Das fragile Selbst der unteren Schichten

Der zweite Teil der neapolitanischen Saga von Elena Ferrante „Die Geschichte eines neuen Namens“ begleitet die „genialen Freundinnen“ durch die Jugendjahre

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Wirbel um Elena Ferrantes neapolitanische Saga, die sich über vier Bände erstreckende Geschichte der beiden Freundinnen Lila und Elena, hat sich etwas gelegt. Nach den vielen euphorischen Lobeshymnen und den wenigen kritischeren Besprechungen nach dem Erscheinen des ersten Bandes im Sommer letzten Jahres und dem „Enthüllungskrimi“ um das Pseudonym der Autorin sind die Reaktionen auf den zweiten Band, Die Geschichte eines neuen Namens, auf einem fast normalen Niveau angekommen. Dennoch fällt die Resonanz erneut sehr positiv aus.

Tatsächlich hat sich das Warten auf die Fortsetzung gelohnt. Es ist ein bisschen wie bei der neuen Generation der raffiniert und spannend konzipierter Fernsehserien: Man taucht ein in einen faszinierenden fremden Kosmos, folgt den Figuren und ihren zahlreichen Verstrickungen, ihren Wünschen und Träumen, Erfolgen und Niederlagen quasi von Cliffhanger zu Cliffhanger. Elena Ferrante ist eine geschickte Autorin, die die verschiedenen Stränge meisterhaft kombiniert und ein großes Figurenensemble um die beiden Hauptfiguren dirigiert. Die lebenslange Freundschaft und die tiefe emotionale Verbundenheit dieser beiden Figuren und die gleichzeitige ebenso große Abstoßung, ist die Quelle der Spannung und die Triebfeder für die Entwicklung der Protagonistinnen.

 Inzwischen sind Elena und Lila 16 Jahre alt. Der zweite Band setzt da ein, wo der erste aufgehört hat bei der Hochzeit Lilas mit dem aufstrebenden reichen jungen Stefano Carracci und der unmittelbar folgenden Ernüchterung. Denn schon in den Flitterwochen entpuppt sich der „Märchenprinz“ als brutaler Schläger. Während Lila die Niederungen einer viel zu früh geschlossenen unglücklichen Ehe – wenn auch mit schicker Wohnung, Geld, Sportwagen und schönen Kleidern – durchschreitet, hat sich die Ich-Erzählerin Elena, die lange Zeit damit zufrieden war, die Zweite hinter der klugen, „genialen“ Lila zu sein, allein auf den Weg zur höheren Bildung gemacht. Mit verbissenem Ehrgeiz und extrem hart arbeitend kämpft sie sich durch die Schule bis zum Abitur, immer bestrebt, dem brutalen, dreckigen, lauten, derben Alltag ihres schäbigen Arbeiterviertels, dem „Rione“, mit seiner Armut, den mafiösen Machtstrukturen, der vulgären Sprache und Gewalt zu entkommen. Ihr Ausweg ist die Bildung, die Schule und die Bücher, vor allem aber auch die anderen, die gebildeten Mitschülerinnen und Mitschüler aus den besseren Milieus.

In den Schilderungen der verschiedenen Milieus liegt die herausragende Qualität dieses (wie auch des vorhergehenden) Romans, der die Welt der Arbeiter und kleinen Händler des Neapels der 1960er-Jahre lebendig und plastisch heraufbeschwört – die Welt der sogenannten „bildungsfernen“ Unterschicht, die ihre Gesetze tief in ihre Bewohnerinnen und Bewohner hineinschreibt und ihre Kinder mit Klauen und Zähnen festhält, wie Elena bitter erfahren muss. Denn all ihre Bemühungen um Bildung und Wissen, ihr hartes Lernen und ihr gnadenloser Ehrgeiz, der sie schließlich an eine erstklassige Universität nach Pisa führt, verhindern nicht, dass sie immer wieder schmerzhaft auf die Unterschiede zwischen sich und den bürgerlichen Jugendlichen mit ihren „Redeweisen, Witzen, Vorlieben“ gestoßen wird – auf die „absichtslose Überlegenheit“ der höheren Schichten. Ein Konflikt, der in der Partyszene kulminiert: Ihre Lehrerin, Professoressa Galiani, hat Elena zu einer Feier ihrer Kinder (die ungefähr in Elenas Alter sind) eingeladen, was Elena wie eine Audienz im Königspalast erscheint: sehr reizvoll, aber genauso unpassend. Sie fühlt sich einerseits geschmeichelt und am Ziel ihrer Wünsche, gleichzeitig ist sie völlig eingeschüchtert und fast panisch, ist sie sich doch der Kluft bewusst, die zwischen ihrer Herkunft und derjenigen der Kinder „studierter Eltern“ liegt. Zudem besitzt sie nur ein einziges halbwegs vorzeigbares Kleid. „In der Schule trug ich einen schlecht sitzenden schwarzen Kittel. Was dachte sie wohl, die Professoressa, was da unter dem Kittel war“, fragt sie sich und gibt selbst die Antwort: Da war Unzulänglichkeit, Armut, schlechte Erziehung.

Diese Feier ist aber auch eine Schlüsselszene für die Dynamik der Beziehung zwischen Lila und Elena, einerseits für die lebenslange tiefe Verbundenheit der Kindheitsfreundinnen und den erbitterten Konkurrenzkampf, den sie sich liefern, andererseits für die elementaren Unterschiede zwischen den beiden jungen Frauen. Als Unterstützung begleitet Lila ihre ängstliche Freundin, selbstbewusst im schicken Kleid und mit dem wuchtigen Ehering am Finger – eine Auszeichnung vielleicht im Rione, nicht aber in den Kreisen der Professoressa, wie Elena gleich merkt. Sie bewundert und beneidet ihre Freundin, die sich überhaupt nicht fürchtet, und schämt sich gleichzeitig für sie. Hier, in dieser neuen bürgerlichen Welt der höheren Bildung kehren sich die Verhältnisse um, hier ist Lila, die bisher überlegene der beiden Freundinnen, fehl am Platz, wird gemieden, während Elena über sich hinauswächst, das Wort ergreift – und allen gefällt. Doch im Gegensatz zu Elena, die ihre Herkunft hasst und verachtet, gibt der Rione Lila Kraft, mit der Demütigung, die sie auf der Party erfährt, umzugehen. Sie entwickelt ein trotziges Selbstbewusstsein und ist voller Verachtung für die bürgerlichen Gebildeten, die zwar viele uralte und völlig verstaubte Bücher haben, aber nicht einen eigenen Gedanken im Kopf, wie sie findet. Während Elena die Angst, nicht mithalten zu können, nie verlässt.

Die Rivalität darum, wer die Bessere in der Schule ist, hat die beiden Mädchen schon früh angetrieben. Für Elena ist die Konkurrenz mit Lila die Antriebskraft, die sie über sich hinaus und zu Höchstleistungen treibt. Sie genießt ihre Erfolge, ihre scheinbare Überlegenheit und fragt sich auf der anderen Seite, was wohl Lila an ihrer Stelle aus dem Glück, eine Universität besuchen zu können, gemacht hätte – im Bewusstsein, dass Lila sie überflügelt hätte. Sie muss erkennen, dass ihre „geniale Freundin“ ihre Ziele mutig verfolgt, kompromisslos hohe Risiken eingeht und bereit ist, die Konsequenzen zu tragen. Sie sind wie Spiegelbilder, deren Konturen verwischen, Vexierbilder, die je nach Perspektive etwas völlig Neues ergeben, auf jeden Fall aber brauchen beide einander. Elena braucht ihre Freundin, um über sich hinauszuwachsen. Einerseits fühlt sie sich stets kleiner im Vergleich mit der anderen, andererseits aber inspiriert sie diese: Lila lässt sie ihre Welt und sich selbst anders sehen, eine idealere Version ihrer Selbst – die, die sie sein könnte. Und Lila, der alles so leicht zu fallen scheint, braucht ihrerseits ein Gegenüber für ihre eigene Entwicklung, entwirft sie sich doch stets neu, je nachdem, wer dieses Gegenüber ist.

Wer letztlich die „geniale Freundin“ (der Titel des ersten Bandes) ist, bleibt unklar, genauso wie die Grenzen der Figuren verschwimmen – sind es Spiegelbilder, Versuchsanordnungen unter anderen Vorzeichen, parallele Entwürfe? Beide Freundinnen schreiben. Schon als Kinder wollten sie Schriftstellerinnen werden und gemeinsam ein Buch schreiben, das sie reich und berühmt machen sollte. Lila setzt diesen Plan schon damals um. Die Erzählung, die sie als Zehnjährige verfasst hat, taucht im zweiten Band wieder auf, und Elena, die einen Roman schreibt und veröffentlicht, erkennt entsetzt, dass diese Kindergeschichte das heimliche Herz ihres eigenen Buches ist. „Jedes von Lilas Worten ließ mich kleiner werden“, meint sie, und eröffnet ihr doch neue Welten für ihr eigenes Schreiben. Die Texte, die Lila ihr später übergibt, bringen sie dazu, ihre Geschichte neu zu erzählen – und wieder verschwimmen die Ebenen: „Sachen von ihr geraten zwischen meine“. Es ist „eine in beiden, beide in einer“ oder „sie und ich in einem fort“, wie Elena erkennt – eine trotz aller Rivalität tiefe Verbundenheit der Frauen, ein auf vielen Ebenen fest gewobenes Band. Es wird spannend weitergehen, das Ende des zweiten Teils verspricht es zumindest.

Titelbild

Elena Ferrante: Die Geschichte eines neuen Namens. Band 2 der Neapolitanischen Saga (Jugendzeit). Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
624 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425749

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