Ein Haus, viele Frauen

Mira Magéns neuer Roman „Zu blaue Augen“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jardena, Orna und Simona sind die drei Töchter von Hannah Jona, die alle gemeinsam in einem großen schönen Haus in Jerusalem wohnen. Zu diesen vier Frauen gehört noch Jardenas siebenjährige Tochter Dana und Hannahs rumänische Haushälterin Johanna. Hannah und Johanna bewohnen das Erdgeschoss, die Töchter haben jeweils eigene Wohnungen im ersten Stock. Soweit ganz grob umrissen die Wohn- und Familiensituation in Mira Magéns neuem Roman Zu blaue Augen, deren Bücher in ihrer Heimat Israel zu den erfolgreichsten überhaupt gehören und die seit knapp 20 Jahren auch hierzulande – fast ausnahmslos von Mirjam Pressler übersetzt – vertrieben werden.

Und genau das schöne große Haus, dass dazu noch in einer begehrten Wohngegend liegt, ist ein wichtiger Aspekt dieses Buches, da es Begehrlichkeiten weckt. Ein gewisser Mischa Broschi, Bau- und Immobilienunternehmer mit ruppigen Methoden, will das Grundstück unbedingt haben, weswegen er Rafael, genannt Rafi, einen Mann, der ordentliche Schulden bei ihm hat, darauf ansetzt. Und so beginnt das Buch beinahe komödiantisch damit, wie Rafi sich als Dichter – der allerdings noch nichts veröffentlicht hat und momentan als Ghostwriter für andere arbeitet – bei Hannah Jona vorstellt und einschleicht. Für alle anderen im Haus sehr überraschend, gibt sie dem überfordert wirkenden Mann schnell und unkompliziert die hinter dem Haus gelegene Zweizimmerwohnung. Teil eins von Rafis Plan hat also geklappt.

Doch auch wenn das nun ein wenig wie Ladykillers klingen mag, Zu blaue Augen ist weder Komödie noch Kriminalroman, sondern eine Familiengeschichte im heutigen Jerusalem, eine präzise beobachtete und ebenso präzise durchgearbeitete Studie mehrerer bemerkenswerter Charaktere, eingebettet in den Alltag, der aus beruflicher Routine, häuslichem Einerlei und überraschenden Wendungen besteht. Nehmen wir Orna. Sie ist erfolgreich in der IT-Branche, kennt fast nur die Arbeit, hat wenige Sozialkontakte und glaubt, ihre äußere Erscheinung mache es nahezu unmöglich, dass sich Männer für sie interessieren könnten. Dann ist da Simona, die sich vor Jahren gegen den Rat eines Freundes für die Onkologie entschieden hat, heute in der Geriatrie arbeitet und dort sehr beliebt ist. Und schließlich Jardena, stets gestresste Hotelmanagerin, die den Nachstellungen ihres Chefs gerne nachgibt, seinen daraus erwachsenden Hoffnungen und Angeboten jedoch ein ums andere Mal eine Abfuhr erteilt. Außerdem gibt es da ja noch ihre Tochter Dana, die unter dem Stress der Mutter leidet, was sich in ihrer nachlässigen Kleidung, ihrer wenig betreuten, noch jungen Schulkarriere und vor allem ihrem losen, ja frechen Mundwerk äußert. Wäre da nicht die gute Seele des Hauses, Johanna, Dana würde wohl immer verwahrlost und ohne Süßigkeiten sein. Johanna hat einen Pakt mit ihrer Arbeitgeberin, der 77-jährigen Patronin geschlossen. Da sie als Illegale bei ihr arbeitet und die Sozialversicherung zum Volksfeind erklärt wurde, muss Hannah Jona, die gut zu Fuß ist, tagsüber im Rollstuhl sitzen und die völlig von ihrer Haushälterin Abhängige mimen, es könnte ja eine unangemeldete amtliche Überprüfung stattfinden. Johanna benötigt das Geld, das sie im Hause Jona verdient, dringend für ihre Tochter und den Enkel in der rumänischen Heimat.

Mira Magén kennt ihr Personal, weil sie das Leben kennt, weil sie schon häufig über solche oder ähnliche Romanfiguren geschrieben hat, weil sie über Beobachtungsgabe, Erfahrung und Fantasie verfügt. Daraus hat sie diesen sehr lesenswerten, in der israelischen Gegenwart verwurzelten Roman komponiert, der seine Leserinnen und Leser mit einer gehörigen Portion Überraschungen und Veränderungen zu verblüffen vermag. Bis auf Johannas erfahren alle Biografien, die man hier so anschaulich und plastisch präsentiert bekommt, beinahe schon halsbrecherische Wendungen: Schwangerschaften, Wohnort – und Arbeitsplatzwechsel, ja, sogar eine späte und sehr berührende Liebe hält Mira Magén in ihrem reichhaltigen Erzählfundus bereit. Es gibt wunderschöne Binnengeschichten wie zum Beispiel die eines Mannes, der die reichlich neben sich stehende Simona eines Nachts in deren eigenem Wagen nach Hause fährt, den sie ob seines Äußeren völlig falsch eingeschätzt hat und dem sie später in gebührender Weise für diesen Dienst dankt.

Zu blaue Augen ist ein reiches Buch, das sprachlich überzeugt, dessen Figuren Kraft und Eigenleben haben und das in vielerlei Hinsicht unterhält: Es hat spannende Elemente, ist humorvoll und wie bereits erwähnt sehr abwechslungsreich und lebensklug. Mira Magén, die neben Zeruya Shalev die derzeit erfolgreichste israelische Autorin ist, unterstreicht mit diesem Roman diese Position eindrucksvoll.

Titelbild

Mira Magén: Zu blaue Augen. Roman.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer.
dtv Verlag, München 2017.
380 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783423261296

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