Kafka für Kinder

Ein ehrgeiziges Verlagsprojekt mit illustrierten Texten

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mehrere von Kafkas Romanen und Erzählungen wurden illustriert oder als Comics oder Graphic Novels auf den Büchermarkt gebracht und auf diese Weise einem neuen Lesepublikum erschlossen. Der amerikanische Comiczeichner Peter Kuper hat mit seinen Büchern entscheidenden Anteil daran. Er hat, etwa in dem Band „Gibs auf! und andere Erzählungen“ aus dem Jahr 1997, Figuren mit fratzenhaft verzogenen Gesichtern, weit aufgerissenen Mäulern und übergroßen Körpern geschaffen, die manchmal an Gemälde von George Grosz oder Otto Dix erinnern. Sie haben Kafkas Erzähltexte auf faszinierende Weise in eine ganz eigene, Kafka angemessene Bildersprache übersetzt und deren Rezeption ab den 1990er Jahren mitgeprägt. Ähnliches gilt für die Kafkabücher, die unter Mitwirkung von Robert Crumb entstanden sind.

Neben den Comics und Graphic Novels, die, das liegt in der Natur der Sache, nur einen kleinen originalen Textteil enthalten, manchmal sich sogar recht frei davon entfernen, gibt es Bücher, die den vollständigen Text von Kafka präsentieren und bebildert sind. Bekannt sind beispielsweise die Illustrationen von Andrea Di Gennaro zu „Ein Bericht für eine Akademie“ aus dem Jahr 1996. Sie nehmen meist eine ganze Seite ein und geben so der Visualisierung einen breiten Raum.

Anders wiederum verfahren Veröffentlichungen, die in der Regel nur ein Bild, wenn überhaupt, für einen Text vorsehen. Die Textsammlung etwa, die von Nikolaus Heidelbach 2009 herausgegeben und illustriert wurde, besticht durch eine sparsame Bebilderung, der es aber gelingt, wesentliche Momente der einzelnen Texte überzeugend zu visualisieren.

Kafkas Texte eignen sich für Bebilderungen in besonderer Weise. Die „Geschichten“ entstammen oft Alltagssituationen, die Sprache ist anschaulich und bildhaft und Inhalte und Sprache lassen sich auf verschiedenen Ebenen rezipieren. Es gibt immer eine vordergründig-konkrete Verständnisebene der Texte und mindestens eine, oft aber mehrere Rezeptionsmöglichkeiten, die über das Vordergründige hinausgehen und gesellschaftliche, metaphysische oder psychologische, auch biographische Deutungen nahelegen. Den Illustratoren eröffnet diese Mehrdimensionalität der Texte eine kreative Auseinandersetzung mit dem Autor; sie ist eine künstlerische Herausforderung. Für Kafka-Leser wiederum können Comics und Illustrationen eine Bereicherung der Lektüre sein. Sie führen zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit Deutungen, die Kafkas manchmal rätselhafte Texte provozieren.

Dennoch überrascht, was jetzt der onomato-Verlag vorgelegt hat: eine Reihe von Kafkatexten mit Bildern, die eine ganz neue Zielgruppe ins Auge fassen, nämlich Kinder. In großen Lettern heißt es auf dem Deckblatt: „Für Kinder“; der Zusatz „und Erwachsene“ steht in kleinen Buchstaben darunter und ist leicht zu übersehen. „Kafka für Kinder“ – das lässt aufhorchen und macht neugierig, auch skeptisch. Denn die parabelhaften Texte, die kürzeren und längeren Erzählungen oder gar die Romane sind, so der erste Gedanke, alles andere als für Kinder geeignet. Zwar stellt Kafka einen Schwerpunkt im onomato-Verlagsprogramm dar. „An der Spitze unseres literarischen Kanons thront Franz Kafka“, heißt es nicht ohne Stolz in den Programmankündigungen. Aber das Vorhaben „Kafka für Kinder“ ist sicherlich Neuland für den Verlag. Bisher sind drei Hefte erschienen: „Vor dem Gesetz“, „Der Storch im Zimmer“ und „Drei Erzählungen“.

Die Bücher sind eher Hefte, Malheften ähnlich, kleiner als das Format DIN A4, so groß etwa wie viele Kinderbücher oder Schulhefte. Sie sind auffallend bunt, enthalten großflächige farbige Illustrationen sowohl auf den Heftdeckeln wie innen. Die Buchgestaltung wurde von Hanna Koch, die zusammen mit dem Verlagsleiter Axel Grube als Herausgeberin der Reihe fungiert, vorgenommen. Jedes Heft bietet zusätzlich die Möglichkeit, den von Axel Grube gelesenen Text von Kafka aus dem Internet herunterzuladen. Wenn man will, kauft man also mit dem Buch nicht nur Text und Bilder, sondern auch den Vorleser gleich mit.

„Vor dem Gesetz“ enthält Illustrationen, die märchenhaft anmuten, manchmal aber auch aus einem Gruselmärchen stammen könnten. Der Torhüter ist auf einigen Bildern wie ein böser, dem fernen Osten entstammender Zauberer gestaltet, während der „Mann vom Lande“ wie ein unerfahrener Junge aus irgendeinem Grimm’schen Märchen dargestellt ist. Die Bilder zeigen eine grundsätzliche Schwierigkeit auf, wenn ein Kafkatext, noch dazu ein so berühmter wie „Vor dem Gesetz“, mit Bildern versehen werden soll. Zwar ist im Text vom „tatarischen Bart“ des Torhüters die Rede, von seinem „Pelzmantel“ und „seiner großen Spitznase“. Diese Beschreibungen werden von Kafka aber in einen Kontext gestellt, der eigentlich keine zu wörtliche Festlegung des Geschehens oder der Figur erlaubt. Illustrationen entfalten eine andere Wirkung als das geschriebene Wort. Die Visualisierung von Sätzen, wenn sie nicht sensibel, künstlerisch differenziert und poetisch ist, kann so detailliert bestimmt ausfallen, dass die Sprache ihre über das unmittelbar Konkrete hinausreichende Wirkung, die in den Texten von Kafka bei der Lektüre immer mitschwingt, verliert und (zu) eindeutig wird.

Dieser Gefahr entgehen die Illustrationen von Hanna Koch nicht immer. Das märchenhaft gruselige Element einzelner Bilder ist auffallend stark. Damit wird aber kaum ein Zugang zur sprachlichen und geistigen Welt Kafkas eröffnet. Im Gegenteil: Kafka wird so eher in einen Bereich abgedrängt, der seine große Welt verkleinert, er verliert seine literarische Mehrdeutigkeit und seine Wirkung. Das „Flöhe“-Bild, das sowieso in Hinblick auf die anderen Darstellungen ein Fremdkörper ist, soll dafür als Beispiel dienen. Da wird durch die Bebilderung etwas bedeutungsvoll, was im Text doch eher in einen Kontext eingebunden wird, dessen einzelne Elemente erst in einem übergeordneten Sinn wichtig werden.

Auf der anderen Seite haben Hanna Kochs Illustrationen auch eine faszinierende Seite. Die Farbgestaltung ist durchgehend gelb und grau-blau. Die Illustratorin schafft es allein dadurch, die Trennung des Draußen und des Drinnen durch eine undurchdringliche Wand wie selbstverständlich darzustellen. Dabei gelingt ihr, gewollt oder zufällig, noch ein weiterer interessanter Visualisierungseffekt: In mehreren Illustrationen erscheint die Seite vor der Wand und das, was sich dahinter verbirgt, in derselben Farbe, einem bestechenden Gelbton. Das wirft Fragen auf und führt zu Interpretationen. Soll angedeutet werden, dass das Drinnen und das Draußen ähnlich, gar identisch sind? Das wäre eine interessante Deutung der viel interpretierten Parabel.

An solchen Stellen wird dann aber auch wieder die Problematik der Zielgruppe der Hefte deutlich. Sicher wird man mit Grundschulkindern und mit Kindern der ersten Klassen weiterführender Schule über einige Aspekte des Textes „Vor dem Gesetz“ sprechen können, über das Warten zum Beispiel oder über verwehrte Eingangs- und Zugangsmöglichkeiten. Ob damit wesentliche Aspekte des Kafkatextes in das Blickfeld der Kinder gerückt werden können, ist allerdings fraglich.

Das zweite „Kafka-für-Kinder“-Heft stößt wahrscheinlich auf ein besseres Verständnis bei jüngeren Leserinnen und Lesern. Es trägt den Titel „Der Storch im Zimmer“ und erzählt die kleine Geschichte, wie der Erzähler, als er am Abend nach Hause kommt, zu seiner Überraschung „ein großes, ein übergroßes Ei“ in der Mitte des Zimmers vorfindet. Als er vorsichtig die Schale aufschneidet, kommt ein „storchartiger“ Vogel zum Vorschein. Der Erzähler schließt mit dem Vogel einen Pakt: Er werde ihn mit Fischen, Fröschen und Würmern großziehen; als Gegenleistung müsse ihn der Vogel später, wenn er fliegen könne, auf seinem „Rücken in die südlichen Länder“ tragen. Also füttert der Erzähler den Vogel und bringt ihm, als die Flügel wachsen und kräftiger werden, das Fliegen bei, zuerst vom Stuhl, dann vom Schrank aus. An dieser Stelle bricht der Text ab.

Hanna Koch hat sich dazu kindgerechte Illustrationen ausgedacht, die ihm eine naive, humorvolle Bedeutung geben: Der Vogel liegt zum Beispiel im Bett des Erzählers oder der Erzähler kauft am Markt Fische für den Vogel oder reinigt das Zimmer von dessen Unrat oder ermutigt ihn, indem er vom Stuhl springt, zu ersten Flugversuchen. Freilich geht das Befremdlich-Skurrile, das der Text ausstrahlt, verloren. An einer Stelle taucht es in Ansätzen auf: Die Illustration zeigt, wie der Erzähler, hinter ihm die bedrohliche Dunkelheit seines Hauses, vor ihm die feuerroten Dächer der Stadt – auch die eher angsteinflößend als einladend –, mit ausgebreiteten Armen auf die Stadt schaut, voller Sehnsucht nach den „südlichen Ländern“. Ob das allerdings jüngeren Leserinnen und Lesern vermittelt werden kann, bleibt dahingestellt. Es ist eine Grundsatzfrage, die sich bei beiden Heften immer wieder in den Vordergrund drängt: Kann, was bei Kafka hinter den Sätzen an zusätzlicher Bedeutung steckt, von Kindern verstanden werden? Oder genügt es, wenn junge Leserinnen und Leser nur einen Teil der Texte verstehen?

Es gibt eine Stelle im Text, die beschreibt, wie der Erzähler den „storchartigen Vogel“ mit „Wurstschnitten“ füttert. Sowohl Hanna Koch illustriert diese Textstelle in ihrem Kafkaheft für Kinder wie auch Nikolaus Heidelbach in seiner Sammlung von Kafkatexten, die er unter dem Titel „Gelegenheit zu einer kleinen Verzweiflung“ mit Zeichnungen versehen herausgegeben hat. Hanna Koch wählt, eigentlich konsequent, eine Zeichnung, die von Kindern stammen könnte und die, alles sehr vereinfachend, den Fütterungsvorgang zeigt. Heidelbach geht anders vor. Er malt den Vogel als großes Tier mit einem überlangen, starken, gefährlich aussehenden Schnabel. Der „Storch“ hockt wie eine bedrohliche Spinne auf einem Sessel und blickt auf die Wurstscheiben. Mit dieser Illustration wird die Geschichte mehrdeutig, ein wenig unheimlich sogar. Bei Hanna Koch dagegen behält sie eine bilderbuchhafte, vordergründige Bedeutung.

Ein verlegerisches Projekt wie „Kafka für Kinder“ – der kleingeschriebene Zusatz auf der Vorderseite „und Erwachsene“ scheint eher einer Verlegenheit zu entspringen, vielleicht  der spürbaren Sorge, dass das verlegerische Vorhaben nicht ganz kindgerecht sein und scheitern könnte – braucht gute Vorleser, die die Texte mit den Kindern zusammen lesen und anschließend mit ihnen besprechen, oder, genauso gut, Kinder, die selbst lesen, aber gelernt haben, dass Lesen zu Fragen führt und dass solche Fragen erfahreneren Lesern auch gestellt werden dürfen. Es können sich daraus spannende Gespräche entwickeln. Sollten die Kafka-Bilderbücher dazu führen, wäre viel gewonnen, für die Kinder und für Literatur überhaupt.

Titelbild

Franz Kafka: Der Storch im Zimmer. Mit Bildern von Hanna Koch (Kafka für Kinder).
Mit Download der Geschichte zum Anhören, vorgelesen von Axel Grube.
onomato Verlag, Düsseldorf 2016.
28 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783944891507

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Titelbild

Franz Kafka: Vor dem Gesetz. Mit Bildern von Hanna Koch (Kafka für Kinder).
Mit Download der Geschichte zum Anhören, vorgelesen von Axel Grube.
onomato Verlag, Düsseldorf 2016.
26 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783944891514

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