Die Deutschen und der europäische Osten

Zum 100. Geburtstag von Johannes Bobrowski

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johannes Bobrowski war eine der markantesten Stimmen in der deutschen Nachkriegsliteratur. Seine Bedeutung wurde jedoch erst Jahrzehnte nach seinem Tod sichtbar, dabei übte er einen starken Einfluss auf seine und die nächstfolgende Dichtergeneration aus. Ähnlich wie Günter Grass und Siegfried Lenz war Bobrowski eng mit der osteuropäischen Region und Kultur verbunden. So wurde er mit seinem Werk zu einem literarischen Grenzüberschreiter und Vermittler zwischen Ost und West.

Johannes Bobrowski wurde am 9. April 1917 in Tilsit an der Memel, dem heutigen Sowjetsk im russischen Kaliningradskaja oblast, als Sohn des Reichsbahnbeamten Gustav Bobrowski und seiner Ehefrau Johanna geboren. Er wuchs in einer bürgerlichen Familie, die von einer tiefen Frömmigkeit geprägt war, auf. Nach einem kurzen Ortswechsel nach Graudenz in Westpreußen, wohin der Vater versetzt worden war, kehrte die Familie wieder nach Tilsit zurück. Hier wurde der kleine Johannes auch eingeschult. Als die Familie 1925 dann nach Rastenburg (Ketrzyn), in den heutigen polnischen Masuren, übersiedelte, besuchte er dort das Gymnasium. Nach erneutem Umzug der Eltern 1928 nach Königsberg (Kaliningrad) besuchte er das dortige humanistische Stadtgymnasium Altstadt-Kneiphof.

Erster Direktor des berühmten Gymnasiums zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Johann Michael Hamann, Sohn des deutschen Philosophen und Schriftstellers Johann Georg Hamann, gewesen. Unter Bobrowskis Lehrern war der ostpreußische, damals sehr erfolgreiche Dichter Ernst Wiechert. Die Sommerferien verbrachte er häufig auf dem Lande, bei einer Stieftante in Willkischken (Vilkyskiai) oder bei den Großeltern mütterlicherseits in Motzischken (Mociškiai). Bei diesen Aufenthalten und zahlreichen Streifzügen verinnerlichte der Junge die Natur des Memelgebietes und die litauische Kultur, die beide später eine wichtige Rolle in seinem Werk spielen sollten.

Durch die familiäre Frömmigkeit wurde Bobrowski mit sechzehn Jahren Mitglied des „Bundes Deutscher Bibelkreise“ und der „Gefolgschaft Luther“. Mit dem evangelischen Jugendverband unternahm er Wanderfahrten und Zeltlager. Nachdem die Nationalsozialisten die Bibelkreise aufgelöst hatten, suchte er die Nähe der „Bekennenden Kirche“, in der seine Eltern 1936 Mitglied (Luisengemeinde Königsberg) wurden.

Der junge Bobrowski entfaltete schon früh musikalische, zeichnerische und literarische Aktivitäten. So wurde er seit dem achten Lebensjahr im Klavierspiel unterrichtet; später lernte er auch Geige und dann im Königsberger Dom Orgel spielen und wirkte sehr oft bei musikalischen Veranstaltungen mit. Während der Gymnasialzeit entstanden bereits erste Gedichte, die er an den Hamburger Verleger Heinrich Ellermann sandte. Mit dem Hinweis auf Unselbständigkeit erhielt er die Verse allerdings zurück.

Im März 1937 legte Bobrowski sein Abitur ab. Danach musste er für sieben Monate seinen „Reichsarbeitsdienst“ ableisten und einen zweijährigen Militärdienst als Funker in einer Königsberger Nachrichtenabteilung antreten. Ende 1937 wurde der Vater nach Berlin versetzt, Mutter und Schwester folgten später. Bobrowski wollte nun in der Reichshauptstadt Kunstgeschichte studieren, doch mit Kriegsbeginn war er als Gefreiter der deutschen Wehrmacht am Überfall auf Polen beteiligt. Anschließend wurde er an die Westfront in Frankreich versetzt und nahm im Sommer 1941 am Einmarsch in die Sowjetunion teil, wo er in den folgenden Kriegsjahren an verschiedenen Abschnitten der Ostfront (vom lettischen Kurland bis nach Nowgorod) stationiert war.

In der 1961 von Hans Bender herausgegebenen Anthologie Widerspiel äußert Bobrowski, dass „er 1941 am Ilmensee (nahe der Stadt Nowgorod) zu schreiben begonnen habe, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten.“ Diese Aussage stellt keinen Widerspruch zu seinen Gedichten aus der Schul- und Jugendzeit dar, denn erst jetzt hatte er durch die Kriegserlebnisse sein Thema gefunden. Ein erster Erfolg stellte sich 1944 ein, als auf Empfehlung von Ina Seidel im vorletzten Heft der von Paul Alverdes edierten Münchener Zeitschrift Das Innere Reich ein Vierzeiler und sieben Oden abgedruckt wurden.

Im Winter 1941/42 wurde Bobrowski zum Studium vom Kriegsdienst beurlaubt und konnte so ein Semester lang an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität Vorlesungen zur Kunstgeschichte hören. In diese kurze Studienzeit fällt auch die Verlobung mit der aus Motzischken stammenden Johanna Buddruss; die Hochzeit fand ein Jahr später, am 27. April 1943, auf dem Hof ihrer Eltern statt. Auf ein zweites Studiensemester verzichtete Bobrowski, weil die Beurlaubung an die Bedingung geknüpft war, Offizier und Mitglied der NSDAP zu werden. So blieb er Stabsgefreiter bis zum Kriegsende, wo er in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet, aus der er erst nach über vier Jahren wieder entlassen wurde. In dieser Zeit wurde er als Bergarbeiter im Rostower Steinkohlenrevier (Donezbecken) und als Bauarbeiter eingesetzt, absolvierte aber auch zweimal eine „Antifaschule“ zur politischen Umerziehung.

Einen Tag vor Heiligabend 1949 wurde Bobrowski in Frankfurt an der Oder endlich aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und erreichte am nächsten Tag Berlin-Friedrichshagen, wo Eltern, Ehefrau und Schwester lebten. Im Februar 1950 trat er eine Stelle als Lektor im Altberliner Verlag Lucie Groszer an, der einer der wenigen privaten Kinder- und Jugendbuchverlage in der DDR war. Bobrowski engagierte sich in der neuen Republik und trat verschiedenen Organisationen (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Gesellschaft für Deutschsowjetische Freundschaft und Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands) bei. Die Familie vergrößerte sich rasch – die beiden Töchter Juliane und Ulrike wurden 1951 und 1952 geboren, 1957 Sohn Justus.

1954 gab er im Altberliner Verlag Die Sagen des klassischen Altertums nach Gustav Schwab neu heraus, die in den folgenden Jahren in weiteren Auflagen erscheinen. Zwei Jahre später folgte mit Hans Clauert, der märkische Eulenspiegel (mit Illustrationen von Werner Klemke) eine bearbeitete Auswahl von Geschichten nach einem Volksbuch von Bartholomäus Krüger von 1587.

Neben den Verlagsarbeiten entstand eine Vielzahl von Gedichten, außerdem konnte Bobrowski wichtige Kontakte knüpfen. Besonders die Verbindung zu Peter Huchel, dem Chefredakteur der Literatur- und Kulturzeitschrift Sinn und Form war für den aufstrebenden Dichter wegweisend. „Mit Peter Huchel verbinde ihn“, so bekannte Bobrowski später in einem Interview, „ein besonderer poetischer Blick auf Landschaften, der in Naturlyrik eine geschichtliche Perspektive einzieht.“ Er schickte Huchel eine Auswahl seiner Gedichte, der dann in Heft 4 (1955) die Gedichte Kindheit, Nymphe, Die Spur im Sand, Pruzzische Elegie und Ode auf Thomas Chatterton aufnahm. Es war Bobrowskis erste Gedichtpublikation nach 1945. Ein Jahr später ist er mit fünf weiteren Gedichten in Das Gedicht. Jahrbuch zeitgenössischer Lyrik 1956/57 (hrsg. von Rudolf Ibel, im Hamburger Christian Wegner Verlag) vertreten. Wie bereits diese ersten Publikationen erschienen auch die meisten späteren parallel in der DDR und der BRD.

Abgesehen von weiteren Gedichten in Sinn und Form (Heft 4 /1957 und Heft 3 /1958), einer Gedichtauswahl in der evangelischen Literaturzeitschrift Eckart (1959) sowie vereinzelten Veröffentlichungen in anderen Zeitschriften, waren die Publikationsmöglichkeiten zunächst noch beschränkt. Durch den Kontakt mit dem holländischen Literaturkritiker und Schriftsteller Ad den Besten wurde man schließlich in der westdeutschen Literaturszene auf ihn aufmerksam. 1959 wechselte Bobrowski als Lektor für Belletristik zum 1951 gegründeten Union Verlag Berlin (einem Buch-Verlag der Ost-CDU). Seit längerem trug er sich mit dem Gedanken (und Wunsch) eines eigenen Gedichtbandes, aber erst nach langem Bemühen erschien im Februar 1961 mit Sarmatische Zeit in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart sein erster Gedichtband, wenig später auch im Ostberliner Union Verlag. Der damals befremdende und exotische Titel geht auf eine antike Region nördlich des Schwarzen Meeres zurück. Bobrowski siedelte seine Gedichte in dieser poetischen Gedächtnislandschaft an, die für ihn eine Art Chiffre war, um die Menschen aus den zersplitterten Kulturen seiner verlorenen Heimat wieder mit der Natur entlang der Memel in Einklang zu bringen.

Die Memel

Hinter den Feldern, weit,
hinter den Wiesen
der Strom.
Von seinem Atem
aufweht die Nacht.
Über den Berg
fährt der Vogel und schreit.
[…]

Bereits ein Jahr später erschien Bobrowskis zweiter Gedichtband Schattenland Ströme, ebenfalls in der Deutschen Verlags-Anstalt, und 1963 auch im Union Verlag. Hier griff er nochmals die Themen des ersten Bandes auf, konfrontierte jedoch die sarmatischen Motive mit Ereignissen aus der jüngeren Geschichte, speziell des Zweiten Weltkrieges.

Bericht

Bajla Gelblung,
entflohen in Warschau
einem Transport aus dem Ghetto,
das Mädchen
ist gegangen durch Wälder,
bewaffnet, die Partisanin wurde ergriffen
in Brest-Litowsk,
trug einen Militärmantel (polnisch),
wurde verhört von deutschen
Offizieren, es gibt
ein Foto, die Offiziere sind junge
Leute, tadellos uniformiert,
mit tadellosen Gesichtern,
ihre Haltung
ist einwandfrei.

Bobrowski war jetzt ein in beiden deutschen Staaten und auch international anerkannter Autor. Ausdruck dessen waren zwei renommierte Preise, die er erhielt: den Alma-Johanna-Koenig-Preis und den Preis der Gruppe 47, der ihn schlagartig in der Bundesrepublik bekannt machte. Außerdem hatte der nun Geehrte vom Frankfurter Suhrkamp Verlag ein Arbeitsangebot als Lektor erhalten, das er aber (wie schon ein früheres Angebot des Bertelsmann Verlages) ablehnte.

1962 wurden in Sinn und Form (Heft 2) mit den beiden Erzählungen Lipmanns Leib und Begebenheit Bobrowskis erste Prosa-Veröffentlichungen abgedruckt. Bisher war für ihn Prosa „ein bitteres Geschäft“ gewesen, nun sollte sie die Fortführung der Lyrik mit anderen Mitteln werden. Seit geraumer Zeit arbeitete er mit Nachdruck an seinem ersten Roman Levins Mühle, der im September 1964 gleichzeitig im Union Verlag und im S. Fischer Verlag erschien (Vorabdruck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung). Nun war der Autor auch dem breiteren DDR-Lesepublikum kein Unbekannter mehr. Der Untertitel des Romans, der um 1874 im deutsch-polnischen Grenzgebiet angesiedelt ist, lautet 34 Sätze über meinen Großvater. Dieser reiche und deutsch-national gesinnte Großvater sieht sich in seiner Existenz als Müller bedroht und lässt daraufhin die Bootsmühle des Juden Levin wegschwemmen. Es schließt sich ein langer Rechtsstreit an, der an Bobrowskis eigene Familiengeschichte angelehnt ist. Für Levins Mühle wurde Bobrowski ein halbes Jahr später mit dem Heinrich-Mann-Preis der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin ausgezeichnet. Außerdem erhielt er in Zürich den Internationalen Charles-Veillon-Preis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres 1964.

Das Jahr 1965 begann für den nun etablierten Schriftsteller zunächst verheißungsvoll: Im Mai erschien im neugegründeten Verlag von Klaus Wagenbach das Quartheft Mäusefest und andere Erzählungen und gleichzeitig entstand innerhalb von weniger als acht Wochen sein zweiter Roman Litauische Claviere. Die Geschichte bewegt sich wieder in vertrautem Umfeld, im Memelgebiet des Jahres 1936. Der Gymnasiallehrer Vogt und der Konzertmeister Gawehn wollen eine Oper über den litauischen Nationaldichter und Pfarrer Kristijonas Donelaitis (1714–1780) schreiben. Dieser hatte auf Deutsch und Litauisch gepredigt und sich für ein friedliches Zusammenleben der beiden Bevölkerungsgruppen eingesetzt. Bei ihrem Rechercheausflug werden Vogt und Gawehn allerdings Zeugen einer blutigen Auseinandersetzung zwischen Litauern und nationalistischen Deutschen.

Zwei Tage, nachdem Bobrowski das Manuskript beendet hatte, wurde er Ende Juli mit einem Blinddarmdurchbruch in das Kreiskrankenhaus Berlin-Köpenick eingeliefert. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide. Johannes Bobrowski starb am 2. September 1965. Nahe seiner Wohnung in der Ahornallee 26 wurde er auf dem Christophorus-Friedhof der Evangelischen Gemeinde in Friedrichshagen beigesetzt. Noch im selben Monat erschienen im Union Verlag sein Erzählband Boehlendorff und Mäusefest und 1966 der Roman Litauische Claviere (1967 im Wagenbach Verlag als Lizenzausgabe). Für sein Gesamtwerk wurde Bobrowski 1967 postum mit dem F.-C.-Weiskopf- Preis für Reinerhaltung und Pflege der deutschen Sprache der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin geehrt.

Seit der Publikation von Sarmatische Zeit 1961 blieb die Deutsche Verlags-Anstalt bis heute dem Werk von Bobrowski verpflichtet, so erschienen 1998/99 seine Gesammelten Werke in sechs Bänden, herausgegeben von Eberhard Haufe. Nun liegen zum 100. Geburtstag des Schriftstellers die Gesammelten Gedichte vor (ebenfalls von Eberhard Haufe herausgegeben). Der Band besteht aus drei Teilen. Teil I versammelt die Gedichtbände Sarmatische Zeit, Schattenland Ströme und Wetterzeichen (erschienen 1966, die Zusammenstellung hatte Bobrowski noch selbst besorgt). Ergänzt wird dieser Teil durch verstreut veröffentlichte Gedichte aus den Jahren 1944 bis 1964 und einige Nachdichtungen. Der umfangreichere Teil II versammelt Bobrowskis Gedichte und Entwürfe aus dem reichen Nachlass, der seine lyrische Entwicklung und Vielfalt gleichfalls deutlich macht.

Bobrowskis Gedichte sind stark von kräftigen, mitunter rätselhaften Landschafts(sprach)bildern geprägt, die Ergebnis des subjektiven, ja privaten Naturerlebens sind. Er setzte damit die Tradition der deutschen Naturlyrik (Annette von Droste-Hülshoff,Oskar Loerke, Wilhelm Lehmann) fort und beeinflusste nachfolgende Generationen wie Sarah Kirsch, Wulf Kirsten, Michael Hamburger oder Jürgen Becker. Dabei war Bobrowski kein ausgesprochener Naturlyriker, vielmehr war die Natur für ihn ein wirkungsvolles Abbild, verwoben mit Geschichte und menschlichem Schicksal. Sein großes ethisches und sprachliches Vorbild war Friedrich Gottlieb Klopstock, den er als seinen „Zuchtmeister“ bezeichnete. Darüber hinaus sind Bobrowskis Lyrik, aber auch seine Romane und Kurzprosa geprägt von den poetologischen Orientierungen und humanistischen Denkrichtungen Hamanns und Herders.

Komplettiert wird der DVA-Band durch einen umfangreichen Anhang (Teil III) mit dem Nachwort Im Halbschatten des Schriftstellers und Literaturkritikers Helmut Böttiger, mit editorischen Nachbemerkungen, den Lebensdaten von Johannes Bobrowski sowie zwei Inhaltsverzeichnissen.

Kein Bild

Johannes Bobrowski: Gesammelte Gedichte.
Herausgegeben von Eberhard Haufe. Mit einem Nachwort von Helmut Böttiger.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017.
752 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783421047625

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