Weiter im Protokoll

Über Thomas Meineckes siebten Roman „Selbst“

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Meinecke gehört zu den Autoren mit einer unverwechselbaren Handschrift. Paradoxerweise, denn eigentlich pflegt er eine Arbeitsweise, die den Schriftsteller hinter dem Text zurücktreten lässt. Er zitiert, montiert, verwendet Versatzstücke aus dem Alltag, sodass sich ein Popsong von Mikki Taylor oder Beyoncé unvermittelt neben einer Auseinandersetzung mit Jacques Lacan oder den psychonanalytischen Schriften Lou Andreas-Salomés findet, kombiniert mit Ausschnitten aus einem Interview mit dem Berliner Germanisten Joseph Vogl. Dabei verzichtet Meinecke weitgehend auf konventionelle Handlungsbögen, sondern protokolliert den Alltag und die intellektuellen Debatten seiner Figuren, die meistens jung, gut ausgebildet und ebenso stark an Popkultur interessiert sind wie ihr Autor. Meineckes Zitatästhetik ist dabei Programm – selbst seine Frankfurter Poetikvorlesungen hießen Ich als Text (2013) und bestanden ausschließlich aus einer Collage von Texten über ihn und seine Bücher, die er mit Musikbegleitung dem interessierten Publikum vorlas. Die Buchausgabe als Extended Mix lässt sich praktischerweise gleich als Kompendium der Meinecke-Sekundärliteratur verwenden.

Selbst ist Meineckes siebter Roman – und immerhin schon der sechste seit Tomboy (1998), in dem der Autor konsequent nach dieser Methode arbeitet. Auch thematisch gibt es große Kontinuitäten. Theoretische Debatten um Geschlechter und ihre soziale Konstruktion bilden den Generalbass von Meineckes Prosa, die Erkundung queerer Identitäten, wobei die beständige Suche nach neuen Definitionen, die immer wieder infrage gestellt werden können, wichtiger bleiben als eine feste Antwort. Meineckes Figuren stellen diese Fragen und erproben sie in ihrem eigenen Leben; diesmal sind es Eva, Genoveva und Venus, drei Frauen, die gemeinsam in einer Frankfurter WG leben und sich alle mit diesem Thema beschäftigen, ohne aber ihr eigenes heterosexuelles Leben deshalb aufzugeben. Und das, obwohl die Zuschreibungen der Außenwelt bei ihnen gar nicht so eindeutig sind – gerade bei Venus, die als androgynes Model jobbt. Trotzdem goutiert sie es nicht, wenn ihr Lover Sirius im blauen Trachtenkleid am Frühstückstisch sitzt und meint, ihre gemeinsame Nacht sei „ein bisschen auch eine lesbische Liebesnacht“ gewesen; auch Genovevas Liebhaber Henri, früher mit Eva zusammen, erntet von ihr Gelächter: „Haha, wir haben aber keinen lesbischen Sex, Baby.“

Andere Zutaten variieren von Buch zu Buch, können sogar nach längerer Pause neu auftauchen, wie die Erkundung deutsch-amerikanischer Querverbindungen, die Meinecke bereits in den späten 1980er- und 1990er-Jahre mit seiner Band F.S.K. austestete. Zwanglos kreuzte die Band texanische Polka mit bajuwarischer Folklore, und auch Meineckes erster Roman The Church of John F. Kennedy (1996) erkundete die Spuren deutscher Einwanderer in der Neuen Welt. In Selbst erforschen die Figuren die Spuren deutscher Auswanderer im Texas der 1840er-Jahre, die gemeinsam eine Siedlung gründeten, die sie jedoch bereits nach einem Jahr wieder aufgaben. Diese tauften sie Bettina, nach Bettina von Arnim, die nach dem Tod ihres Mannes Achim zur sozial engagierten Schriftstellerin wurde. Sie publizierte nicht nur stark fiktionalisierte Versionen ihrer Briefwechsel mit Johann Wolfgang Goethe, dem Bruder Clemens Brentano und der Jugendfreundin Karoline von Günderrode, sondern auch Dies Buch gehört dem König (1843), das die sozialen Missstände der Zeit anprangerte und von Arnim zum Idol der Liberalen machte. Von hier führt nicht nur eine Spur zum Briefwechsel der Autorin mit Goethe, sondern auch zum Briefroman Die Günderode (1840), in dem sie der Freundin ein literarisches Denkmal setzte und auf ihre Weise etwas ganz Ähnliches versuchte wie Meinecke heute – nämlich neue, utopische Geschlechterverhältnisse auszuloten, die aber nie ganz den Boden der Heterosexualität verlassen. So hängt in Meineckes Mixturen doch letztlich alles mit allem zusammen, dazu ist das Buch selbstreferenziell wie kein anderer seiner Romane – wie schon in Lookalikes (2011) gibt es wieder eine Romanfigur namens Thomas Meinecke, und die anderen Figuren lesen gemeinsam seinen Roman Tomboy.

Meinecke selbst sagt, dass er beim Schreiben keinem festen Plot folge. Eher lassen sich die Bücher als Protokoll der eigenen Beschäftigung mit den jeweiligen Diskursen lesen. Das Ergebnis ist ein großes intellektuelles Vergnügen – vorausgesetzt, man lässt sich auf seine Schreibweise ein; Meineckes Publikum ist daher auch relativ konstant. Dass die Figuren dabei keine große Tiefenschärfe gewinnen, liegt in seiner Schreibweise begründet. Im Detail kann man einiges kritisieren – dass zum Beispiel bei näherer Betrachtung nicht alles so emanzipatorisch ist, wie es aussieht. So beschäftigt sich der Roman mit Ray Blanchards umstrittener Theorie der Autogynophilie, nach der die als Mann geborene Transsexuelle eigentlich den eigenen Körper in weiblicher Form begehrt; dass Blanchards Theorie in den USA vor allem von Konservativen genutzt wird, um Transgender und ihre Selbstzuschreibungen zugunsten eines biologischen Essentialismus zu diskreditieren, kommt dagegen nicht zur Sprache.

Denkwürdig ist das letzte Bild des Romans: Die Figur Thomas wacht morgens in London auf, weil ihm „sämtliche Umweltgeräusche […] wie MUSIK vorkommen, ein Cluster, betörend mehrstimmig gesetzt in klassischer westlichen Funktionsharmonik. […] Für einen kurzen Moment überlegt sich der Schriftsteller, ob er vielleicht über Nacht verrückt geworden sei. Dann löst sich alles Wahrgenommene erneut in die übliche Kakophonie auf.“ Genau darin besteht die Stärke von Meineckes Schreiben: aus disparaten Elementen der Umwelt einen groovenden, swingenden Zusammenhang zu weben, der nicht ohne das Moment der Zufälligkeit auskommt. Und natürlich liegt hier die poetologische Deutung nahe: dass nämlich auch die 471 Romanseiten vor diesem Zeitpunkt in gewissem Sinn nur geträumt sind.

Titelbild

Thomas Meinecke: Selbst. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
472 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425480

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