Eine Einladung, Orte und Menschen zu erkunden

Die Herausgeberin und Übersetzerin Elsa Lüder nimmt den Leser in ihrer Anthologie mit auf eine Reise nach Rumänien und macht einen Abstecher in die Republik Moldau

Von Anke PfeiferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anke Pfeifer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elsa Lüders Einladung nach Rumänien zur Erkundung hierzulande nicht allzu bekannter Regionen und ihrer Bewohner ist überaus gelungen. Die Lektüre der versammelten Texte vermittelt dem Leser vielfältige Einblicke in das weiterhin mit zahlreichen Klischees behaftete Land Rumänien, dem oft nur Negativschlagzeilen gewidmet sind, wo das Leben jedoch durchaus facettenreicher verläuft, als häufig dargestellt. Einer stereotypen Außensicht wird hier der „Blick von innen heraus“ entgegengestellt. Die Autoren zeigen Orte und Menschen ihrer Heimat Rumänien einschließlich zweier Exkurse in die wohl noch fremdere Moldau „in ihrer persönlichen Wahrnehmung“, mal fiktional oder autobiografisch, mal soziologisch oder journalistisch, in Prosa oder in Versen.

Zunächst war die Rezensentin skeptisch, vermittelt der Untertitel – Klassische und moderne Erzählungen – eher den Eindruck, eine Art literarischen Kanon vermitteln zu wollen. Der Blick ins Inhaltsverzeichnis offenbart – auch wenn jede Auswahl subjektiv ist – jedoch eine ziemliche Heterogenität bezüglich der Zusammenstellung der Autoren: Neben Klassikern wie Ion Luca Caragiale oder Alexandru Macedonski oder ausgewiesenen Gegenwartsautoren wie Dan Sociu steht die Ethnologin Lena Constante, neben dem als Instanz geltenden Literaturprofessor Nicolae Manolescu die Ärztin Daniela Gherghina und der Soziologe Dan Lungu. Die Verfasser der Texte sind armenischer Herkunft wie der Politiker und Wirtschaftswissenschaftler Varujan Vosganian, stammen aus einer Roma-Familie wie Luminiţa Cioabă oder sprechen als Siebenbürger Sachsen Deutsch als Muttersprache wie der Übersetzer Michael Astner. Sie leben und schreiben nicht nur in Rumänien, sondern auch in der Republik Moldau, wie beispielsweise die Theaterautorin Nicoleta Esinencu, oder blicken gar wie der Romanistikprofessor Paul Miron von Deutschland aus auf das Geburtsland. Aber allein schon diese Mannigfaltigkeit an Beiträgern, die neben der Schriftstellerei eben fast alle auch noch anderen Berufen nachgingen beziehungsweise -gehen, sagt bereits viel über die spezifische Situation aus.

Bei der Vielfalt dieser Binnenperspektive verwundert es dann eigentlich auch nicht, welch interessante Welt die inhaltlich wie stilistisch weitgefächerten Texte dieser 33 Autoren eröffnen. In ihnen spiegelt sich das Leben in seiner Verschiedenheit und Ähnlichkeit in diesem geographischen, von historischen Turbulenzen geprägten Raum, werden Epochen und ihre Dramen beleuchten. Verpackt ist all das häufig in Alltagsgeschichten, die Aufschluss geben über Lebens- und Denkweisen von Individuen, die nicht selten paradigmatisch sind. So lässt Mircea Ţuglea den Leser teilhaben an den Erinnerungen seines Erzählers an dessen Jugendjahre im Rumänien Nicolae Ceauşescus, die geprägt waren von Propaganda, Überwachung und Versorgungsschwierigkeiten, in denen sich die selbstbewussten Heranwachsenden bei allem Ausgeliefertsein durchaus gewisse Freuden und Freiheiten verschafften.

Paul Miron beschreibt die Gespräche wartender Autofahrer an einer geschlossenen Bahnschranke, die schnell miteinander in Kontakt kommen. Die Texte erzählen vom Fortgehen aus der Heimat, um Arbeit zu finden, von Ausgrenzung, von Aussteigern, von Sucht und Schuld, ebenso von Zeiten, in den Menschen verschiedenen Glaubens friedlich nebeneinander lebten, wovon noch heute die Gotteshäuser verschiedener Religionen in der Dobrudscha zeugen. Und Luminiţa Cioabă beschwört in ihrem Gedicht den einst von Gott gesegneten „Zigeunerengel“.

In seiner bewährt ironischen Art beschreibt Ion Luca Caragiale das Agieren eines ehrgeizigen und hartnäckigen Bürgermeisters im 19. Jahrhundert, der seine Kleinstadt zu mehr Bedeutung verhelfen will und es tatsächlich schafft, dass der Expresszug Bukarest – Berlin via Breslau auch in Mizil hält. Kulturhistorische Anmerkungen in einigen Texten und in eigenständigen Berichten verankern das Beschriebene wiederum geographisch und zeitlich, so zum Beispiel der Text Nicolae Filimons über Die Bukarester Landschaftsgärten und ihre Anlage im 19. Jahrhundert oder Calistrat Hogaşʼ Reiseimpression Unterwegs zu den Klöstern der Moldau.

In die Gegenwart verweisen beispielsweise Silviu Dancu, der über die Entscheidung zweier junger Männer zwischen weltlichem Leben und einem Leben im Kloster schreibt, oder Gabriel H. Decuble mit seiner Geschichte über eine Gruppe von Freunden in der Bukarester Ausgehmeile Strada Lipscani (Leipziger Straße). Dan Lungu steuert einen sozialpädagogischen, aber atmosphärisch beeindruckenden Bericht bei über den Besuch bei einem körperhinderten Waisenkind, das bei seiner aufopferungsvollen Adoptivmutter ein liebevolles und förderndes Zuhause gefunden hat.

Nicoleta Esinencus umfangreiches Poem Moldauisches Rap-Mosaik bringt bedrückende Eckpunkte ihres bisherigen Lebens – Atomkriegsdrohung, Zivilschutzunterricht, Tschernobyl, Maueröffnung, moldauisches Alltagselend – zusammen. Ähnlich zeigt Oleg Garaz das Gefangensein eines jeden in seiner Zeit, verweist aber hier angesichts nichtvermittelter Geschichte auf erschreckend großes Unwissen: Ein moldauischer Schüler erfährt erst spät, dass das häufig besuchte Kino sich in einer ehemaligen Synagoge befindet und dass im benachbarten Rumänien ebenfalls seine Muttersprache gesprochen wird, was ihn zu der Erkenntnis führt, dass er ja Rumäne ist. Geschichte und Gegenwart sind eng verwoben und die Frage der Identität wird aktuell.

Die rumänische Geschichte in ihrer Dramatik begegnet dem Leser bei Nicolae Velea, der die Aufteilung von Großgrundbesitz im Jahre 1945 an armen Bauern thematisiert oder bei Lena Constante, die sich erinnert an ihre fast zehnjährige Haft während der stalinistisch geprägten 1950er-Jahre, an den Sadismus des Ermittlers und an das Glück, dort malen zu dürfen.

Nicht alle Texte sind von gleich hoher Qualität, aber es handelt sich um große Literatur, wenn der Erzähler in der Passage aus dem Roman von Varujan Vosganian über die Geschichte seiner armenischen Familie berichtet, die in alle Welt vertrieben in einem Zweig auch in Rumänien ansässig wurde, und dies prototypisch über die Verschränkung von Begräbnisorten, Briefmarken und Fotos mit Emigration, Wirtschaft und Handel vornimmt.

Weniger gelungen, da gar zu bemüht, ist, wenn Florin Lăzărescus in Sonderberichterstatter zwar die rumänische Sensationspresse aufs Korn nimmt, aber die Reporterin, mit unpassend feinem Schuhwerk bekleidet, im Überschwemmungsgebiet mit dem Mikrofon dann auch noch in ein Wasserloch fällt. Der Reisebericht eines Musikers nach Deutschland, der in Konfrontation mit dem Fremden viel über ihn selbst verrät, verbleibt in einer Mischung aus realistischer Beobachtung und leicht schwülstiger Gefühlseligkeit mit nicht immer treffenden Vergleichen (Călin Torsan).

Das immer wieder in der rumänischen Literatur anzutreffende Humorvoll-Ironische oder Skurrile findet sich auch in dieser Textsammlung: Ein kleiner Junge liebt Todesanzeigen über alles, schreibt selbst solche für literarische Figuren und verfasst später als Verantwortlicher für Kleinanzeigen bei einer Zeitung derart kunstvoll und auflagensteigernd fiktive Nachrufe, dass Bestattungsliteratur schließlich zum neuen Trend wird (Daniela Gherghina). Cosmin Manolache konfrontiert einen Absolventen der Militärschule mit dem dummen Geschwätz und den Saufereien gelangweilter Grenzsoldaten, während Sorin Ion Stoica seine Dörfliche Berichterstattung eines Fußballspiels präsentiert, die fast nach Drehbuchart ein Psychogramm dieser „Dorfmenschen“, ihrer Beziehung zueinander und zu den Dingen präsentiert. Typisch Phantastisches zeigt sich in Satanovskis Verführung von Nichita Danilov, in der der Arzt Noimann in einer Kutsche in die Vergangenheit fährt, seine Friedhofsgruft „nach dem letztem Schrei“ mit vollem Kühlschrank, Sauna und Zahnarztausstattung modernisiert, dort auch Orgien feiert und der Saufkumpel Sanatovski magische Fähigkeiten entwickelt.

Die Herausgeberin Elsa Lüder, Romanistin an der Universität Freiburg, hatte zunächst einige der Texte studentischen Übersetzergruppen zur Übertragung ins Deutsche übergeben, um den philologischen Nachwuchs verdienstvollerweise an das literarische Übersetzen heranzuführen. Sie stellte diese Übersetzungen dann fertigt, übersetzte auch alle anderen Texte gekonnt aus dem Rumänischen und präsentiert somit die reiche Sprache der wie auch immer gearteten rumänischen Zunge in ihrer Vielfalt. Ein biobibliografischer Anhang zu den Autoren sowie ein Vorwort der Herausgeberin ergänzen diesen lesenswerten Band.

Titelbild

Elsa Lüder (Hg.): Einladung nach Rumänien. Klassische und moderne Erzählungen.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Elsa Lüder.
Edition Noack & Block, Berlin 2016.
355 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783868130324

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