Mit künstlerischer Wucht illustriert

Shaun Tan legt in „Singende Knochen“ den Kern der brutalen Grimm’schen Märchen frei

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Monströs und schiefäugig schaut die Hexe mit aufgerissenem Maul über das Haus hinweg auf die winzigen Kinder, die daran herumgeknabbert haben. Ihre neun Stummelzähne ragen drohend aus ihrem Schlund. Schon durchziehen Risse das Dach und die vordere Wand. Sechs kleine Süßigkeitskugeln liegen auf dem Boden verstreut, die beängstigende Szene verschwimmt im düsteren Braun des Hintergrunds. Grausiges wird gleich passieren, so viel ist sicher.

Grimms Märchen sind nicht nett. Oft erzählen sie von einer alptraumhaften Welt voller Missgunst in den Familien, von Hunger, Mord und Misshandlung. Der australische Autor und Zeichner Shaun Tan hat sie jetzt neu und beißend illustriert. Hat aus Ton Skulpturen modelliert, sie in Szene gesetzt und fotografiert: Böse sind sie wie bei Hänsel und Gretel, skurril wie beim feurigen, sich krumm und schief tanzenden Rumpelstilzchen oder herzergreifend wie bei Brüderchen und Schwesterchen, wo das Mädchen das rote Reh, den verzauberten Bruder, innig und schützend umarmt. Tan geht stets und ohne Umschweife, direkt und brutal zum Kern der Geschichten, die in dem Buch nicht wiedergegeben sind, sondern nur kurz nacherzählt oder sogar nur angedeutet werden. Dennoch erkennt man einige sofort, andere sind sowieso unbekannter: Rapunzel, stelenartig lang, ihr winziger Knopfkopf demütig gebeugt, steht mit ihren langen, blonden Haaren turmartig hoch aufgerichtet auf einem mit roten Blumen besprenkelten Boden; wuchernd schlingen sich dicke Rosenäste nach oben, eine zarte rosa Blüte hält, wie ein Versprechen, den schlafenden Kopf von Dornröschen, die auf den rettenden Kuss wartet.

Andere Märchen aus den umfassenden Sammlungen der Brüder Grimm sind unbekannter, wie beispielsweise die zwölf Brüder: Bei Shaun Tan sieht man die Königin, die entsetzt die Hände vor dem Mund zusammengeschlagen hat, hinter ihr stehen die zwölf Brüder, klein, hutzelig und steingrau wie Grabsteine, des Todes sicher; verschoben, geteilt, langohrig ist das Gesicht des Krautesels; in einen Stein gepresst sieht man ein altes, verzerrtes Gesicht mit großen Nasenlöchern, zwei Hände versuchen sich verzweifelt und vergebens herauszuwinden, ein kleiner Junge steht davor und berührt vorsichtig den Stein: Es ist sein Großvater, den die Eltern ins hinterste Eck abgeschoben haben, weil er alt und nutzlos ist, niemand beachtet ihn, außer seinem kleinen Enkel, auch er ein noch nutzloses Wesen. Mit künstlerischer Wucht legt Tan in „Singende Knochen“ Gefühle und Interpretationen frei und haut sie dem Leser und Betrachter um die Ohren.

Titelbild

Shaun Tan: Singende Knochen. Inspiriert von den Märchen der Brüder Grimm.
Mit einem Vorwort von Philip Pullman und einer Einführung von Jack Zipes.
Übersetzt aus dem Englischen von Martina Tichy.
Aladin Verlag GmbH, Hamburg 2016.
175 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783848920785

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