Nirgends lieber als hier

Elmar L. Kuhn und Lorenz L. Göser sind mit Martin Walser am Bodensee unterwegs

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Walser, der letzte Großschriftsteller seiner Art, ist, wie Jörg Magenau in seiner großen Biographie eindrucksvoll gezeigt hat, „unentwegt damit beschäftigt, Leben in Sprache zu verwandeln“. Dabei trifft – cum grano salis – auch auf sein Gesamtwerk das zu, was Hermann Kinder einst für die Anselm Kristlein-Trilogie „Halbzeit“ (1960), „Das Einhorn“ (1966) und „Der Sturz“ (1973) festgestellt hatte: Walsers Texte sind vielfach „selbstbewusstes Spiel mit nachprüfbaren Realien und Phantasmagorien, die Überführung des Autobiographischen einerseits ins magisierte Private, andererseits ins Globalvisionäre, die immanente Poetologie durch das Thematisieren von Fiktion, Sprache, Erinnerung – und das alles gebündelt in ein literarisches Weltmodell.“

Unbestritten befeuerte Martin Walser in den letzten 60 Jahren mit vielen – teils kontroversen und provokanten – Beiträgen die Debatten seiner Zeit, der er oft weit voraus war. Das gilt neben Themen wie der deutschen Teilung respektive Wiedervereinigung unter anderem auch für das Themenfeld Heimat. Seine Auseinandersetzung mit dem Komplex Heimat beginnt früh, in den Essays bereits Anfang der 60-er Jahre, zu einer Zeit, als der Begriff Heimat nicht zuletzt durch den Missbrauch während der Nazidiktatur noch lange äußerst suspekt war. Dem damaligen Landrat von Wangen, Dr. Walter Münch gewidmet, erscheint 1967 im Merian-Heft Walsers Aufsatz „Heimatkunde“.

Walsers „Heimatkunde“ beginnt mit den Worten: „Wenn es sich um Heimat handelt, wird man leicht bedenkenlos. Volkskundler waren eine Zeitlang gefährdet wie Opium-Raucher. Andererseits gibt es heute noch Leute, die können keinen Gamsbart sehen, ohne sich als schneidige Intellektuelle zu fühlen. Heimat scheint es vor allem in Süddeutschland zu geben. Wo gibt es mehr Gamsbärte, Gesangvereine, Gesundbeter, Postkartenansichten, Bauernschränke, Messerstechereien, Trachtengruppen, Melkschemel, Beichtstühle, Bekenntnisschulen usw. Heimat, das ist sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit.“

Diese „Zurückgebliebenheit“ ist bei Walser jedoch ganz und gar nicht negativ zu verstehen, wie schon die Ironisierung der „schneidigen“ Intellektuellen den Ton anschlägt und wie in weiteren essayistischen Auseinandersetzungen mit dem Thema „Heimat“ –  etwa in „Heimatbedingungen (1972), im Band „Heimatlob“ (1978), den er zusammen mit dem Maler André Ficus herausgebracht hatte, oder in „Heilige Brocken“ (1986) deutlich wird. Immer wieder setzt sich Walser mit der Gegend um den Bodensee, seiner Herkunftsregion, auseinander. Wenig überraschend – folgt man einer seiner zahllosen Selbstauskünfte. So sagt er einmal: „Ich kann nicht recherchieren, es ist höchstens ein Prozeß der Romanmasse, wo ich mich erkundigen muß. Das bedeutet: Es muß mir zuwachsen im Laufe der Zeit, und dafür ist natürlich wichtig, daß ich hier wohne, weil ich mich da in einer Art Wirklichkeit befinde, in der ich mich nicht befinden würde, wenn ich in Schwabing oder Lichterfelde oder sonstwo leben würde. Die Gegend ernährt mich also in dieser Hinsicht.“

Und die Gegend ernährt ihn und die Leser gut. In zahlreichen Prosatexten setzt Walser der Region um den Bodensee dabei ein literarisches Denkmal, indem er sie zum geographischen Mittelpunkt für seine Protagonisten macht.

Die beiden gebürtigen Kressbronner Lorenz L. Göser und Elmar L. Kuhn haben dieser Tage eine wunderbare Anthologie mit Landschafts- und Naturschilderungen rund um den Bodensee herausgegeben. Angereichertt ist das Florilegium mit mehreren Fotos und einer Skizze mit den Walser-Orten rund um den Bodensee. Von „Halbzeit“ (1960) bis zu „Muttersohn“ (2011), von Tagebucheintragungen bis zu  Essay-Auszügen reicht die Palette. Dabei lesen wir Passagen wie etwa in „Briefe an Lord Liszt“: „Dem Allgäu glüht ja schon der Juni auf der Stirn. An Junisamstagen ist Bodnegg durchzogen von Heu- und Suppendüften. Und jeder Flecken, den ich unterwegs passiere, gibt an mit Pfingstrosen. Diese Pfingstrosen, mit ihrem Rot und ihrem Weiß, sind sozusagen laute Blumen. Man kann sich angesprochen fühlen. Deinetwegen, so was liegt in der Luft. Genau genommen schreien sie ja, die Pfingstrosen. Ich werde mich also in den nächsten Stunden von Pfingstrosen anschreien lassen. Darum fahre ich nach Bodnegg. Fast hätte ich gesagt: für immer.“

Oder im „Springenden Brunnen“ die Passage über den Säntis: „drüben über dem See der Säntis, die weiß gepuderte Glucke aus Stein, hatte der Vater gesagt, der die Sonne am Buckel runterrutschen kann“. Und in „Muttersohn“ lesen wir: „Ich donnerte nach Lindau hinab. Der Junisonntag lieferte dem Alpenpanorama, auf das ich zufuhr, das Postkartenlicht. Ein Horizont aus blauen Gebirgen. Eine Gipfelkette mit feinen weißen Borten. Der liebe Gott als Spitzenklöppler.“

Wie häufig Walser seiner Gegend „Liebeserklärungen“ gemacht hat in den vergangenen sechs Jahrzehnten wird bei der Lektüre dieses ansprechenden Text-Bild-Bandes deutlich. Diese kleine Walser-Bodensee-Anthologie ist eine willkommene Anregung, den einen oder anderen Walser-Text wieder neu zu entdecken.

Titelbild

Elmar L. Kuhn / Lorenz L. Göser (Hg.): Nirgends wäre ich lieber als hier. Mit Martin Walser unterwegs am Bodensee.
Weissbooks, Frankfurt am Main 2017.
180 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783863371173

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