versatzteilen besteht: Kann der Argentinier auf die Pampa blicken, ohne sie – mindestens zum Teil – so zu sehen, wie Sarmiento oder Hernández sie gesehen haben? Wissen wir wirklich, ob wir träumen oder wachen? Können wir die argentinische Geschichte überhaupt ohne ihre Literatur zu fassen bekommen?

In Der Traum des Richters spricht Rosendo mit dem alten Santoro über das Wesen der Träume und Santoro klärt den Gaucho über die Verwobenheit von Geschichte und Fiktion mit folgenden Worten auf: „Du bist noch jung, aber wenn du erst mal so alt bist wie ich, dann wirst auch du auf dein Leben zurückblicken und nicht mehr genau sagen können, was Traum war und was Wirklichkeit.“ Dass sich weder Traum und Wirklichkeit, noch Geschichte und Fiktion klar voneinander abgrenzen lassen, sondern fließend ineinander übergehen, führt uns Gamerro gegen Ende seines fiktionalen Textes noch einmal gekonnt und in Anlehnung an Borges besonders deutlich vor Augen, wenn er Don Urbano – nach seinen wüsten Träumen, in denen er von einem Mann mit stacheligem Schnauzbart einen Zungenkuss und eine Distelblüte bekommt – seine Hand öffnen und eben jene Distelblüte in seiner Handfläche wiederfinden lässt.

Carlos Gamerro lässt mit diesem Roman den Gaucho in einer Phase, in der dieser nur noch ein Schattendasein in der argentinischen Wirklichkeit führt, wieder zum Leben erwachen und führt dem Leser vor Augen, dass die Zeit, in welcher der Gaucho frei und unabhängig sein Leben führen konnte, ab diesem Zeitpunkt nun endgültig Geschichte ist; denn sogar bis in den Traum sieht sich der Gaucho bei Gamerro verfolgt vom Gesetz der Zivilisation. In The Gaucho: His Changing Image beschreibt S. Samuel Trifilo, inwiefern der Gaucho in der Gegenwart fortlebt: „the gaucho is not completely dead; his spirit will always be with us – in the literature he inspired, in the legends he created, in the history he helped to make“. Mit diesem Roman hat Gamerro kreativ mit der Vergangenheit gespielt, ihr neues Leben eingeflößt und mit Ironie und Witz gezeigt, dass wir immer wieder aufs Neue die Möglichkeit haben, die Identität des eigenen Landes neu zu begründen, indem wir erkennen, dass man die Gründungsmythen auch ganz anders hätte erzählen können.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Carlos Gamerro: Der Traum des Richters.
Aus dem argentinischen Spanisch übersetzt von Tobias Wildner.
Septime Verlag, Wien 2015.
184 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-13: 9783902711410

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