Von Mörderinnen und Schaufensterpuppen
Gaye Boralıoğlus Erzählband „Die Frauen von Istanbul“ bietet Einblicke in die hierzulande „unbekannte Gesellschaft“ der Metropole am Bosporus
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Alles, was erzählt wird, stellt die Realität nur unzureichend dar – oder es übertrifft sie um das Fünf- bis Sechsfache“, meint eine junge Studentin aus Istanbul, die ihren Lebensunterhalt als Verkäuferin bestreitet. Und da sie selbst eine Figur in einer Kurzgeschichte ist, könnte es durchaus sein, dass sie weiß, wovon sie spricht. Zumal sie nicht nur eine Figur der Geschichte ist, sondern sie selbst erzählt. Die kurze Erzählung handelt von ihrer Freundin Semila, einer lebenslustigen jungen Frau, die in den Ruch gerät, sich mit Männern herumzutreiben. Von ihren Verwandten zu Rede gestellt, erklärt sie in ihrer Not wahrheitswidrig, sie könne mit Männern „gar nichts anfangen“, denn sie liebe Frauen. Entsetzt verheiraten Onkel und Tante ihre vermeintlich lesbische Nichte sofort an den nächstbesten Mann, der natürlich einer der schlechtesten ist, nämlich ein „Saukerl“, „der Leichengeruch um sich verbreitet“. Zwar tötet er Semila nicht, doch nimmt er ihr das Leben. Auch die namenlose Ich-Erzählerin selbst führt ein zunehmend freudloses Dasein und findet ihren „einzigen Trost“ darin, „dass die Zeit, je älter man wird, schneller vergeht“.
Erdacht wurde die traurige Geschichte von der hierzulande zwar unbekannten, in ihrer Heimat aber prominenten türkischen Autorin Gaye Boralıoğlu. Sie trägt den Titel Zwei Verkäuferinnen und befindet sich in Boralıoğlus Erzählband Die Frauen von Istanbul. Anders als der auf das hiesige Publikum zugeschnittene deutsche Titel verrät derjenige der türkischen Originalausgabe Mübarek kadınlar, was von den Titelheldinnen zu halten ist: Es sind Heilige Frauen. Wolfgang Riemann und Monika Carbe haben die Erzählungen aus dem Türkischen übersetzt. Bedauerlicherweise verzichtet der Verlag auf ein Vor- oder Nachwort, aus dem sich Näheres über die Verfasserin erfahren ließe. Kompensiert wird dieses kleine Manko immerhin durch einige knappe biografische Auskünfte zur Autorin am Ende des Bandes.
Wie der deutschsprachige Titel des Buches bereits erahnen lässt, stehen im Zentrum der Erzählungen jeweils eine oder mehrere Einwohnerinnen der am Bosporus gelegenen Metropole. Die meisten von ihnen leben im europäischen Teil der Stadt. Eine von ihnen zieht es allerdings mit Macht in eine abgelegene Gegend des Ida-Gebirges. Andere verlaufen sich in den Weiten der Großstadt, treten als Sängerin auf oder sie werden aus ganz unterschiedlichen Gründen festgenommen und ins Gefängnis geworfen. Doch ob die Protagonstinnen nun zwangsverheiratet werden, in einem der Gefängnisse misshandelt werden, in der Stadt mit ihren nahezu 15 Millionen EinwohnerInnen bleiben oder sie verlassen, stets erzählen die Geschichten von den vielfältigen Gestalten des alltäglichen Elends und von den Träumen der Frauen, die nicht immer Kraft und Initiative genug haben, sie wahr werden zu lassen oder auch nur auf deren Realisierung hinzuarbeiten. Von alldem wird stets unspektakulär, fast wie selbstverständlich erzählt. Doch gerade darum wirkt es umso eindringlicher.
Zwar tragen kurzen Geschichten ausnahmslos Titel, die ihre jeweilige Protagonistin auf die eine oder andere Weise charakterisieren, doch können sie auch schon einmal von einem männlichen Ich erzählt werden, das seine Phantasien, die gar nicht einmal sexueller Art sein müssen, auf eine Frau projiziert. Es bedarf keiner sonderlich aufmerksamen Lektüre, um zu bemerken, dass der Ich-Erzähler einer solchen Geschichte später noch einmal zu Wort kommt. Allerdings sind er und die Frau seines Begehrens zwischenzeitlich um einige Jahrzehnte gealtert.
Eröffnet wird der Band mit der Geschichte über Mi Hatice. Die Erzählstimme berichtet aus der Sicht und dem Gefühlsleben einer offenbar schon etwas älteren, jedenfalls bereits seit langem verheirateten Frau, die sich so „brüchig, beunruhigt und ohne Vertrauen“ fühlt wie die zwischen re und fa gelegene Tonsilbe mi. Die Handlungszeit der Erzählung beträgt wohl kaum mehr als eine Stunde. Es ist dies die Zeit, welche die Bahn für die Strecke zwischen den beiden Istanbuler Stadtteilen Sirkeci und Halcalı benötigt. In ihr sind Hatice und ihr Mann, offenbar nach getaner Arbeit, auf dem Weg nach Hause. Die Erzählstimme enthält sich unterwegs jeder kommentierenden oder interpretierenden Bemerkung, ohne darum jedoch distanziert oder kühl zu wirken. So lässt sie die Lesenden an den ambivalenten Gedanken der Kopftuchträgerin beim Ruf des Muezzin teilnehmen, dessen Worte Hatice zwar schon als Kind auswendig gelernt hat, jedoch nie verstand. Ohne dass es irgendjemand der Mitreisenden bemerken würde, stirbt Hatices Mann auf der Fahrt einen lautlosen Tod. Kaum von ihm befreit, wirft sie das Kopftuch ab und verlässt die Bahn, ohne sich weiter um den Leichnam zu kümmern. So erweist sich sein ebenso ruhiges wie unerwartetes Ableben als Freitod in einem ganz eigenen Sinn. Zwar ist Hatice von der ersten bis zur letzten Seite der Erzählung mit ihrem Mann zusammen, das jedoch, ohne auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln. Überhaupt reden die Frauen und Männer – zumal wenn sie Paare sind – in den Geschichten Boralıoğlus nicht sonderlich viel miteinander.
Die Schicksale der Frauen sind so vielfältig wie ihre Lebensumstände. So zeigt eine der Geschichten etwa, dass niemand je aus einem Krieg zurückkehrt. Denn die Rückkehrer sind Andere geworden und die zu Hause Gebliebenen – die Frauen – haben deren Verletzungen als eigene zu tragen. Oder sie erzählen von einer seit anderthalb Jahrzehnten verheirateten Frau, die in den Jahren ihrer Ehe mit Mustafa, der zwar „kein schlechter Mann, doch ein wenig grob“ sei, nichts anderes kennengelernt hat, als Prügel zu beziehen und tagein, tagaus Hühnchen mit Reis zu kochen. Nun ist sie eines Massenmordes verdächtig. Boralıoğlu gibt der einfachen Frau die Stimme zu einer schlichten Verteidigungsrede, die zwischen den Zeilen den ganzen Jammer ihres Daseins hervortreten lässt. Eine andere der Frauen sucht ihr ganzes Leben lang vergeblich nach einer Liebe, „um derentwillen sich zu weinen gelohnt hätte“. Damit ist sie eine der Frauen in den Geschichten, die es unternehmen, ihr Leben selbst zu gestalten. Mag ihre Suche nach Liebe auch vergeblich sein, so erobert sie sich doch ein Stück Freiheit, indem sie sich entschließt, zu ihrer Identität als Angehörige einer unterdrückten Minderheit zu stehen, an der die türkische Mehrheit vor rund 100 Jahren einen Genozid beging.
Es kann vorkommen, dass sich in eine der Geschichten gegen Ende ein Hauch Phantastik einschleicht. Etwa, wenn sich eine der Protagonistinnen verläuft und dies zu einer unerwarteten Begegnung im „Wald der verschollenen Mädchen“ führt. Wer – im deutschen Sprachraum – dächte bei dieser Wendung nicht sogleich an Ingeborg Bachmanns „Friedhof der ermordeten Töchter“?
Ganz und gar realistisch, dafür aber umso metaphorischer nimmt es sich hingegen aus, wenn eine Schaufensterpuppe untätig zuschauen muss, wie eine Demonstration niedergeknüppelt und auseinandergetrieben wird. Als sich die protestierenden Menschen bald darauf wieder versammeln und diesmal Schaufensterscheiben zu Bruch gehen, fühlt sie zum ersten Mal den frischen Wind der Freiheit um ihre Wangen streichen. Aber selbstverständlich ist auch die Begegnung im Wald der verschollenen Mädchen metaphorisch zu lesen.
Mag es zu merkwürdigen Begegnungen im Wald kommen und mögen Schaufensterpuppen den Atem der Freiheit verspüren, Boralıoğlus Geschichten überbieten die Realität, ohne sie zu überzeichnen und werden ihr deshalb gerecht. Das mag sich die eingangs zitierte Studentin gesagt sein lassen. Dabei lässt so manche von ihnen die eine oder andere Frage offen. Unter der Oberfläche aber rührt sich das Verborgene. Die Erzählungen bringen es ans Licht. Auch dann, wenn von ihm gar nicht die Rede ist. Nun mögen Boralıoğlus kleine Erzählungen zwar eine Botschaft haben, doch tragen sie diese nie plakativ vor sich her, sondern auf sehr subtile und sehr poetische Weise an die Lesenden heran. Dabei verfährt die Autorin nicht ohne einen meist feinen, dunklen Humor, der allerdings auch schon einmal ein wenig deftiger ausfallen kann. Bei alldem ist jedes ihrer Worte stets wohl gewählt und klug gesetzt. Nicht eines ist zu viel, keines zu wenig. Jedes hat seine Bedeutung und jedes seine Funktion im Gefüge der Geschichte – sie alle tragen ihren Teil zum Wohlklang der erzählerischen Komposition bei.
Die Botschaften der Geschichten aber besagen, dass das Unrecht der Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen – sei es durch den Staat, die Religion oder den nächsten männlichen Verwandten – nicht hingenommen werden sollte. Frei wie die Vögel sollten sie sein, die Frauen von Istanbul, und lauthals die wundervollsten Melodien singen. – Oder auch nicht, ganz wie sie mögen.
|
||